Zum Inhalt springen

Das Reich

So ist Finn: zu nichts weiter gut, als Gräber auszuheben. An einem Nebeltag, in einem Cat Minibagger. Mit einer einfachen Ausbildung zum Landschaftsgärtner kommt man nicht nach Versailles. Aber Finn hat ein schönes Geheimnis: Er liebt diese Dinge, die Gräber, die Erde, Kreuze und Grabsteine und den Dienst an den Toten. Das Einzige, was ihm nicht gefällt, ist die Arbeitskleidung. Er würde gerne Schwarz tragen, wie der Priester, und Grün ist einfach nicht seine Farbe. Es gibt genug davon in der Natur selbst, Grün und Braun und andere Farben, ein ganzer Himmel voll Blau, gelbe Sonne und gelbe Blätter im Herbst.

Es ist ein einfacher Friedhof in einer abgetakelten Kleinstadt, mit Rundumblick auf ein unbedeutendes, friedvolles Mittelgebirge, Wälder und Felder. Es ist Oktober, nach der letzten Ernte, und Finn erntet Knochen, die Jahrzehnte lang in der Erde gelegen haben. Dieses Grab ist dreißig Jahre alt und solange er hier arbeitet – in seiner Festanstellung bei der Kirchengemeinde! – ist er der Einzige, der sich darum kümmert. Niemand bringt Blumen hierher, oder steht nachdenklich davor, niemand hat die Hand erhoben und eine Liegezeit von weiteren fünfzehn oder dreißig Jahren bezahlt. Deshalb wird das Grab ausgehoben, werden die noch auffindbaren Knochen in den Beinkeller unter der Kapelle überführt.

Finn ist gewohnt, dass man ihn ignoriert. Er ist wie ein Bühnenarbeiter beim Theater oder ein Roady im Musikgeschäft: wesentlich, aber nicht Teil der Show. Man ist innerlich eher peinlich berührt, wenn man einen zufälligen Blick hinter die Kulissen geworfen hat, wenn man sieht, wie alles in Stellung gebracht wird, was dann den Eindruck von Ewigkeit erwecken soll. Gräber sind für die Ewigkeit. So ist es gedacht. Das Gedenken an die Toten sucht nach Stille. Hinter der Friedhofsmauer geht eine Straße vorbei, die zu Pendlerzeiten viel befahren wird, da ist es mit der Ruhe nicht weit her. Finns Bagger macht Krach, bricht mit seiner Alltäglichkeit in die kleine Welt der Toten ein. Trotzdem fühlt Finn, dass er unsichtbar ist, für die alte Frau in Schwarz, mit dem teuren Blumenstrauß, für das Ehepaar, das ihre beiden Eltern besucht, für den Herrn in seinem besten Anzug, der täglich eine Stunde am Grab seiner Frau steht und noch nie ein Wort oder einen Blick mit Finn gewechselt hat.

Finn ist Inventar und nicht von der dekorativen Art wie ein altmodischer Grabschaufler. Man hat also seine Ruhe und kann sich auf die Arbeit konzentrieren. Schaufel für Schaufel ruckelt der Bagger auf seinem Chassis hin und her, bis die sechs-Fuß-Grabestiefe fast erreicht ist und das Metall auf harten Widerstand trifft und ein hohles Geräusch Finn den Kopf einziehen lässt. Er hebt den Schürfarm aus der Grube, schwenkt ihn zur Seite und stellt den Motor ab, steigt aus, tritt an das Erdloch und schaut hinein. Wie zu erwarten ist nichts zu sehen. Was immer dort ist, liegt tiefer, ist noch unter der grauen Erde verborgen.

Eine Schaufel, ein Besen und eine Leiter, Finn ist im Nahkampfmodus und macht sich an die Handarbeit. Ein stocherndes Suchen, bis die Schaufel auf Gegenwehr stößt. Die Vorstellung eines Eindringlings in die eng umgrenzte Festung des Grabes ist blödsinnig und doch fühlt sich Finn ein wenig wie der Verteidiger dieses winzigen Grundstücks gegen einen Angreifer aus der Tiefe. Manchmal geschieht es, dass sich Steine an die Oberfläche drücken, aus dem Bauch der Erde heraus. Aber Steine sind selten hohl.

Mit dem Besen legt Finn den Fund an einer Kante frei und hält dann inne. Einen Moment lang arbeitet sein Gehirn, ohne das Bewusstsein in den Vorgang einzuweihen, dann tritt Finn wie in einem Reflex von dem Fund auf die Leiter und hält sich daran fest. Als Friedhofswärter kennt er sich mit so etwas aus und was er da gefunden hat, kann wirklich nur eines sein.

 

 

Und es ist wirklich ein Sarg. Eines toten Mannes Kiste. Ein letztes Zuhause und das sollte wenig verwundern, wenn man bedenkt, dass dies hier ein offizielles Grab ist. Trotzdem steht Harald Steiner, der Priester, halb erstarrt vor der Grube und schaut auf das Ding hinab, wie auf eine Flaschenpost aus dem Kryptozoikum, während Finn und sein Helfer das Totenschiff freilegen. In letzter Zeit hat Steiner mehr mit den Toten zu schaffen als mit den Lebenden. Heute Morgen war er auf dem Geburtstag einer achtzigjährigen Dame – diese selbst mehr tot als lebendig und höchstens zwei Jahrzehnte über dem Altersdurchschnitt seiner Gemeinde. Überalterung, die jungen ziehen weg aus dem Ort und sind sowieso keine Kirchgänger. Kein Land der Katholiken, über kurz oder lang wird es schwierig werden, den Schein eines lebendigen Glaubens in der Kleinstadt aufrecht zu erhalten. Für ihn selbst ohnehin.

Der sechzehnjährige Thomas ist halb hinter dem Sarg verborgen, auf den Knien, und schabt am Holz entlang. Steiners Blick wird von der kahlen Stelle auf Finns Hinterkopf angezogen. So lichtet sich der Kreis der Gottesfürchtigen. Dreißig Jahre, nach so langer Zeit dürfte nichts von dem Holz übrig sein. Knochen vielleicht, eher wahrscheinlich, die mehr oder minder behutsam umgebettet werden, aber ein vollständig erhaltener Sarg grenzt an das Übernatürliche. Aus der Vorzeit, aus der Zeit, bevor Steiner seinen Dienst in der Gemeinde angetreten hat. Vor Dreißig Jahren war er halbstark und Finn ein Säugling. Ist das ein böser Scherz? Ein Wunder? Blasphemie. Der Sarg ist vielleicht aus Eiche, aber trotzdem … Was tut er hier? Wieder diese Reue. Ein anderer Ort, eine größere Stadt oder besser ein ganz anderes Leben, nicht als Priester. Hätte Musik machen sollen und Gott anderen überlassen. Hätte eine Frau schwängern sollen, Kinder haben, mit den Händen arbeiten, viel Geld verdienen, Drogen nehmen, in Gewölbekellern Schwarze Messen feiern und roten Wein von rothaarigen Frauen lecken, … sie lecken … Die Abschweifung seines Geistes endet und Steiner räuspert sich betreten. Er sollte hier sein, ist jetzt hier und beginnt ein stilles Gebet.

„Er lässt sich nicht bewegen, kein Stück!“

Finn und Thomas haben es versucht und sind beide rot im Gesicht von der Anstrengung.

„Was machen Sie denn?“, fragt ein Mann, der gerade neben Steiner tritt und interessiert in das Loch schaut. Finn ist nicht mehr unsichtbar, jetzt wo der Priester dabei ist. Er fühlt den Blick des Mannes wie ein Eindringen, einen Griff in sein Genick und zieht die Schultern an.

„Ähm, das Grab wird ausgehoben“, sagt Steiner legt dem Herrn Wittich die Hand auf die Schulter, führt ihn vertraulich einen Schritt von dem Grab fort und fragt ihn nach seiner Frau, ob es ihr schon besser geht, ob sie bald nach Hause darf. Finn ist dem Priester dankbar dafür.

Über den Deckel hinweg sagt er zu dem Jungen: „Mach‘ mal hier vorne weiter. Wir graben unter dem Kopfende und legen das Seil darunter, dann ziehen wir von oben mit der Winde.“ Man muss ihm sagen was er tun soll, dann funktioniert er. Er ist ein bisschen dick und schwitzt heftig, ein bisschen unbeholfen, wie so junge Leute es oft sind, aber aufmerksam genug und nett. Finn erinnert sich an seine Lehrjahre und das Praktikum, das er davor bei einem Grünflächenversorger gemacht hatte. Thomas stellt sich besser an als er damals. Seine Hände sind noch weich, aber schon stark. Der Stoppelschnitt verschwindet hinter dem Sarg, Finn hört das Scharren und macht zufrieden weiter. Bis er auf neuen Widerstand trifft. Hier unten ist gerade soviel Platz, dass er und der Junge auf je einer Seite sich zwischen den Sarg und die Erdseite klemmen, gerade so an der Unterkante arbeiten können. Beide strecken die Köpfe über den Deckel und schauen sich mit ähnlich großäugigen Blicken an. „Jetzt schlägt es aber dreizehn“, flucht Finn, steht auf, tritt auf die vierte Stufe der Leiter und reckt sich nach oben. Steiner hat den Herrn abgewimmelt und kommt gerade zurück.

Derselbe Ausdruck im Gesicht wie vorhin, als Finn ihn aus dem Pfarrhaus geläutet hat, nur noch intensiver. Sieht aus wie ein Erdmännchen, das in seinem Bau auf Atommüll gestoßen ist und die Regierung verklagt.

„Der Sarg hat Wurzeln geschlagen!“

„Was?!“

„Das Holz hat Wurzeln getrieben!“

 

 

Steiner ist auf den Knien und beugt sich so tief hinunter wie es geht. „Das ist nicht möglich.“ Er kann es nicht sehen.

„Wir graben jetzt drum herum frei und schauen wie weit das reicht. Und wir werden vielleicht einen Kran brauchen, um das Ding hier rauszukriegen.“

Die beiden gehen geschäftig an die Sache, Finn ist aufgebracht und der Junge wirkt hektisch. Verdamm‘ mich, denkt Steiner und fühlt sich durch die Zeit zurückgezerrt. Es ist dasselbe Grab. Er schaut auf den Grabstein: Wilhelm Anger, 1913 bis 1985, ‚Herr, erbarme Dich‘. Dasselbe Grab.

Fünfzehn Jahre zuvor stand Steiner mit Finns Vorgänger an derselben Stelle. Friedrich zeigte auf das Grab und die seltsame Kriechpflanze, die in diesem Frühling das ganze Beet überwuchert hatte. Leuchtend rote Blätter, wie wilder Wein im Herbst, geformt wie fleischige Anker, blutige Piken mit feinen schwarzen Adern. Hässlich, wirklich hässlich und nicht dass einer von ihnen beiden so etwas schon gesehen hätte. Friedrich kannte einen Botaniker, hatte ihn gebeten, die Pflanze zu bestimmen. Die Antwort stand noch aus, aber man durfte nicht darauf warten. Zu schnell kroch das Gewächs über die Erde und man musste schnell handeln. Wer wusste schon, wie weit die Wurzeln bereits reichten. Friedrich kratzte sich am Kopf und murmelte etwas von Gift. Ja, war Steiners knappe Antwort gewesen. Nichts was sie sonst jemals tun würden. Graberde vergiften. Aber ja, diesmal ja. Die roten Anker gaben Steiner das Gefühl, an einem Haken zu hängen. Der Friedhof durfte nicht so aussehen, auf gar keinen Fall so aussehen, als ob winzige Teufel mit der Hilfe von Kletterhaken an die Oberfläche kröchen. Bei Gott, wenn man ein Blatt mit den Fingern zerrieb, blieb roter Saft an der Haut kleben.

Die Grabpflege war vorweg bezahlt worden und laut Friedrich kam niemand hierher um zu gedenken, also war es ihre Sache, damit umzugehen. Und der Alte streute Gift in die Erde. Es würde sich nach ein paar Jahren zersetzen, meinte er, aber vorher alles abtöten, was darauf wuchs. Nur ein paar Tage würde das dauern.

Steiner erinnerte sich noch gut, wie sie danach im Pfarrhaus bei einem Glas Tee saßen und Friedrich ihm von Wilhelm Anger erzählte. Steiner hatte das Sterberegister auf dem Tisch liegen und die entsprechende Seite aufgeschlagen. Sie beide saßen zurückgelehnt und mit dem Gefühl, etwas Schwerwiegendes vollbracht zu haben. Das Grab war nach testamentarischem Willen aus dem Nachlass Angers bezahlt worden. Es gab keine Angehörigen. Der Mann war in den späten Sechzigern hergezogen und für sich geblieben. Auf eigenen Wegen folgten ihm ein paar Gerüchte, er sei bei der Waffen SS gewesen, Todesschwadron an der Ostfront, ein Nazi, Ritter eines völkischen Ordens, Anhänger der Rückbesinnung auf heidnische Wurzeln. Warum ein christliches Grab? Eigentlich war das Grab nicht christlich, kein Kreuz auf dem Grabstein, der Stein selbst aus Granit, wie er in der Gegend oberirdisch zu finden war, ein Zeuge der Urzeit. Die Grabinschrift, wer hatte die veranlasst? Das war Reinhold, der Priester vor Steiner gewesen, der eine Lücke im Testament ausnutzte, um dem Unhold den heiligen Geist aufzudrücken. Wo hätte man ihn sonst beerdigen sollen? In einem Massengrab im Osten, wenn es nach Reinhold gegangen wäre. Nazis. Wenn die Gerüchte stimmten.

Tage darauf hatte Friedrich die Reste der Pflanze beseitigt und verbrannt. Das meiste davon hatte sich verflüssigt und die Erde rot gefärbt, deshalb wurde sie abgetragen, eine Spanne tief, und ersetzt und der Abraum auf eine Deponie gefahren. Wenn Steiner sich recht erinnerte, hatten sie von dem Botaniker nie eine Antwort bekommen.

Dasselbe Grab. Steiner hatte es gestern ausgesegnet.

„Hier“, sagt Finn, dessen Kopf wie abgeschlagen über den Rand lugt, und reicht ihm dann sein Handy herauf. „Das müssen Sie sich ansehen.“

Eine Reihe Fotos von der Unterseite des Sargs. Armdicke Wurzeln, schwarz, an jeder Ecke und über die Langseiten verteilt. Dazwischen viele kleinere. Der Sarg hält sich fest wie ein Backenzahn.

„Wir müssen das Loch breiter machen, damit wir arbeiten können, und wir brauchen anderes Werkzeug.“ Finn schaut ihn fragend an, an der Sache an sich zweifelnd. „Und ich hatte recht mit dem Kran.“

Nachdenklich noch die Bilder betrachtend nickt Steiner und meint: „Dann kommt erst mal beide da raus.“ Der Junge zuerst, dann Finn, steigen die Leiter hoch, beide diesen Ausdruck im Blick. „Es ist Mittag. Ihr braucht eine Pause, dann sehen wir weiter.“

So bleibt Steiner allein zurück, betrachtet die Reihe der Gräber. Alles ordentlich, Kreuze und Bittsprüche, Jahreszahlen, wie ein Vorort mit Vorgärten und gepflegten Gehwegen, kein Ort für das Sonderbare. Er fasst einen Entschluss. Wenn der Sarg sich nicht bewegen lässt …

 

 

Ausgerüstet mit Sägen und Hacken gehen Finn und Thomas den Weg an der Kapelle entlang. Der Nebel hat sich gelichtet. Der Priester steht noch an derselben Stelle, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt. Von Herbstfarben umrahmt.

„Ich habe wegen einem Kran angefragt“, sagt Finn, als sie bei ihm ankommen. „Vor nächster Woche wird das nichts.“ Thomas steigt schon hinunter und Finn reicht ihm die Werkzeuge nach.

„Das macht nichts“, antwortet Steiner. „Wir machen jetzt den Sarg auf.“

Ein Griff in die Magengrube. Solange Finn hier arbeitet hat er noch nie einen offenen Sarg gesehen und verspürt auch keine Lust dazu. „Das muss der Junge aber nicht mitansehen, oder?“

„Das überlassen wir ihm.“ Hätte er das vor zehn Jahren auch gesagt? Etwas Grimmiges hat sich in Steiner aufgetan. „Er ist alt genug, um das selbst zu entscheiden. Sprich Du mit ihm, ich hole inzwischen, was ich dazu brauche.“ Weihwasser, eine Bibel, ein größeres Kreuz mit dem Heiland daran.

Verblüfft schaut Finn dem Priester hinterher, der sich zu seiner Kirche aufmacht. Mit dem Jungen reden, er würde selbst nein sagen, wenn er könnte. Erstaunlicherweise zeigt sich Thomas unbekümmert, sogar eifrig, will schon den Deckel anheben. „Halt!“, ruft Finn. „Nicht ohne den Priester.“ Also gut, wenn er es will. Kann nichts passieren, oder? Nur ein Grab.

Ein Versuch, die Wurzeln mit Hacke und Säge zu lösen bevor Steiner zurückkommt. Das wird lange dauern und Schweiß und Nerven kosten. Aus dem schwarzen Wurzelstrang sickert roter Saft. Widerlich! Finn ist innerlich bereit, das ganze Ding in Brand zu setzen. Schluss mit Ehrfurcht. Der Sarg, nachdem sie ihn von Staub befreit haben, sieht aus, als ob er erst gestern vom Bestatter gekommen sei, nur dass er nicht glänzt, aber mit etwas Wasser und Politur würde er es. Unheilig. Nicht dass Finn großen Wert auf Heiligkeit legt. Er geht in die Kirche, weil er das als Friedhofswärter in einer Kleinstadt muss, wenn er die Stelle behalten will. Thomas sieht auch nicht aus, als ob ihn die kleine Grabschändung stört. Aber der Priester will es richtig machen, mit einer Zeremonie.

Dunkle Eiche, wenig Schmuck, keine Inschrift. Wären nicht die Maße, könnte es auch eine Kleiderkiste sein, irgend etwas aus dem vorletzten Jahrhundert. So muss man es betrachten: als kurioses Stück. Was darin liegt ist altes Zeug.

Er sieht Steiner herankommen, jetzt im schwarzen Messgewand, ein Krieger seines Herrn mit Heiliger Schrift und eisernem Kruzifix unter dem Arm und … einem Brecheisen. Wann hat man schon einmal einen Priester mit einem Brecheisen gesehen? Falls sich der Sarg nicht öffnen lässt. Finns linkes Augenlid zuckt. Jetzt wird es bizarr. Dürfte Aufmerksamkeit erregen. Keine Lust auf Zuschauer. Glücklicherweise scheint der Friedhof von ihnen abgesehen verlassen zu sein.

Steiner baut sich auf, reicht Finn das Eisen, schlägt die Bibel auf, das Kruzifix vor der Brust. Noch einmal aussegnen, mit Weihwasser und den richtigen Worten. Miserere mei Deus secundum magnam misericordiam tuam. Auf Latein. Gegen das wahre Reich des Bösen. Es beginnt.

Steiner steigert sich in Rage. Finn verspürt Ehrfurcht und Thomas faltet instinktiv die Hände. Miserere mei! Tränen aus Gottes Auge. Hält das Kreuz über den Sarg, als ob er damit zuschlagen will, dreimal das Miserere.

Es endet. Finn steigt hinunter und gibt dem Jungen Anweisungen. Sie versuchen den Deckel zu heben. Kein Stück. Der Friedhofswärter nimmt das Brecheisen. Man muss praktisch denken, wenn man es mit Aberwitz zu tun hat. Steiners Nacken versteift sich. Was wenn er es unterschätzt? Der Leichnam kann nicht genauso erhalten sein wie der Sarg, nicht nach drei Jahrzehnten. Sie werden Knochen finden. Das ist alles. Und sie in das Beinhaus tragen, zu den anderen, und dann das Holz mit der Axt zerlegen, ausbaggern und fort damit. Heute Abend ist alles vorbei.

Das Brecheisen in der Fuge stemmt Finn den Deckel auf. Es knirscht. Luft entweicht oder wird eingesogen. Ist das Gasgeruch? Zyklon B. Der Junge! Der Junge muss da weg! Steiner hebt die Hände und …

Zieht die Vorhänge beiseite. Er hat sie am Morgen nicht geöffnet, weil er verschlafen hatte und zu spät zu Frau Siebalds achtzigstem Geburtstag kommen würde. Der Kuchen liegt ihm ein bisschen quer im Magen. Aus dem Fenster schaut er auf den Friedhof, wo Finn das Grab ausbaggert. Der Nebel ist noch dicht. Steiner trinkt Wasser aus dem Kran und wartet darauf, dass Finn an die Tür kommt, um ihm aufgeregt von dem Sarg zu berichten. Er wartet vergeblich. Die große Standuhr im Gang tickt weiter.

Es ist längst über die Zeit und Steiner wundert sich. Er öffnet das Fenster, lehnt sich hinaus, schaut auf die Schwelle vor seiner Haustür, zurück zu dem Minibagger. Vielleicht ist doch alles in Ordnung. Ein paar Besucher an den Gräbern, Verkehrsgeräusche, Herbstlaub und Oktobernebel. Es ist frisch, er schließt das Fenster. Steiner könnte sich jetzt wieder ins Bett legen, noch eine Stunde schlafen, bis zum Mittag, und dann hinausgehen und mit Finn im Grafen zu Mittag essen, innerlich lachen über die absurde Vorstellung, die sich sein Kopf ausgedacht hat. Er mag den Mann. Sie beide verstehen sich unter der Schwelle von Worten, wissen beide, dass es nur Theater ist. Vielleicht kann Steiner irgendwann mit Finn über seinen wahren Glauben reden.

Aber irgend etwas war an dem Verkehrslärm seltsam. Wieder öffnet er das Fenster, hört genauer hin, legt dazu den Kopf schräg und sein Blick gleitet am Kirchturm hinauf, bis zum Dach und dem Kreuz an dessen Spitze. Es ist ein Kreuz. Und jeder Arm endet in einem Haken. Steiner steht der Mund offen, als wollte seine Seele schreiend hinaus. Jetzt erkennt er auch den Lärm als das was er ist. Es sind Schreie und Wehklagen. Dort draußen hinter der Mauer ist eine Menschenjagd im Gang.

Er schüttelt den Albtraum ab und sieht, wie sich der Sargdeckel löst und rotes Licht hervordringt.

 

 

Plötzlich ist alles in Schwarz und Rot getaucht. Wie ist es so schnell Nacht geworden? Nein, nicht Nacht. Die Sonne ist über dem Horizont stehen geblieben. Blutrot wie das Auge von Mordor. Oder ist es doch anders herum? Der Himmel rot, die Sonne schwarz. Jedes eine Schattierung des anderen. Die Schwarze Sonne brennt sich durch den Himmel, frisst sich hindurch wie Schimmel. Die gesamte Schöpfung blutet. Steiner will rufen, dass sie heraus kommen sollen. Vor allem der Junge! Er sieht Finn und Thomas zu sich heraufschauen, mit den Augen von Verlorenen. Der Sarg liegt offen da, ist angefüllt mit rotem Licht. Feste Form und zugleich flüssig wie Licht im schwarzen Holz, rotes Blut aus der schwarzen Wurzel. Der Grabstein leuchtet wie eine Grabkerze, schwarze Schrift und Totenköpfe. Jetzt sollte sich Steiner schützend vor seinen Gott stellen, aber wie kann er das? Kleine Kinder, Herrgott! Wie soll man da den Glauben bewahren? Das Licht steigt herauf, wie die Flut, aus dem Grab, aus dem Sarg, in dem kein menschlicher Leichnam liegt, nur der rote Körper. Der Junge ist auf der Leiter, flieht vor dem Ertrinken, kriecht heraus, kommt auf die Beine, läuft. Finn ist dort unten, mit dem Brecheisen vor der Brust und Steiner wirft die Bibel und das Kreuz und das Weihwasser, alles was er hat, in den Sarg hinab. Wieder der Himmel, jetzt schwarz, die Sonne rot wie das Auge des Zorns. Er streckt die Arme in die Luft, verdrängt die Kinder, ruft: „Weiche, Luzifer!“

Nur, versteht Finn, dass der Glaube hier nicht wirkt. Er kann den Priester hören, hört die Verzweiflung in dessen Stimme, die Machtlosigkeit, versteht die Ferne des Herrn. Finn steht mit beiden Beinen im Abgrund, in dem die Wurzeln des Sarges sich halten. Mit dem Eisen sticht Finn in die rote Glut hinein, noch einmal und ruft: „Stirb! Stirb! Stirb!“ Lässt das Eisen los und greift den Deckel, zieht ihn zurück über den Sarg, verdeckt die Quelle des Lichts und springt darauf, um den Brunnen zu versiegeln. Erst dann rast er die Leiter empor und wirft sich über den Rand.

Steiner ist zusammengebrochen, auf Knien und Händen. Keine Hilfe zu erwarten. Armer Mann. Finn rappelt sich auf und stürzt zu dem Haufen Erde, packt eine Schaufel und setzt sie an der Rückseite des Grabsteins an, hebelt den Granit locker, stemmt sich dagegen mit dem Stiefel, bis er kippt und auf den Sarg rutscht. Dann schiebt er Erde in das Grab. Er schaufelt wie verrückt, wie ein Hund scharrt er, außer Atem, trotzdem weiter, bis das Loch sich füllt. Der Priester kriecht daneben, ringt um Fassung, schiebt jetzt selbst Erde auf das Grab, die von der Schaufel auf den Rand gefallen ist. Eine Geste, zumindest. Was sich nicht vernichten lässt, bedecken. Der Sarg ist bedeckt, bis oben hin zum Rand des Grabes. Zuletzt sticht Finn mit Wucht die Schaufel hinein, wie ein Kreuz.

 

 

Ein einzelner Zeuge sieht das alles mit an. Herr Wittich, der nach dem Gespräch mit dem Priester nur bis an das Tor des Friedhofs gegangen ist. Er sieht zuletzt die Verzweiflung und lächelt. Seine Hand unter der Jacke berührt die Stelle an der, unter dem Revers verborgen, das Eiserne Kreuz sitzt, das er von seinem Vater geerbt hat. Der Himmel hat diese Farbe aus Asche und Blut und jeder kann ihn sehen. Das Reich endet nie, denkt er. Das Reich endet nie.

 

(c) Tobias Reckermann 2015

„Das Reich“ wurde veröffentlich in: Tobias Reckermann: „Rumors Fährte“ (Nighttrain 2019)

erhältlich bei amazon