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Der dunkle Begleiter

Unser Weg führt uns durch die nachtdunklen Straßen der Vorstadt, nur bei dem gelben Halblicht von Straßenlaternen, windstill und kalt jenseits der Mitternacht, von Schatten zu Schatten, eintauchen, auftauchen, zwischen den im Schlaf erstarrten Häusern, ohne die Regungen anderer Menschen, nur dem leisen Summen von Elektrizität, dem Klang der eigenen Schritte, dem des eigenen Atems.

Unser Weg führt uns aus der Vorstadt hinaus in die von Wald bestandenen Hügel, aus dem letzten Licht in das Dunkel der Stunden vor dem Morgengrauen, noch zwischen den Tagen, ohne die Regungen anderer Menschen auf dem Pfad, nur dem Sirren von Insekten, dem Klang der eigenen Schritte, des eigenen Atems und dem Widerhall der Stille aus dem Unterholz.

Unser Weg führt uns über Wiesen unter dem Mondlicht, wo die Luft in Bewegung ist und Kälte sich eng an die Haut legt, ohne die Regungen anderer Menschen, nur das leise Sausen des Windes, der den Klang der eigenen Schritte und des Atems übertönt.

Wir teilen dieselben Gedanken. Mein Begleiter und ich schweigen, bis er diese Stille bricht und ausruft, ohne dabei Worte zu sprechen. Ich nehme seinen Ausbruch ohne Entgegnung hin und bleibe an seiner Seite als sich wieder Bäume um uns reihen, sich wieder der Klang der Stille erhebt.

Wir teilen dieselben Gedanken. Sein Schmerz und mein eigener sind sich gleich. Es ist noch immer dunkel, immer noch kalt in uns. Wie wir zittern!

Da ist ein Loch in ihm und Wärme strömt heraus. Auch aus mir. Es ist dieselbe Wunde. Hoch oben stehen wir, wo der Wind jetzt heftig an uns zerrt, die Haare rauft und Worte von den Mündern reißt. Wolken rasen unter dem Mond dahin. Ein Donnerkopf mit tanzenden Schlingen steigt auf und droht uns mit der Macht von Blitzen. Wir schauen dabei zu wie er sich über das Land ausbreitet, über dem Lichtschirm der Stadt. Das ist der Moment, in dem uns bewusst wird, dass uns etwas beobachtet. Kein Auge, nicht aus einem Gesicht, eher von einer verborgenen Ebene zwischen Himmel und Erde aus – hinter uns. Es ist da, so wenig zu leugnen wie der Donnerkopf, nur nicht sichtbar. Wir ziehen das Genick ein unter der Schwere des Blicks, gehen weiter und es schwebt über uns.

Mein Begleiter schaut mich an. In den schwarzen Höhlen seiner Augen kann ich Tränen spüren. Wir bleiben nah beieinander. Der Wind greift zu.

Es wird noch Stunden dauern, bis der Morgen kommt, und vielleicht entkommen wir ihm, indem wir nicht innehalten, immer weiter vorwärts gehen und vor allen Dingen nicht einschlafen, woran in der Kälte auch nicht zu denken ist. Wir entkommen dem Morgen und seinem Licht, wenn wir nur weitergehen.

Unsere Umgebung breitet sich wie eine entfaltete Landkarte unserer Seele um uns aus. So verlassen, so fremd und wild in der Nacht, was bei Tag gezähmt zu sein scheint. Nichts herrscht hier, was menschlich ist, nichts was wir fassen können oder auch nur benennen. Wie uns die Worte von den Lippen gezerrt werden! Es gibt auch zwischen uns keine Sprache, nur ein Verständnis, das auf gemeinsamer Erfahrung beruht.

Gerade jetzt ist es die Erfahrung, unter einem Willen zu stehen, der sich allein in dem untrüglichen Gefühl offenbart, dass wir beobachtet werden, dass wir gelesen werden wie ein offenes Buch. Dieser Blick dringt tiefer in uns als wir selbst es vermöchten, höhlt uns aus und hinterlässt etwas Blankes, etwas Beraubtes, ohne Hand an uns zu legen.

Es ist nur ein Wimmern, das aus der Kehle meines Begleiters entrinnt. Ich selbst bin, wie ich es immer bin, stumm. Von mir wird niemand erfahren, was uns in der Stadt widerfahren ist. Keinen Laut werde ich davon geben. Es ist auch vor allem sein Schmerz, seine Last und seine Trauer um das Geschehene, und ich werde ihn niemals hintergehen. Obwohl er sich in diesen Minuten und Stunden unter dem schwarzen Himmel verlassen fühlt, bin ich doch hier.

Ich kenne ihn wohl besser als er mich kennt. Ich weiß, was in ihm vorgeht, weiß auch, dass er die Stimme nicht hören kann. Eine Stimme, die ohne Seele ist, aber anders als die einer Maschine, denn sie spricht für eine Präsenz, spricht für einen Willen, der unseren übersteigt. Jetzt denke ich, sie könnte zu dem gehören, was uns im Blick hat, uns beide wie wir durchs Dunkel gehen, und das wohl besser als wir zu sagen wüsste, wohin uns dieser Pfad führt. Denn die Stimme bestimmt den Pfad.

Dort entlang, sagt sie, immer der Spreu Mondlichts folgen, die an den Rändern der Dinge wie feiner Staub hängt.

Mein Begleiter, das weiß ich von ihm, sehnt sich danach, einen Hort des silbernen Lichts zu finden. Darin – nur darin – unterscheiden sich unsere Pfade, die in jeder anderen Hinsicht dieselben sind. Er hat längst angefangen, jener Spur zu folgen, wohingegen ich mit denselben Schritten an seiner Seite nicht dem Licht sondern dem Dunkel folge.

Die herzlose Stimme, der kalt schwere Blick, der silbrige Streif und der dunkle Strom gleich darunter, meine Richtung und sein Ziel, seine Flucht und mein Entkommen liegen in Schichten übereinander, sind ein einziger Strang.

Bevor ich mich in diesem Gedanken verlieren kann, bleibt mein Begleiter zögernd und auf den schwachen Füßen wankend stehen, schaut sich über die Schulter um, wie ich weiß hoffend, von dort hinter uns könne noch etwas ihn halten, nur allzu gut wissend, dass jeder Halt in einem einzigen Handstreich durchtrennt worden ist.

Darum ist die Stimme jetzt so stark und der Blick ohne Augen so machtvoll, der Pfad vor uns abschüssig und der Ruhepunkt an seiner Sohle so fordernd.

Wir gehen, jetzt ohne Zögern.

Dort unten scheint ein hell weißes Licht.

Mein Begleiter schreitet mit neuer Kraft abwärts, ich bleibe hinter ihm. An seinem Umriss vorbei sehe ich den Eingang zu einer Höhle sich auftun wie das Maul eines Reptils. Das Licht aus dem Schlund nimmt an Helligkeit noch zu, ist ein Versprechen dessen, was am Ende dieses Gangs auf uns wartet. Ich scheue davor zurück, weiche aber nicht von seiner Seite, der sein Haupt jetzt in neuerwachtem Mut anhebt. Für mich ist es Gefahr, für ihn – ein Schimmer der Hoffnung.

Wie eine Grube an der tiefsten Stelle der Senke, das Licht ganz diffus wie feiner Nebel um die Öffnung her, es ist mehr als eine Höhle, es ist ein Gang, der sich hinab windet, ein Tunnel, an dessen Wänden sich der Lichtschein aus einer unsichtbaren Quelle herauf wirft. Die Schwelle liegt vor uns und ein Wort der Stimme in mir, ein Lidschlag des augenlosen Blicks über uns, auch der schon unbändige Drang meines Begleiters befördern uns darüber hinweg. So leicht erscheint dieser Schritt, dessen Folgenschwere mir unermesslich erscheint.

Wir haben den Tunnel betreten. Mein Begleiter, mein Schutzschild gegen das Gleißen vor mir, wandert als Silhouette vorweg.

Die Stimme ist verstummt und der Blick in unsere Nacken ist mit einem Mal wie verschlossen. Seine Last fällt so von uns ab und auch wenn ich mich kurz noch am Rand der Öffnung festhalte, ist doch selbst mir der Fortgang unseres Pfads ein Versprechen.

Natürlich musste es hierzu kommen. Jede Möglichkeit eines anderen Ausgangs war illusorisch. Von dem Augenblick unseres Aufbruchs an hätte auch mir das klar sein müssen, doch ich habe mich selbst getäuscht.

Wir gelangen bald tief hinein. Der Schimmer umspielt uns, geworfen von einem strahlenden Punkt aus, auf den mein Begleiter ohne ein letztes Hadern zugeht. In seinem Rücken bin ich wie ein Kind, das sich fürchtet und doch der schützenden Nähe seines Vaters vertraut.

Da geschieht etwas Unerwartetes. Zuerst kaum merklich verliert der Lichtschein vor uns an Intensität. Unversehens haben wir eine weitere Schwelle übertreten.

Das Licht kehrt sich um. Wo wir seine Quelle vermutet haben, ist nichts mehr davon zu sehen. Jetzt ist es hinter uns und ich gehe vorn. Das Aufflackern der Angst meines Begleiters hält nur einen Augenblick an. Ihn hat der Lichtschein hier hergelockt, doch nach einem kurzen Innehalten versteht er, dass sein Versprechen und die damit verbundene Hoffnung hinter ihm liegen, dass er jetzt loslassen kann, dass der letztendliche Zweck unseres Hierseins nur die Auflösung ist.



(c) Tobias Reckermann 2017