Über Georg Kleins Roman »Miakro« als Beispiel deutschsprachiger neuer spekulativer Fiktion
»If the mind is merely a machine, then it can be controlled by any entity that understands the code and has access to the machinery.«
(Joanne P. Webster*)
»Hate to leave my baby, but you treats me so unkind.
I got mean things, I got mean things on my mind.«
(Robert Johnson.)
Nur Nebel, dahinter ein diffuses Licht, kein Weg, keine Felder, keine Häuser. Allerdings hatte der Autor das im Sinn. Denn Georg Klein versteht es, seine Romane jeglicher Deutung zu entziehen, seine Texte mit so vielen Bedeutungsebenen aufzuladen, dass sie sich wie eben jener Nebel ausbreiten, überall aufscheinen und doch keinen Durchblick geben. Was seine Bücher so großartig, so einmalig in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur macht.
»Miakro« ist der siebte Roman des in Augsburg geborenen Klein, erschienen im März dieses Jahres. Wohlwollende Besprechungen im Feuilleton folgten, jedoch zeichnet alle Texte eine große Ratlosigkeit aus. Schließlich passt Klein nicht in diese Zeiten, er ist kein politischer Autor, seine Romane sagen viel und doch nichts über die Gegenwart, sie lassen sich nicht decodieren. Immerhin: Eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse gab es wieder einmal, am Ende ging die Auszeichnung jedoch an Esther Kinsky für »Hain. Geländeroman«.
Der 65-Jährige beschreibt in seinem Roman eine Welt in einer gigantischen organischen Entität, in deren Inneren Menschen leben. Sie gibt Ihnen Nahrung und Wasser über ihre Wände, immer wieder an wechselnden Orten. Im »mittleren Büro« gehen mehrere Männer einer Arbeit an Bildschirmen nach, der Zweck dieser Arbeit bleibt jedoch vollkommen unklar, es entsteht augenscheinlich weder ein Produkt noch ein Wert dabei. In den Gängen leben die Frauen, Kindern und Alten, die manchmal den Männern begegnen, wenn sie nach Nahrung suchen. Eine Koexistenz, mehr nicht. Vier Männer wagen den Ausbruch.
Kleins Roman lässt sich dabei nicht als Rätsel verstehen: »Also Rätsel müssen geknackt werden und dann muss schlagartig Licht kommen, und ich finde, beim Geheimnis, also gerade beim literarischen Geheimnis, ist es nicht so«, sagte Klein im Interview mit dem Deutschlandradio Kultur. »Da dämmert das Licht herauf und es schwindet auch wieder, und in diesem Lichtwechsel des Geheimnisses befangen zu sein ist für mich beim Schreiben, aber auch beim Lesen, was besonders Reizvolles und Schönes.«
Das Licht schimmert durch Kleins Texte, sein »Barbar Rosa« kreuzt den klassischen Detektivroman mit der Ästhetik des Comics, »Sünde Güte Blitz« arbeitet sich an Religion und Arztromanen ab, »Die Sonne scheint uns« an der Horrorliteratur. Allerdings vernebelt Klein klassische Tropen und Motive, lässt sie nur noch als merkwürdiges Schimmern auftauchen. So ließe sich »Miakro« zur neuen spekulativen Fiktion zuordnen, ohne dabei jedoch ein perfektes Beispiel für Mechanismen des Genres zu sein oder eben: ohne Genre zu sein.
Natürlich besteht hier wieder der Drang, eine Bedeutung zu finden. Wer will, kann es als Roman über die moderne Arbeitswelt lesen. Nur spricht dagegen, dass Klein keine Allegorien nutzt, das hier ist keine Parabel. Dazu kommt die Verweigerung einer eindeutigen erzählerischen Perspektive. Dieser Mechanismus greift perfekt in Kleins breite Sprache, die mit Neologismen und Diminutiva arbeitet, die Zusammensetzungen holt und stets das Genaue vor dem Bequemen beim Beschreiben wählt: »So weit, so gut, so nett. Aber erst Guler, dem Büroerfahrenen, erst Gulerchen, dem nach fünf Binnenjahren zum zweiten Mal von der wilden Welt Geprüften, dämmerte eben, welchem Zweck eine solche Installation insgeheim zu dienen hat. Solche Spiegel sind – wie konnte mir das dereinst stets entgehen! – gegen die naheliegende Angst gerichtet, durch irgendeinen Defekt ummantelt, also rundum ausweglos festgehalten zu werden.«
Kleins Sprache wuchs eher an den Klassikern der Literatur, weswegen sie so wenig mit dem aktuellen Tonfall der sonstigen Gegenwartsliteratur zu tun hat. Klein schreibt in vollkommener Freiheit von Regeln und vorgegebenen Strukturen.
Dementsprechend findet sich ein Bruch direkt im Roman, genau in der Mitte, wenn die Perspektive erneut wechselt und es vom Inneren der Entität ins Äußere geht. Draußen ist feindlich, eine militärische Mission versucht eine Befreiungsaktion zu startet, aber selbst dabei bleiben die Motive im Dunkeln, lassen sich nicht erschließen. Klein richtet den Blick auf die Details, alles andere bleibt eng – oder wie im obigen Zitat ein Spiegel, manchmal lassen sich verdrehte Anspielungen auf die Popkultur erkennen, ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Die Parallele zu Jeff VanderMeers »Auslöschung« lässt sich beim Thema kaum bestreiten.
»Seit langem weiß ich, dass ich ein fragwürdiger Beobachter bin. Meine Schwäche ist die Rundumachtsamkeit, die bei anderen Menschen, bei nicht wenigen, die ich kennenlernen durfte, viel besser, manchmal für mich verblüffend gut entwickelt ist«, sagte Klein mal in seinen Poetikvorlesungen. »Ich tendiere zum mikro- oder teleskopischen Tunnelblick und kann mir nahe wie ferne Details oft sehr gut merken, während des Rest des halbbewusst Wahrgenommenen unrettbar ins Vergessen sinkt.«
Natürlich öffnet sich mit diesen Texten zu seinen Zürcher Poetikvorlesungen nur eine weitere Ebene voller Nebel, die sich nicht entschlüsseln lässt. Klein ist viel näher an der Traumlogik als an der erzählerischen Logik dieser Tage, was seine Romane zu ungewöhnlich und einzigartig macht. Dies transportiert Klein in eine Sprache, die jenes Gefühl des Dazwischen perfekt einfängt, diesem Zustand zwischen Wachen und Schlaf.
Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher schrieb in »The Weird and The Eerie« einst: »The allure that the weird and the eerie possess is not captured by the idea that we “enjoy what scares us”. It has, rather, to do with a fascination for the outside, for that which lies beyond standard perception, cognition and experience.« Genau davon erzählt »Miakro«, von dem Inneren, diesem organischen Monster, das einer Gebärmutter gleicht und seine Gefangenen mit Nahrung versorgt, die aus dem Nichts zu entstehen scheint, das im Gegensatz zu dem Äußeren steht, in dem andere Regeln herrschen, in dem aber das Innere der Entität ein Geheimnis bleibt. Beide Seiten stellen Welten dar, in denen sich niemand wiederfinden kann, weil er sie nicht mehr verstehen kann – so wie die Gegenwart, die das Individuum mehr und mehr in einen eigenen Kreis verbannt mit klaren Regeln und Normen, die aber für alle anderen nicht ersichtlich und nachvollziehbar sind. Es ist keine Welt, die im Chaos versinkt. Es ist eine Welt, die sich nicht mehr entschlüsseln lässt, in denen Beweggründe sich nicht mehr verstehen lassen. Wer hätte schon Lust, sein Dasein in einem ihm versorgenden System mit Arbeit am Monitor zu verbringen? Und doch sammeln sich in »Miakro« und in der Realität genug Menschen in Räumen, um dieser Tätigkeit nachzugehen. Die Suche nach dem Sinn hat ein Ende – es hat ja niemand gesagt, dass das Sinn verständlich sein müsste. Konsequenterweise ebenfalls verbannt wie in der Realität: Tod und Sex.
Am Ende wird deutlich, dass Kleins Entität einem Pilz gleicht, einem Wesen zwischen Tier und Mensch, das sich kaum fassen lässt, weil es uns so fremd ist. Ein Parasit, der sich nicht ins Innere seines Wirts begibt, sondern ihn stattdessen verschlingt und in sich hält. Wofür auch immer. Denn er scheint keinen Nutzen davon zu haben. Der Parasit ist einfach da.
Vor ein paar Jahren sorgte die Biologie mit der Entdeckung eines Hefepilzes für Aufsehen, der Ameisen kapert, steuern und in den Tod treiben kann. Die Toxoplasmose lässt Mäuse ihre Angst vor Katzen vergessen und deutlich risikoreicher durchs Leben gehen. Und der Mensch? Spürt, dass der Kapitalismus sein Leben durchdringt, findet jedoch keine Regeln, keinen Einfluss mehr. Er muss dort sitzen und ausharren – bis zu seinem Tod. Wohlgenährt durch Nahrung, bei der er nicht weiß, woher sie kommt.
Kleins Roman spielt so auch nach den Regeln der Postmoderne, denn es ist nicht die einzige Lesart für dieses Buch. »Miakro« ließe sich auch als Abenteuerroman lesen, das mehr mit den Werken von Jules Verne als denen von Franz Kafka gemein hat. Dafür braucht es jedoch andere Schlüssel und andere Geister, um diesen Roman noch weiter zu durchdringen und mehr Licht in diesen Nebel zu bringen.
Klein brachte dies in eine wunderbare Sprache, in einen über 320 Seiten langen Roman, der die Zeit anzuhalten scheint. »Was kann einem Kunst mehr geben, ob man jetzt vor einem Bild steht oder eine Musik hört, als vom Bannspruch normaler Zeit befreit zu werden?«, fragte Klein einmal. Es kann uns in sich aufnehmen. Versorgen. Es kann die Kulisse unseres Scheiterns sein, unseres Aufstehens und unseres Versuchens. Es kann alles sein. »Miakro« gehört in diese Kategorie. Nur noch das diffuse Licht dieses Romans. Aber immerhin: Ein Licht in dieser Finsternis, ein Pfad, auf dem sich wandeln lässt. Wohin er auch führen mag. Und sei es nur tiefer in den Nebel.
*Joanne P. Webster: Neural parasitology: how parasites manipulate host behaviour. In: Journal of Experimental Biology. 2013
Björn Bischoff
… geboren 1987 in Bremen, studierte Literaturgeschichte und Buchwissenschaften, liebt Horror, Bücher und Comics, arbeitete als Online-Redakteur, ist freier Journalist. Wirft jeden Tag mit Buchstaben um sich, hat permanent Bohren & Der Club Of Gore im Ohr und spart auf ein Häuschen in Twin Peaks. Beiträge für Tor Online, Alfonz, Tagesspiegel, Nürnberger Nachrichten, Plattentests.de und andere.
www.tentakelbuch.wordpress.com
Dieser Artikel ist in IF-Magazin #8 erschienen