Kaltes Neonröhrenlicht, das auf eine Reihe hochklappbarer Sitze fällt. Sie stehen parallel zu den Fenstern. Jeder Sitz hat den gleichen, geschmacklosen Musterbezug; fleckig, speckig, dreckig und zum Teil mit Brandlöchern verziert. Ihnen gegenüber: eine zweite Reihe ebensolcher Sitze und dazwischen ein Gang. Dies ist ein Zug bzw. eine Bahn. Genauer gesagt, das Fahrradabteil einer Regionalbahn. An den Fenstern rauscht ein Sternenmeer vorbei, die Lichter einer Stadt. Dann plötzliche Dunkelheit, ein Tunnel. Der Zug ruckelt und knirscht über die Gleise, bis er schließlich zum Stehen kommt. Das Neonlicht flackert kurz. Türen aus Stahl, Glas und Gummi öffnen sich und eine zerhackte Lautsprecherdurchsage gibt unverständliche Anweisungen. Als sich die Türen schließen und der Zug seine Reise fortsetzt, öffnen sich die Augen des einzigen Fahrgastes im Abteil. Karissa gähnt, reibt sich die Augen und kuckt sich benommen um. War das Abteil nicht gerade noch voller Leute? Sie hatte doch nur ganz kurz die Lider fallen lassen, ein Blinzeln, mehr nicht! Aber sie war einfach so furchtbar müde gewesen, nach drei Überstunden im Büro; jetzt schon zum zweiten Mal in dieser Woche. „Wo sind wir jetzt?“ fragt sie laut, obwohl niemand da ist, um darauf zu antworten. Rasch wirft sie einen Blick auf ihr Mobiltelefon. Der Akku ist leer und das Telefon tot. „Mist!“
Ihr Pech verfluchend und sich nochmals die Augen reibend, steht sie auf, ergreift ihre Tasche und marschiert los. Sie muss jemanden auftreiben, den sie fragen kann welche die letzte Station war oder welche die nächste sein wird. Das andere Ende des Abteils wird fast vollständig von der behindertengerechten Toilette eingenommen, nur ein schmaler Gang bleibt als Passage. Dahinter beginnt ein neues Abteil mit Vierer- und Zweiersitzen. Niemand ist da. Sie steigt die vier Stufen hinauf und befindet sich zwischen zwei Doppeltüren und vor der Schleuse zum nächsten Waggon. Die Türen öffnen sich zischend, als sie den Knopf drückt und hindurchgeht. Wieder befindet sie sich zwischen zwei Doppeltüren und vor ihr zwei Treppen, eine führt hinauf, die andere hinab. Karissa entscheidet sich für die Treppe hinab. Vor ihr erstreckt sich ein Gang zwischen zwei Reihen aus Zweier- und Vierersitzen. Auf den ersten Blick ist auch hier niemand zu sehen. Karissa marschiert den Gang entlang und lässt ihren Blick hin und her schweifen. Es bleibt bei der Bilanz: der Waggon ist unbesetzt. Karissa legt die Stirn in Falten.
„Ist es etwa schon so spät, dass niemand mehr im Zug sitzt?“, wundert sie sich.
Rasch wirft sie einen Blick aus dem Fenster. Ein Sternenmeer rauscht vorbei, die Lichter einer Stadt. Doch Karissa erkennt keine Einzelheiten. Jedenfalls nichts, was ihr einen Hinweis auf die Identität der Stadt geben würde.
„Wenn es schon so spät ist“, überlegt sie sich, „dann erreichen wir bestimmt bald die Endstation.“
Also setzt sie sich einfach hin und beschließt so lange zu warten bis der Zug anhält. Dann wird sie schon irgendwie weitersehen. In ihrer Vorstellung malt sie sich aus, wie sie in ungefähr fünf bis zehn Minuten einen nächtlichen Bahnhof betreten wird und dem arbeitsmüden Zugführer und bestimmt auch ein oder zwei weiteren Fahrgästen, die irgendwo in den hinteren Waggons genauso allein waren, wie sie hier. Der Zug hält aber nicht an. Karissa hat zwar keine Möglichkeit das zu überprüfen, doch ihr Zeitgefühl sagt ihr, dass sie schon mindestens eine Viertelstunde hier sitzt, ohne dass der Zug auch nur an einer Station vorbeigerauscht wäre. War sie etwa schon wieder eingeschlafen und der Zug auf seiner Rückreise? So müde wie sie sich fühlte, wäre das durchaus möglich. Aber selbst wenn der Zug seine Fahrtrichtung geändert hätte, woran sollte sie das erkennen? Im Fenster sieht man ja nichts, außer gelegentlichen Lichtpunkten in der Finsternis und das eigene Spiegelbild. Aber nein. Karissa ist sich völlig sicher, dass sie nicht eingeschlafen ist. Kurzentschlossen ergreift sie ihre Tasche und macht sich wieder daran, den Zug nach Leuten zu durchsuchen. Irgendwo muss doch jemand sein, und wenn sie bis zum Zugführer durchlaufen muss! So wandert sie von Waggon zu Waggon und durchquert Schleuse um Schleuse. Doch der Zug erweist sich als ausgestorben und Karissa kommt sich allmählich so vor, als wäre sie der letzte Mensch in einer Welt, die nur noch aus einem Zug besteht. Wieder durchquert sie eine Waggonschleuse und wieder steht sie zwischen zwei Doppeltü…
Nein! Halt! Sind das nicht Waggonschleusen, die ihre Seiten flankieren? Karissa wendet sich um und steht vor einer Waggonschleuse. Sie dreht sich um die eigene Achse und sieht sich in allen vier Richtungen von Waggonschleusen umgeben.
„Wie geht das denn!“, wundert sie sich.
Eigentlich sollte sich hinter diesen Türen die Außenwelt befinden und keine weiteren Waggons, die sich im rechten Winkel mit dem Rest des Zuges kreuzen. Karissa kann nicht aufhören durch das Fenster in die Schleuse zu starren. Dahinter geht der Zug ganz normal weiter. Ist es überhaupt noch derselbe Zug? Der Waggon sieht zumindest danach aus. Aber andererseits sehen die Züge eh alle gleich aus. Karissa schließt die Augen und lehnt sich mit der Stirn gegen das kalte Glas. Sollte sie jetzt an ihrem Verstand zweifeln? Oder ist sie vielleicht einfach schon wieder eingeschlafen und träumt sich da was zusammen. Aber das Glas fühlt sich sehr real an. Karissa versucht ihre Gedanken zu ordnen. Irgendwer hatte mal behauptet, dass man im Traum nichts lesen könne. Also wenn sie jetzt ihre Fahrkarte rausnähme und die nicht entziffern könnte… Sie greift in ihre Tasche und kramt den Fahrschein hervor, aber der Start- und Zielbahnhof sind gut zu erkennen und alles andere auch. In dieser Situation ist das jedoch alles andere als beruhigend. Denn es kann nur bedeuten, dass die Behauptung entweder nicht stimmt, oder dass Karissa tatsächlich wach und bei vollem Bewusstsein ist. Andererseits heißt es auch, dass man seine Träume beeinflussen kann, wenn man weiß, dass man träumt. So etwas nennt man luzides Träumen. Karissa tritt von der Schleuse zurück und konzentriert sich darauf, ihre Umgebung in einen Lichtdurchfluteten Wald zu verwandeln. Es klappt nicht. Entnervt schüttelt Karissa den Kopf. Sie schließt die Augen und probiert es noch einmal. Wieder nichts! Sie ist noch immer von vier Waggonschleusen umgeben, obwohl das gar nicht sein kann. Allmählich wird sie sauer. In einer spontanen Reaktion aus Wut und Frustration drückt sie den Knopf. Die vordere Tür der Schleuse öffnet sich ganz normal. Karissa zögert. Soll sie wirklich hindurchgehen? Das ist eine der Schleusen an den Außenwänden. Was auch immer sie dahinter zu sehen glaubt, dürfte nach aller Vernunft nicht existieren. Aber vielleicht beugt sich ja die Passage der Realität und beendet ihre Existenz, wenn sie versucht hindurchzugehen. Karissa wagt es. Sie geht in die Schleuse und steht jetzt auf den sich überlappenden Metallplatten zwischen den Türen. Der Aufenthalt in den Schleusen bereitet ihr auch sonst Unbehagen, doch dieses Mal fühlt sie sich geradezu panisch. Was, wenn sie gerade eine normale Ausgangstür geöffnet hat? Erst als ihr wieder einfällt, dass sich eine normale Tür bei voller Fahrt gar nicht öffnen lässt, bringt sie den Mut auf, den zweiten Knopf zu drücken. Die Tür gleitet zur Seite und Karissa macht einen Satz in den nächsten Waggon.
Das Ruckeln des Zuges ließ Karissa das Gleichgewicht verlieren und stürzen. Der Aufprall bescherte ihr die Erkenntnis, dass der Boden beruhigend solide war, und verdammt hart! Sie rieb sich die Schulter, die die meiste Wucht abgekommen hatte. Hinter ihr hatte sich die Schleusentür von selbst geschlossen. Daran war soweit nichts Ungewöhnliches, aber trotzdem kam ihr etwas an der Tür seltsam vor, so als habe sie sich verändert. Vorsichtig kam Karissa wieder auf die Beine und examinierte die Tür genauer. Von dieser Seite sah sie ganz anders aus. Statt aus glattem, grau lackierten Metall bestand sie aus dunklem Eisen und war an den Rändern mit Nietenköpfen versehen. Das Fenster hatte sich in ein Bullauge verwandelt, und statt des Knopfes fand sie einen Zuggriff vor. Ein Versuch, durch das dicke Glas in den Waggon zu spähen, aus dem sie gerade gekommen war, verriet ihr nur, dass die Tür auf der anderen Seite der Schleuse genauso beschaffen war wie diese. Aber auch der Rest dieses Waggons war anders. Die Wände waren mit Holz verkleidet. Auch die Sitze waren aus Holz und ihre Polster trugen ein fremdartig altmodisches Muster. Die Fenster wurden von gelben Gardinen eingerahmt und zwischen ihnen waren Gaslampen angebracht, die den Waggon in schummriges Licht tauchten. Das Ganze wirkte genauso, wie sich Karissa einen Zug gegen Ende des 19. Jahrhunderts vorgestellt hätte. Sie runzelte die Stirn. Solche Züge sah man heutzutage eigentlich nur noch in Filmen oder Museen. Karissa wurde die Sache zu verrückt und sie beschloss, in den anderen Zugteil zurückzukehren. Doch als sie an dem Zuggriff zog, rührte sich die Tür kein Stück.
„Verdammt, geh auf du scheiß Teil!“, fluchte Karissa und schlug mit der flachen Hand gegen die Tür.
Aber so sehr sie auch fluchte und zog, es half nichts und am Ende musste sie einsehen, dass sie keine andere Wahl hatte, als tiefer in diesen alten Zug einzudringen.
Als sie den Waggon durchwanderte, hielt sie für einen Moment inne, um noch einmal einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Draußen zeigte sich ein Sternenmeer, die Lichter einer Stadt. Die Schleuse am gegenüberliegenden Ende ließ sich problemlos öffnen und führte sie in einen Waggon der ersten Klasse. Statt offener Sitze, gab es hier eine Reihe geschlossener Abteile, an denen ein schmaler Gang entlangführte. In allen Abteilen waren die Fenster der Türen mit Gardinen verdeckt, so dass es unmöglich war, einen Blick hineinzuwerfen. Neugierig griff Karissa nach einem Türknauf und probierte, ob sich das Abteil öffnen ließ. Die Antwort auf diese Frage lautete: ja. Karissa schob die Tür auf und wich überrascht zurück, als sie feststellte, dass das Abteil besetzt war. Direkt am Fenster hockte ein Mann mit weitem Mantel, breitkrempigen Hut und einem Regenschirm. Er war in sich zusammengesunken und lehnte gegen das Fenster. Sein Hut war quer über das Gesicht geschoben worden, so dass sie es nicht sehen konnte. Offenbar war er während der Fahrt eingeschlafen. Karissa atmete erleichtert auf. Da war endlich jemand, der ihre Fragen beantworten und ihre Welt wieder geraderücken konnte. Sie hasste es zwar, jemanden wecken zu müssen, doch um sich nach jemand anderem umzusehen, fehlte ihr mittlerweile die Geduld. „Entschuldigung!“, sagte sie laut und dann noch einmal etwas lauter, als sich der Mann nicht rührte. „Hey, hör’n sie mich?“, fragte sie als sie den Mann sanft anstieß. Doch kaum dass sie ihn berührte fiel der Mann zu einem Kleiderhaufen zusammen und der Hut rollte auf den Boden. „Was zum…?“, entfuhr es Karissa. Sie hob den Mantel auf und schüttelte ihn aus. Darunter kam nichts als ein sehr altmodischer, aber gut erhaltener Herrenanzug zum Vorschein, ohne irgendeinen Hinweis darauf, was die Kleidung so in Form gehalten hatte, dass sie eine Person vortäuschen konnte. „Ich werd’ hier noch wahnsinnig!“, stöhnte Karissa, „oder ich bin’s schon.“ Sie ließ den Mantel fallen, ging hinaus in den Gang. Für eine Minute stand sie mit geschlossenen Augen und geballten Fäusten einfach da. Unter ihren Füßen konnte sie das Ruckeln und Vibrieren des Zuges spüren, der auf schier endlosen Schienen durch die Nacht fuhr. Die ganze Situation machte sie wütend. Als Karissa ihre Wut wieder einigermaßen im Griff hatte, wandte sie sich dem nächsten Abteil zu. Dieses Mal nahm sie sich die Zeit zu klopfen. Doch als sie die Tür öffnete, war das Abteil leer. Zornig stieß sie die Tür wieder zu und nahm die nächste in Angriff, ohne zu zögern oder zu klopfen. Inzwischen war sie viel zu aufgebracht, um noch höflich zu sein.
Hier fand sie gleich eine ganze Reisegesellschaft vor, bestehend aus vier Damen in weitbauschigen Kleidern und breiten, mit Papierblumen geschmückten Sommerhüten. Sie saßen vornüber gebeugt mit gesenkten Köpfen und sahen so aus als wären sie allesamt einem Historiendrama entsprungen. „Guten Abend!“, begrüßte Karissa die Runde. „Entschuldigen sie die Frage, aber ist jemand von ihnen echt?“ Worauf sie genau die Antwort erhielt, die sie erwartet hatte; nämlich gar keine. Verärgert griff Karissa nach einem der Hüte und zog ihn der Dame einfach vom Kopf. „Hallo, ist jemand zuhause?“ Unter dem Hut kam ein vom Staub ergrauter Dutt zum Vorschein, aber die dazugehörige Dame rührte sich immer noch nicht. Karissa ging in die Hocke, damit sie der Frau ins Gesicht sehen konnte. Doch da war kein Gesicht, nur ein von schwarzgrauen Hautresten überzogener Totenschädel, der aus leeren Augenhöhlen auf die behandschuhten Hände glotzen, die der Leiche im Schoße lagen. Karissa ließ sich vor Schreck auf den Boden fallen. Alle vier Gestalten waren nichts als ausgetrocknete Mumien, fleischlos, und wortwörtlich nur noch Haut und Knochen. „Was ist hier… was geschieht hier?!“, schrie Karissa. Sie verdeckte das Gesicht mit den Händen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Erst diese unmögliche Schleusenkreuzung, dann der altmodische Zug und ein Passagier, der nur gar nicht da war, und jetzt, das! Sie saß mit vier Leichen in einem Zug, von dem sie weder wusste wohin er fuhr, noch ob er jemals ankommen würde. Mochten Gott oder der Teufel wissen, was als nächstes geschah! Sie ließ die Hände sinken und blieb für einige Minuten regungslos sitzen. Irgendwann, als die Erkenntnis in ihr heranreifte, dass sie etwas unternehmen musste, wenn sie nicht die fünfte Leiche in diesem Abteil werden wollte, öffnete sie die Augen und… Und sah wie jemand am Rande ihres Blickfeldes durch den Gang an ihr vorbei huschte.
Rasch sprang sie auf die Füße und spähte in den Gang. Was ihr Blick noch erhaschen konnte, war die Rückseite eines Mannes in einer blauschwarzen Uniformjacke, der in den nächsten Waggon verschwand. Karissa eilte ihm nach. ‚Das war doch ein Schaffner gewesen, oder?‛, dachte sie. Der Mann hatte zwar kaum Ähnlichkeit mit einem Bahnangestellten der heutigen Zeit, aber der allgemeine Eindruck war der eines Schaffners, wie ihn Karissa aus ihrer Kindheit und aus Filmen kannte, mit Goldknöpfen und Schirmmütze. Sie erwartete halb niemanden anzutreffen, als sie die zweite Schleusentür hinter sich brachte. Doch da im Mittelgang, zwischen den Sitzplätzen, stand tatsächlich ein Mann in einer altmodischen Schaffneruniform. Er war hochaufgeschossen, fast zwei Meter groß. Um das Gesicht hatte er sich einen schmutzigen Schal gewickelt, der aus sich allmählich aufdröselnder Wolle gestrickt war. Womöglich war er erkältet, doch für Karissa sah es eher so aus, als wolle der Mann nicht erkannt werden. So vermummt schritt der Schaffner seelenruhig an den Sitzen vorbei, ohne Karissa auch nur im Mindesten zu beachten. „Halt!“, rief sie, als er gerade im Begriff war in den nächsten Waggon zu wechseln. Gelassen drehte sich der Schaffner nach ihr um. „Ich… ich habe… ich habe eine Frage!“, keuchte Karissa als sie auf ihn zu lief. „Eigentlich sogar mehrere, ich…“ Doch statt sie ausreden zu lassen, hieß er sie mit vorgehaltener Handfläche stehen zu bleiben. „Das Billett, bitte“, sagte der Schaffner. „Was?“, antwortete Karissa völlig aus dem Konzept gebracht. „Das Billett, bitte“, wiederholte der Mann und machte eine fordernde Handbewegung. „Ja, ähm… Moment!“, sagte Karissa und begann in ihrer Tasche zu wühlen. Es dauerte eine Weile, bis sie endlich glaubte, das Ticket gefunden zu haben. Doch als sie es dem Mann reichte, schien es sich in ein leeres, weißes Rechteck aus Papier verwandelt zu haben, ohne irgendwelche Anzeichen, dass es sich um einen Fahrschein handelte. Doch der Mann nahm es ohne zu zögern entgegen, gab vor etwas darauf zu lesen und reichte den Zettel schließlich an Karissa zurück, nachdem er ihn mit einer Zange entwertet hatte. „Ihr Platz befindet sich oben“, sagte er tonlos und wandte sich schon wieder um. „Nicht so schnell!“, rief Karissa und packte ihn am Ärmel, wo fährt dieser Zug hin? Wann halten wir?“ „Weg“, sagte der Mann und löste dabei sanft Karissas Finger von seinem Ärmel. „Wir fahren weg.“ „Ja, aber wohin?“, fragte Karissa verzweifelt. „Ihr Platz ist oben“, sagte er noch einmal und unterstrich seine Worte mit einer Geste. Dann öffnete er die Schleuse und noch ehe Karissa etwas sagen konnte, zog er die Tür zu und war dahinter verschwunden. Karissa riss die Tür sofort wieder auf, doch er war tatsächlich verschwunden.
„Oh Nein!“, stöhnte Karissa resigniert. „Komm schon, Karissa“, sprach sie zu sich selbst, als sie die Augen schloss. „Wach auf! Wach auf! Komm schon, wach auf! Du weißt, dass das nur ein Traum sein kann.“ Aber Karissa wachte nicht auf. Sie stand noch immer in der Schleuse und der Zug ratterte weiter durch die Nacht. Kopfschüttelnd öffnete sie die zweite Tür, trat hindurch und fand sich in einem Waldtunnel wieder. Dort wo sie weitere Sitzreihen erwartet hatte, wuchsen schlanke Bäume aus dem Boden, die sich einander zuneigten und ihre Kronen ineinander verwoben, so dass sie ein dichtes Geflecht aus Ästen und Laub bildeten. Der Mittelgang war frei, aber mit Laub, Steinchen und Zweigen bedeckt. Sie befand sich jedoch noch immer in einem Waggon, wie sie feststellte, als sie zwischen den Baumstämmen hindurch spähte und die Wände und Fenster erkannte.
„Also, jetzt reicht’s!“,’ entfuhr es ihr.
Das war der endgültige Beweis, dass sie entweder verrückt geworden war, oder sich jemand einen sehr grausamen Scherz mit ihr erlaubte, glaubte Karissa. Doch sie beschloss, ruhig zu bleiben oder es zumindest zu werden und dann würde sie der verdammten Sache auf den dreimal verdammten Grund gehen! Denen würde sie’s schon zeigen! Wer auch immer sie waren! Wie um ihrem Beschluss Nachdruck zu verleihen, kramte sie wieder in ihrer Tasche herum und förderte eine Schachtel Zigaretten zutage.
„Wenn hier keine Regeln mehr gelten, dann kann ich ja auch rauchen“, sagte sie zu sich selbst, lehnte sich gegen die Tür und entzündete eine Zigarette.
Der Rauch tat gut. Er kratzte zwar ein wenig in der Kehle, aber er gab ihr auch etwas von ihrer gewohnten Realität zurück und das war ein beruhigendes Gefühl. Das Ende des Pfades konnte sie von hier aus nicht erkennen. Dieser Waggon schien wesentlich länger zu sein als es möglich sein sollte. Aber vielleicht war das auch eine optische Täuschung. Mit der Zigarette im Mund machte sie sich daran, den Waldtunnel zu durchschreiten. Auf den ersten paar Metern, wo die Bäume noch etwas lichter standen, konnte Karissa einen Blick aus dem Fenster erhaschen. Draußen zog ein Sternenmeer vorbei, die Lichter einer Stadt, oder vielleicht doch Sterne am Nachthimmel? Je tiefer sie in den Gang vordrang, umso dichter standen die Bäume. Bald schon begannen Wurzeln den Boden aufzubrechen, die mit jedem Schritt dicker wurden und regelrechte Stolperfallen bildeten. Am Ende war der ganze Boden unter sich übereinander türmenden Wurzeln verschwunden. Auch die Bäume wurden dicker und kamen sich immer näher, bis Karissa nicht mehr gerade gehen konnte, sondern schräg aufwärts klettern musste, um überhaupt noch voranzukommen. Schließlich ging es nur noch aufwärts. Auch die Decke schien höher zu sein, als der eigentliche Zug. Karissa stand mit einem Bein auf einem besonders dicken Ast und hatte den zweiten schon zu einem etwas höheren erhoben, als sie merkte, dass es nicht weiter ging. Sie hatte den höchsten Punkt erreicht.
Doch über ihr, direkt über ihrem Gesicht, entdeckte sie eine Luke. Sie war rund und nach oben gewölbt, mit einem Drehrad in der Mitte. Karissa runzelte die Stirn. Eigentlich hätte sie so etwas eher in einem U-Boot erwartet. Die Luke war hier genauso fehl am Platze wie die Bäume. Aber wohin führte sie? Doch wohl nur nach draußen, aufs Dach. Aber wenn dem so war, dann sollte sie lieber umkehren und nicht versuchen hindurch zu schlüpfen. Auf dem Dach eines fahrenden Zuges war es sehr windig, viel zu windig, als dass man einfach darauf herumspazieren konnte. Aber andererseits… wenn sie in einem Zug auf Bäume klettern konnte, dann konnte sie diesem Zug wohl auch aufs Dach steigen, oder? Außerdem, hatte der seltsame Schaffner nicht gesagt ihr Platz sei oben? Karissa suchte mit beiden Füßen einen festen Stand und griff nach dem Rad. Sie brauchte ihre ganze Kraft, aber letztlich gab es mit rostigem Quietschen nach und ließ sich aufdrehen. Dann presste sie beide Hände gegen die Luke und stieß sie mit einem gewaltigen Schwung auf, der sie das Gleichgewicht verlieren ließ. Um ein Haar wäre Karissa abgestürzt, wenn es ihr nicht gelungen wäre, mit hervorschnellender Hand einen Ast zu ergreifen. Nachdem sie ihren Stand wieder gesichert hatte, suchte sie Halt am Rande der Luke und hievte sich durch die Öffnung.
(Illustration (c) Ulf R. Berlin 2014)
Das Dach des Zuges war zu den Seiten hin abfallend gewölbt und die einzelnen Segmente durch Nieten verbunden. Für einen Moment kniete sich Karissa hin, und atmete tief ein.
„Seltsam“, dachte Karissa.
Sie konnte den Fahrtwind weder hören noch spüren. Um sie herum war tatsächlich alles windstill. Windstill, aber nicht still. Als sie aufblickte, sah sie dass das ganze Dach von Leuten bevölkert war. Sie saßen in Gruppen oder Paaren herum. Bildeten Lager oder wandelten einzeln oder zu zweien übers Dach. Da war eine Gruppe, die ganz nach Wüstennomaden aussah. Und etwas weiter hielten drei Männer und zwei Frauen eine Art Teeparty ab. Sie waren im viktorianischen Stil gekleidet und erinnerten Karissa an die Leichen, die sie in dem Abteil angetroffen hatte. Niemand schien sich daran zu stören, dass sie auf einem Zug saßen. Über Karissa hingen Sternbilder am Himmel. Sie kannte sich nicht mit Astronomie aus, aber diese Konstellationen kamen ihr trotzdem seltsam fremd vor. Sie erhob sich, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Vielleicht würde sie von hier aus erkennen, wie lang der Zug war. Doch alles was sie erblickte, war eine Kette aus Waggons, die sich scheinbar bis in alle Ewigkeit aneinanderreihten. Sie drehte sich um in der Hoffnung, die Stelle zu sehen, wo sich dieser Zug mit dem anderen kreuzte. Doch da war nichts zu sehen, obwohl sie doch nur vier Waggons weiter gegangen sein konnte. Sie beschloss, auf dem Dach in dieselbe Richtung zu gehen, aus der sie gekommen war. Dabei musste sie sich an den Gruppen vorbeiquetschen, die zum Teil sehr dicht saßen. Aber man schenkte ihr Beachtung und machte Platz, wenn man sie kommen sah.
Im Vorbeigehen erkannte Karissa, dass nicht alle Passagiere menschlich waren. Aber was sie sonst waren, vermochte sie nicht zu sagen. Sie hörte sehr viele verschiedene und seltsame Sprachen, einige vertraut, andere völlig Fremd und bei einigen war sich nicht einmal sicher, ob es wirklich Sprachen oder nur zufällige Laute waren, die sie hörte. Doch egal wie weit sie ging, der Zug schien kein Ende zu haben. Sie hätte noch nicht einmal sagen können, wo sich die Lok befand, bzw. in welche Richtung der Zug fuhr. Irgendetwas musste sie tun. Sie konnte doch nicht ewig über dieses Dach wandern. Zu ihrer Linken bildete eine Schar in braune Kutten gehüllter Gestalten einen Kreis um ein kesselartiges Gefäß. Es sah zumindest so aus als wären es Kutten, doch die Öffnungen der Kapuzen zeigten nicht nach vorn, sondern waren nach oben gerichtet, sodass sich die Gesichter nicht mal erahnen ließen. Auch sonst konnte sie keine Gliedmaßen ausmachen. Die Figuren wirkten am ehesten so, als hätten sie sich als kleine Vulkane verkleidet. Ab und zu zuckten dünne Zungen oder Tentakeln aus den Öffnungen hervor, griffen in den brodelnden Topf und fischten wild zappelte Vielfüßler hervor, die mit einem glucksenden Geräusch, das wie „glui! glui!“ klang, in den Kapuzenkratern verschwanden. Zu ihrer Rechten waren zwei feine Damen mit Korkenzieherlöckchen, Spitzenkleidern und Korsetts in ein Kartenspiel vertieft. Hinter einer der Damen hockte eine junge Frau, die verschlissene Lederkleidung, eine Korbrille auf den Augen und Ölflecken im Gesicht trug. Mit einer Hand hielt sie eine Klappe am Rücken der Dame geöffnet und offenbarte damit ein Geflecht aus Zahnrädern, in dem sie mit einem Werkzeug herumfuhrwerkte. Der zweiten Dame hatte jemand die Schädeldecke entfernt und das Gehirn freigelegt. Auch hinter ihr hockte eine Frauengestalt. Eine junge Frau mit langem, blonden Haar, deren schwarze Augen wie geschmolzener Teer aus den Höhlen tropften, während sie der anderen das Gehirn aus dem Schädel löffelte, als wäre es Grießpudding.
Keine der beiden Spielerinnen schien sich davon stören zu lassen, oder die anderen Frauen überhaupt zu bemerken.
„Äh… entschuldige bitte“, wandte sich Karissa an die junge Mechanikerin, die einzige halbwegs normal wirkende Person.
„Einen Augenblick, bitte“, wehrte die Mechanikerin ab. „Das hier ist sehr knifflig. So jetzt hab ich’s!“ triumphierte sie, „jetzt läuft das Mädel wieder wie geschmiert.“
Die Mechanikerin wischte sich rasch die Hände an dem Kleid der Dame ab und wandte sich dann Karissa zu. „Wie kann ich dir helfen?“
„Ähm… ich möchte gerne wissen, was hier gespielt wird.“
„Mmh… ich glaube Rommee oder sowas. Weiß ich nicht so genau, hab’ mich nie dafür interessiert.“
„Nein, ich meine, dass alles hier!“, rief Karissa verärgert und machte eine allumfassende Geste mit den Armen.
„Ähm… tja, das hier ist ein Zug. Wir sind auf einer Zugreise, verstehst du?“, erklärte die Mechanikerin in einem Tonfall für Begriffsstutzige.
„Ich weiß! Aber wo fahren wir hin?“
„Na, weg!“
„Wie, weg?“
„Einfach nur weg“, sagte die Mechanikerin.
„Aber ich will gar nicht weg!“, brauste Karissa auf. „Ich will einfach nur nach Hause, in mein Bett!“
„Na, dann geh doch!“, empfahl die Mechanikerin mit einem Lächeln. Karissa stöhnte und ließ resigniert die Arme hängen.
„Danke, du hast mir sehr geholfen“, behauptete sie.
„Gern“, sagte die Mechanikerin und wandte sich wieder der mechanischen Frau zu.
„Sag mal, findest du nicht, dass es etwas seltsam ist auf statt im Zug zu reisen?“
Die Mechanikerin legte die Stirn in Falten und dachte einen Augenblick darüber nach.
„Nö“, sagte sie schließlich, „alles ganz normal.“
Karissa nickte und wandte sich ab.
Offensichtlich war sie doch in einem Alptraum gefangen, aus dem sie nicht erwachen konnte. Egal in welche Richtung sie ging, auf diesem Zug würde sie kein Ziel erreichen. Es sei denn… Karissa drängte sich an den vielfüßerfressenden Kutten vorbei und umging noch einige andere Wesen, bis sie schließlich den Rand des Zuges erreichte. Der Blick über den Rand ließ ihren Atem stocken. Unter hier erstreckte sich eine Spirale aus Eisenbahnwaggons, die durch das Vakuum des Alls fuhren und hier und dort von weiteren Zuglinien durchkreuzt wurde. Das ganze Gebilde war gigantisch. Die Spirale reichte tausende Meilen tief, bis sie sich irgendwo jenseits des Sichtbaren verlor. In der Ferne zogen Sterne, kleine Sonnen und Quasare vorbei, auch wenn ihr das nicht bewusst war. Dass sie hier überhaupt atmen konnte, war allein schon Wunder genug, um das Konzept Verstand ad absurdum zu führen. Aber auch aus dieser Perspektive konnte sie nicht erkennen, ob es sich um unzählig viele oder um nur einen einzigen Zug handelte.
„Der Zug fährt von überall weg“, erklang die Stimme der Mechanikerin an Karissas Ohr. „Aber er fährt auch überall hin.“
„Und… wenn ich nicht mehr mitfahren will…?“
„Dann steigst du einfach aus.“ Karissa nickte.
Sie schloss die Augen, machte einen Schritt nach vorn und stieg aus.
(C) Ulf R. Berlin 2014
Ulf R. Berlin ist Maler, Illustrator, Kommunikations-Designer, Dichter, Geschichtenerzähler und manchmal auch Laienschauspieler und Kabarettist. Er hat die Sprache Gārßōrkōtz erfunden und sogar ein (bisher unveröffentlichtes) Buch darüber geschrieben, das „Nōrterenīr kwōr Gārßōrkōtz“.
Da fast alles, was Ulrabi in Eigenregie macht, thematisch im Bereich des Makabren und Absurden angesiedelt ist, bezeichnet er sich selbst auch als Makabermaler, Leichenlyriker, Nachtmährchenerzähler und Nekrokomiker.
Er ist außerdem Illustrator, Layouter und Redakteur bei Whitetrain. 2017 erschien hier auch sein Erstlingswerk als Herausgeber: die Horror-Anthologie „Dirty Cult„.
„Karissas Kreuzzugfahrt“ sowie die dazugehörige Illustration wurden zuerst veröffentlicht in: IF Magazin #1, Whitetrain 2014