Zum Inhalt springen

Leseprobe von DER HOLMGANG

(ein Roman von Erik R. Andara)

1

Als Birger aus dem Schatten trat und in den dunstblauen Himmel blinzelte, musste er erkennen, dass ihm ein schwerwiegender Fehler unterlaufen war. Das, was er bis eben noch für einen hohen Turm gehalten hatte, dessen Fundament er umwanderte, war in Wahrheit ein riesiger Aethurim, der vor ihm die Schlucht kreuzte. Bei jedem Schritt der gigantischen Erscheinung rollte das Geräusch berstender Baumstämme über die schroffen Wände der Eisspalte zu ihm herauf. In der Talsohle stand ein alter Dorneichenwald, der sich gegen jegliche Erwartung so hoch im Norden der Gletscherwüste von Khor seinen Platz ertrotz hatte. Unter den donnernden Schritten des Aethurim brachen die massiven Baumstämme wie trockenes Zunderholz. Die Eisschlucht zu Birgers Füßen war lang und tief, dem weißbepelzten Titanen allerdings reichten die Felswände gerade einmal bis zur Hüfte.

Birger musste den Kopf weit in den Nacken legen, um das geweihbewehrte Haupt des Urwilden erkennen zu können; dahinter die gleißende Sonne. Und noch etwas entdeckte er auf diese Weise: Im durchlässigen Blau der Himmelskuppel schwammen neben dem großen Silbermond die dunkelgrauen Schatten dreier weiterer, kleinerer Monde – es herrschte also einer der hellen Monate. Birger befand sich so weit im Norden, dass es zu dieser Jahreszeit beinahe unmöglich war, anhand des Sonnenstands die Tageszeit zu bestimmen. Die  Nächte waren jetzt so kurz, dass sie mitunter schneller vorbeirasten als ein Hagelbussard im Sturzflug; und der aufgeblähte Sonnenball bewegte sich so träge über das Firmament, dass er beinahe stillzustehen schien. Seiner Schätzung nach musste es gegen Abend hingehen, was immer das auch an einem Polarsommertag heißen mochte.

Er schloss für einen Moment die Augen und genoss das Gefühl der Sonnenstrahlen auf der Haut. Er wusste, dass er möglichst rasch die Schneebrille aufsetzen sollte, wenn er nicht erblinden wollte; seine Augen waren immer noch an den Schatten gewöhnt, der hinter ihm lag. Und so wenig Kraft die Sonne in diesen Gefilden auch besaß, es reichte immer noch aus, um nach wenigen Minuten, in denen man schutzlos in die grell strahlende Eislandschaft geblickt hatte, auf Dauer geblendet zu sein.

Birger beobachtete den Aethurim bei seinem langsamen Gang durch die Schlucht und versuchte sich zu erinnern, wohin er selbst eigentlich unterwegs war. Er wusste, dass es sich um einen Ort handelte, an dem sein Schiedsspruch gebraucht wurde, und er wusste, dass er nicht mehr weit entfernt sein konnte. Aber die Sonnenstrahlen verwirrten ihn. Momentan war es ihm nicht möglich, sich ins Gedächtnis zu rufen, was genau er in dieser Einöde suchte. Er tat sich sogar schwer damit, zu benennen, aus welcher Richtung er gekommen war; ganz zu schweigen davon, welche er nun einschlagen sollte, um sein Ziel zu erreichen.

Im Tal hielt der Urwilde plötzlich an; Stille kehrte in die Eisschlucht ein, dann drehte sich die Erscheinung um. Durch sein ausladendes Geweih stachen die Sonnenstrahlen und setzten dem Aethurim eine gleißende Lichtkrone auf. Für einen Augenblick schien er den um ein Vielfaches kleineren Mann auf der Eisklippe neugierig zu betrachten. Birger fragte sich, ob es das gigantische Wesen und den Wald inmitten der Eiswüste tatsächlich gab, oder ob er einer Täuschung, vielleicht sogar einer Geistererscheinung aufsaß; immerhin wäre auch das nicht das erste Mal gewesen. Aber die Dampfwolken, die aus dem Maul des Urwilden aufstiegen, sprachen dagegen. Er hatte es mit einer lebenden, atmenden Kreatur zu tun.

Der Urwilde hockte sich hin; Äste knackten, Bäume brachen. Er zog die Beine eng an den Körper und senkte den Kopf so weit, dass das Geweih in den Wald abtauchte. Die Sonne stach Birger nun wieder ungehindert in die Augen, er tat sich schwer zu erkennen, was genau unten in der Schlucht geschah. Das Schiedsschwert auf seinem Rücken erbebte, und durch die dicken Öltücher und Felle, in die es gewickelt war, vernahm der Holmgaenger ein vertrautes Raunen.

„Jetzt nicht“, murmelte Birger; aus zusammengekniffenen Augen erkannte er, dass sich der Umriss des Aethurim auf dem Boden zusammenkauerte. Vielleicht wusste ja das Schwert, was dort geschah, Birger konnte es später noch danach fragen. Aber erst einmal griff er nach seiner Schneebrille und setzte sie auf.

Als er durch den schmalen Augenschlitz des Knochenrahmens wieder etwas erkennen konnte, war der Spuk bereits vorbei. Der Aethurim war verschwunden, und dort, wo er bis eben noch gekauert hatte, stand nun inmitten der Bäume ein schneebedecktes Gebäude. Rauch kräuselte aus dem Schornstein und stieg über den Baumwipfeln auf.

„Was zum …?“ Verblüfft musterte Birger das mehrstöckige Bauwerk, das nichts mit dem Aethurim gemein hatte, außer dass es sich just an jenem Ort befand, an dem der Riese direkt vor seinen Augen verschwunden war. Es handelte sich um eine zinnenbewehrte Befestigungsanlage, die dem Aussehen nach vielleicht noch aus dem baltharischen Reich stammen mochte. Genau genommen stand davon auch nur noch das Haupthaus. Rings darum entdeckte Birger die schneebedeckten Ruinen mehrerer Mauern und Wachtürme zwischen den Bäumen. Und auch dies letzte intakt gebliebene Gebäude befand sich im bemitleidenswerten Zustand. Nirgends waren Menschen auszumachen, und die wenigen Fenster waren allesamt verbarrikadiert und vernagelt worden – wahrscheinlich um die Kälte nicht eindringen zu lassen. Wäre nicht Rauch aus dem Schornstein gestiegen, hätte Birger es für verlassen gehalten.

„Na, dann wollen wir mal nachsehen, ob jemand zuhause ist.“

Erneut erbebte das Schiedsschwert auf seinem Rücken und sein Raunen erklang; aber Birger hatte gerade keine Zeit, sich darum zu kümmern, er musste sich jetzt auf den schwierigen Abstieg konzentrieren, der vor ihm lag. Auf der abschüssigen Steilwand konnte jeder Fehltritt seinen Tod bedeuten. Egal, wie erfahren er im Eissteigen war, eine gefrorene Wand von dieser Höhe zu überwinden bedeutete immer ein Risiko.

Bevor er sich in Bewegung setzte, überprüfte er noch den festen Sitz seines Waffengurts. Vorsorglich nahm er das Langschwert von der Seite, damit es ihm beim Klettern an den steilen Passagen nicht in die Quere kam, und schob es unter denselben Gurt, der das große, schwere Bündel mit dem Schiedsschwert auf seinem Rücken hielt. Sogar durch die dicken Felle konnte man es immer noch erregt vibrieren spüren.

„Ich habe jetzt keine Zeit für dich“, murmelte er vor sich hin und zurrte den Lederriemen fest, der das Gepäck am Rücken fixieren sollte, damit es auf dem Weg abwärts nicht unvorhergesehen verrutschen und ihn in die Tiefe zerren konnte. Dann drehte er sich um, suchte mit den Handschuhen festen Halt im Schnee und schwang ein Bein über die Kante. Er hatte vielleicht keine Ahnung, woher er gerade kam und wo genau sein Ziel liegen mochte, aber zumindest wusste er jetzt, wo er die heutige Nacht verbringen würde. Es spielte keine Rolle, wie windschief die Mauern auch wirkten, in dem Gebäude konnte es auf keinen Fall so ungemütlich sein wie im Freien. Denn egal wie hell die Nächte zu dieser Jahreszeit auch blieben, sie würden immer noch verdammt kalt werden. Er wusste zwar nicht warum genau, aber Birger war sich plötzlich sicher, dass sich alles weitere schon irgendwie ergeben würde, wenn er erst einmal unten angekommen war. Energisch stieß er die Frontzacken seiner Stiefel in die Eiswand, dann schwang er den zweiten Fuß über die Kante hinweg und ließ sich langsam abwärts gleiten.

2

Birger überlegte, was er absurder finden sollte: dass er sich jenseits der Tafelberge von Nhir, wo es außer Eis und Schnee eigentlich nur noch mehr Eis und Schnee geben sollte, mitten in einem Wald befand, oder dass er durch eben diesen zu einem Bauwerk unterwegs war, das bis vor kurzem noch ein Lebewesen gewesen war – vielleicht war es das ja immer noch, was wusste er schon. Er ermahnte sich, auf alle Fälle auf der Hut zu bleiben, wenn er sich ihm näherte. Sicherheitshalber trug er sein Langschwert nun wieder um die Hüften gegürtet; nicht, dass er am Ende noch wehrlos im Magen eines Urwilden endete. Dort wäre es zwar höchstwahrscheinlich wärmer als im Schatten der großen Bäume, aber mit Sicherheit nicht allzu gemütlich. Birger fröstelte; der Gedanke daran, durch eine Tür freiwillig in das Maul des riesigen Aethurims zu spazieren, behagte ihm gar nicht. Er ermahnte sich, wachsam zu bleiben.

Abweisend und kahl ragten die Stämme der Dorneichen über ihm auf. Der einzige Tribut, den ihnen der endlose Winter in diesen Breiten abgefordert hatte, war ihr üblicherweise üppiges rostbraunes Blattwerk. Birger folgte der Rauchfahne, die sich jenseits der dicht ineinandergeschobenen Äste gen Himmel drehte; sie sollte ihn geradewegs zu dem heruntergekommenen Wehrbau führen, den er vom Rand der Schlucht aus erblickt hatte.

Zwischen den dicken Wurzelsträngen war der Schnee angefroren und hart, Birger versank nur noch gut einen Finger tief mit den Schuhen darin, was ihm das Vorwärtskommen erheblich erleichterte. Schon kurze Zeit später konnte er das Bauwerk durch die Bäume hindurch erkennen. Während er weiter darauf zuhielt, war ihm, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Etwas, das keinen Aufschub duldete, etwas überaus Essentielles – etwas, das durchaus den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Aber was genau das sein sollte, wollte ihm partout nicht einfallen.

„Was meinst du, ob wir es wirklich dort versuchen sollen?“, fragte er das Schiedsschwert, bekam aber keine Antwort; offenbar hatte es sich wieder zur Ruhe begeben. Er kam mit sich überein, dass das drängende Gefühl sicherlich mit dem Gebäude im Wald zu tun hatte. Es war mehr als offensichtlich, dass irgendetwas damit nicht stimmen konnte.

Bald erreichte Birger die ersten Ausläufer der Ruinen. Als er über die Überreste der dicken Mauer hinweg kletterte, die das Hauptgebäude in einigem Abstand umgaben, erkannte er, dass sein erster Eindruck richtig gewesen war – er hatte es tatsächlich mit einem Relikt des baltharischen Reichs zu tun. Eis und Witterung mochten den einstmals mächtigen Fels zwar bis auf die Grundfeste abgetragen und die Wurzeln der Bäume ihn im Laufe der Zeit gesprengt haben, aber selbst in seinem zerstörten Zustand strahlte der Wall immer noch eine ehrfurchtgebietende Aura der Macht aus. Das Mauerwerk war mehrere Klafter breit, und nirgends waren Spuren von Werkzeugeinsatz zu erkennen. Das gesamte Konstrukt war aus einem einzigen, massiven Stück Basalt gewachsen; und hier und dort blitzten die mit Sigillen verzierten Knochen der baltharischen Baumeister-Kaste hervor – ihr Leib und ihre Seele auf ewig mit dem unbezwingbaren Bauwerk verbunden, das sie zu errichten geglaubt hatten. Was sie wohl zu sagen gehabt hätten, wenn sie hätten erfahren müssen, dass sie nur acht kurze Jahrtausende später an vergessene Ruinen gefesselt waren? Birger hätte sie ja fragen können, wenn er das gewollt hätte; ihre Geister mussten eigentlich heute noch diese Mauer bewachen. Aber obwohl er nicht wusste, worin genau seine gegenwärtige Sendung bestand, so wusste er doch, dass diese Ruinen damit nicht in direktem Zusammenhang stehen konnten. Verhielte es sich anders, hätte ihm das sein Schiedsschwert sicher längst mitgeteilt.

Als er innerhalb der Grenzmauern wieder den vereisten Waldboden betrat, bemerkte er, dass es spürbar wärmer wurde. Zuerst dachte er noch, dass es ihm bloß so vorkäme, weil die Ruinen Schutz vor den beißenden Windböen boten. Aber mit jedem weiteren Schritt stieg die Temperatur merklich an; hier und dort ragte sogar verdorrtes Steppengras durch die Eisdecke, die so hoch im Norden eigentlich einige Klafter dick sein sollte. Der Windschutz alleine konnte nicht die Ursache dafür sein, die örtliche Begrenzung dieses Phänomens ließ eher auf Magie schließen; ziemlich starke Magie sogar.

Birger streifte die Handschuhe ab und rüttelte einige Male prüfend am Knauf des Langschwerts, um sicherzugehen, dass es nicht in der Scheide angefroren war, für den Fall dass er es demnächst rasch zur Hand haben musste. Er traute der ganzen Angelegenheit nicht – besser, er war vorbereitet. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Schwert vorsichtshalber sofort zu ziehen, verwarf ihn aber wieder. Wer auch immer in dem Gebäude voran lagerte – oder vielleicht ja sogar darin wohnte – bekäme auf jeden Fall einen falschen Eindruck von seinen Absichten, wenn er sich mit blanker Klinge näherte.  

„Ich bin Birger der Narbenlose, Sohn von Dreitill, Holmgaenger der oberen Arsali. Ich trage heute mein Urteil durch die nördliche Khor, auf dass es die Schuldigen finde. Niemand sonst muss mich fürchten“, rief Birger durch die Bäume hindurch. Er überlegte, ob er sich auf das Abkommen der großen Stämme berufen sollte, laut dem er im Norden immer und überall Gastlichkeit zu erwarten hatte und eine Schiedsfindung, war sie erst einmal eingeläutet, von allen Angehörigen der gerecht lebenden Völker stets zu unterstützen war, ließ es aber dann bleiben.

„Ich suche lediglich ein Plätzchen für die Nacht, an dem ich meine steifgefrorenen Glieder wärmen kann. Und falls ihr in einer Angelegenheit meinen Schiedsspruch wünscht, so stehe ich ebenfalls zur Verfügung!“

Birger trat zwischen den Bäumen hervor und fand sich direkt dem Bauwerk gegenüber. Von Nahem betrachtet, befand es sich in noch schlechterem Zustand, als er es von der Klippe aus eingeschätzt hatte. Von allen Seiten drängten sich die dunkelgrauen Dorneichen gegen die baufälligen Außenwände, an manchen Stellen waren die Baumstämme sogar mit dem Mauerwerk verwachsen. Keinesfalls ein guter Ort, das war Birger schon seit einiger Zeit klar. Aber wo ließ sich so etwas wie ein guter Ort heutzutage schon noch finden; er zumindest konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit einen gesehen zu haben.

„Ich weiß, dass sich jemand da drinnen befindet! Ich sehe den Rauch!“ Birger ließ seinen Blick über die verbarrikadierten Fenster streichen. Irgendjemand hatte jedes einzelne davon mit schweren Latten vernagelt. Im Gegensatz zu der uralten, zweifellos ebenso baltharischen Bausubstanz des Gebäudes, wirkte das farblose Holz, das man dazu benutzt hatte, so, als hätte jemand es erst kürzlich aus Bäumen des Dorneichenwaldes zurechtgesägt. Unwillkürlich fragte sich Birger, was man damit draußen zu halten hoffte – oder vielleicht auch drinnen. Er war es gewohnt, derartige Schlüsse nicht allzu übereilt zu treffen; er hatte gelernt, dass das Überleben oft genug davon abhing, ob man sich bis zur unwiderlegbaren Beweisführung alle möglichen Optionen offen hielt.

(DER HOLMGANG erscheint am 30. Dezember 2022, hier geht’s zur Subskription)