Die Äste hingen so tief, dass Alfred um den Lack des Autodaches zu fürchten begann. Obwohl das Navigationsgerät seit mehreren Minuten hartnäckig behauptete, dass sie am Ziel angekommen seien, war kein Ende des knirschenden Waldwegs abzusehen.
„Ja, ich habe die richtigen Koordinaten eingegeben“, kam Luise Alfred zuvor. Dieser schnaubte verächtlich. Draußen hatte dichter Nebel die Welt gefressen und drückte sich nun so fest von allen Seiten gegen die Scheiben, als wolle er klarstellen, dass sein Hunger noch lange nicht gestillt war.
„Wer außer Claus würde wohl auf die beschissene Idee kommen, in dieser Einöde eine Ausstellung zu organisieren?“ Angewidert nippte Alfred vom warmen Dosenbier und beobachtete die schwarzen Baumgerippe, die an ihnen vorbeizogen. Der Wald war alt, und der November hatte bereits alles Laub von den Zweigen geholt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wären sie gar nicht erst gekommen. Aber Luise hatte einmal mehr gemeint, sein schlechtes Gewissen spielen zu müssen, indem sie ihn daran erinnerte, dass Claus immerhin sein ältester Freund war, und dass sie seit beinahe fünf Jahren nichts mehr voneinander gehört hatten – seitdem sie gemeinsam die Meisterklasse der Universität für Bildende Kunst in Wien abgeschlossen hatten, um genau zu sein.
„Ich glaube, da vorne ist es schon.“ Luise fuchtelte mit der Hand vor der Windschutzscheibe herum. Es dauerte ein bisschen, aber dann bemerkte Alfred es auch: glimmende Pünktchen tanzten durch die trübe Suppe. Sah nach Feuerstellen aus. Alfred grunzte verächtlich, schämte sich aber gleich darauf für sein abfälliges Verhalten. Luise hatte recht. Claus war sein ältester Freund. Und die angemessene Reaktion auf die Einladung, die vor knapp zwei Wochen mit der Post hereingeflattert war, hätte darin bestehen müssen, freudenstrahlend hier anzutanzen und ihm zu gratulieren, dass es für ihn so blendend zu laufen schien. Dem protzig im Briefkopf abgedruckten Namen nach hatte Claus nämlich das große Los gezogen – Franz Gautsch führte eine der renommiertesten Kunstagenturen Europas.
„Pass doch auf“, fluchte Alfred. Einer der Äste kratze quietschend über die Tür der Beifahrerseite. Luise entschuldigte sich mit einem beiläufigen Schulterzucken. Alfred wünschte, er wäre gefahren, dann wären sie sicher schneller hier gewesen – und damit auch schneller wieder zuhause. Aber dann hätte er sich unterwegs keine drei Bier genehmigen können. Und die hatte es dringend gebraucht, um seine schlechte Laune darin zu ertränken. Er vergönnte Claus wirklich allen Erfolg der Welt, so war es ja nicht. Aber dass sein bester Freund aus Studienzeiten offensichtlich gerade dabei war, das internationale Parkett der Kunstwelt zu betreten, während Alfred es selbst nur zum Kurator eines kleinen Bezirksmuseums in Wiener Neustadt gebracht hatte, nagte an ihm. Dabei hatte immer er als das größte Talent ihres Jahrgangs gegolten, und Claus höchstens als Mittelmaß.
„Schau, da ist Herkules.“ Der Wagen rollte auf eine Lichtung, vielleicht dreißig Meter im Durchmesser. Schwer zu schätzen bei der schwierigen Sicht, auch wenn der Nebel sich hinter den Baumreihen zusehends auflockerte. Mehrere Menschengrüppchen hatten sich um metallene Feuerkörbe versammelt, aus denen hohe Flammen schlugen. Champagnerflöten schwenkend und in formeller Abendkleidung wirkten die Anwesenden seltsam deplatziert. Es mochten vielleicht zwanzig oder dreißig Gäste sein, zwischen denen emsig schwarzlivrierte Kellner mit erhobenen Tabletts hin und her eilten.
„Dort. Siehst du ihn? Das ist er doch, oder?“
„Wer“, fragte Alfred und riss sich von dem anachronistischen Anblick los, dessen Sinnhaftigkeit sein beduselter Kopf noch nicht so recht erfassen wollte. Er folgte Luises Fingerzeig und entdeckte dann, wen sie meinte.
„Verdammte Scheiße, DER hat mir gerade noch gefehlt.“
„Alfred!“, wies ihn Luise mit jenem schrillen Unterton zurecht, der ihm üblicherweise mitteilen sollte, dass er an die Grenzen ihrer Geduld stieß. Alfred konnte es ihr nicht einmal verübeln. Er mochte sich heute ja nicht einmal selbst sonderlich leiden.
Luise lenkte den Wagen zu dem kleinen Platz am Waldrand, an dem auch die übrigen Gäste ihre Fahrzeuge abgestellt hatten. Alfred beobachtete unterdessen den Mann, der an der gegenüberliegenden Seite der Lichtung auf dem Dach eines heruntergekommenen Wohnwagens herumturnte. Jemand hatte in großen grünen Lettern „Perle“ auf die Seite der zerschrammten Karosserie gekrakelt. Der rothaarige Mann obenauf hatte einige Kilos zu viel um die Hüften, und zu wenige Haare auf dem Kopf. Aber die Art und Weise, wie er selbstgefällig zu den Umstehenden predigte, ließ keinen Zweifel daran: es handelte sich tatsächlich um Herkules Bell – oder auch einfach „den Amerikaner“, wie Claus und Alfred ihn immer genannt hatten, wenn sie sich zwischen den Vorlesungen über ihn lustig machten. Luise stellte den Motor ab und stieg aus.
„Vergiss deine Jacke nicht!“, verkündete sie noch, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug. Aus der Heftigkeit, mit der sie das tat, ließ sich unschwer erraten, dass sie von Alfreds Laune die Schnauze ziemlich voll hatte. Alfred stürzte den letzten Rest des schal gewordenen Biers in sich hinein, zerdrückte die Dose und stieg dann ebenfalls aus. Feuchtkühle Luft und der gedämpfte Sermon des Amerikaners schlugen über ihm zusammen und erstickten augenblicklich das angenehm warme Gefühl, in das ihn der Alkoholdunst während der Fahrt gewiegelt hatte. Alfred fröstelte. Achtlos warf er die zerquetschte Dose auf die Fußmatte, schnappte sich seine Jacke vom Rücksitz und stapfte dann lustlos Luise hinterher.
Bereits die ersten Schritte führten ihn in die Fremde. Es fiel ihm auf, wie hoch die spätherbstlichen Baumgerippe waren. Die ausladenden Äste reichten weit über den Waldrand hinaus und bildeten eine offene Kuppel, jenseits welcher nichts existierte außer dem eisgrauen Dunst, aus dem die Welt bereits am anderen Ende der Zeit bestanden haben mochte. Alfred erinnerte sich daran, dass Claus schon zu Studienzeiten von vergangenen Kulturen besessen gewesen war. Ständig hatte er von der Weltreise gesprochen, die er unternehmen würde, wenn er erst einmal den Abschluss in der Tasche hätte. Er wollte nicht eher wieder nach Hause zurückkehren, bevor er nicht zumindest eines der Geheimnisse gelüftet hatte, welche die Kunstgeschichte parat hielt. So hatte jedenfalls der romantische Plan gelautet. Es wunderte Alfred also überhaupt nicht, dass Claus für seine erste große Inszenierung ausgerechnet diese ursprüngliche Kulisse gewählt hatte.
Das Gras, das trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit hoch und üppig auf der Wiese stand, war vom Niederschlag der letzten Tage so nass, dass Alfred bei jedem Schritt spürte, wie sich seine Hosenbeine vollsogen, bis sie ihm unangenehm und schwer von den Knien schlackerten. Alfred blickte sich um. Außer ihm schien sich keiner der übrigen Anwesenden an der herrschenden Witterung zu stören. Obwohl so mancher der Damen die Feuchtigkeit bereits über die Säume des Abendkleids bis hoch zu den Hüften gekrochen sein musste, waren alle angeregt ins Gespräch vertieft. Alfred konnte keine missmutigen Gesichter entdecken. Über der Lichtung lag ein helles Stimmenwirrwarr, das sich mit dem gelegentlichen Klingeln der Gläser und der dumpfen Litanei des Amerikaners zu einer kribbelnden Geräuschkulisse verband, die Alfred unangenehm in den Ohren kitzelte. Plötzlich war da irgendetwas im Nebel. Etwas Riesiges kauerte jenseits der Bäume und beobachtete sie. Alfred stolperte und landete bäuchlings im nassen Gras. Die Welt drehte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Er hatte das kurze aber intensive Gefühl zu ertrinken. Dann wurde er am Kragen gepackt und auf die Knie gezerrt.
„Jetzt reiß dich endlich zusammen, verdammt noch einmal! Was ist denn heute bloß in dich gefahren? Du benimmst dich ja wie ein Kind.“
Alfreds Blick streifte über einen niedrigen Wall, der aus dem hohen Gras blitze. Er war aus rötlichen Steinen errichtet, nur drei Reihen hoch, und reichte ihm kaum bis zu den Waden. Obwohl die benutzen Steine uralt und verwittert aussahen, wirkte der Wall selbst frisch angelegt. Ob er Teil der heutigen Veranstaltung war, ließ sich nicht erkennen.
„Jetzt steh endlich auf, die anderen schauen schon!“ Alfred musterte Luise verdattert, vermied es aber tunlichst, zu den Bäumen hinüberzuschielen. Der Gedanke an die Schemen, die er während seines Falls auszumachen geglaubt hatte, ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Luise hakte sich energisch bei ihm unter und hievte ihn zurück auf die Beine.
„Ist ja schon gut. Ich stehe ja schon wieder“, verkündete Alfred. Die Kälte biss ihm ins Genick und trieb ihm den letzten Rest seines Bierrausches aus dem Leib. Luise schüttelte ungläubig den Kopf.
„Komm“, lenkte sie ein, als sie bemerkte, dass Alfred zu zittern begann. „Wir gehen zu einer der Feuerstellen.“ Dann ließ sie seinen Arm los und stapfte wieder davon, in Richtung der anderen Gäste. Alfred folgte ihr wie ein begossener Pudel.
Zu den Feuerkörben war es nicht weit. Unterwegs pflückte Alfred eine der Champagnerflöten vom freundlich dargebotenen Tablett. Luise ließ ihm einen giftigen Seitenblick zukommen, blieb aber nicht stehen. Alfred war klar, dass er es heute noch übertreiben würde. Er legte es ja auch geradezu darauf an. Er und Luise stritten nicht oft. Es gab normalerweise überhaupt keinen Anlass dafür. In den acht Jahren, die sie schon ein Paar waren, hatten sie bereitwillig gelernt, gegenseitig ihre Grenzen zu respektieren. Aber Alfred reizte es heute, sich ganz bewusst darüber hinwegzusetzen. Es war, als würde er einem Verkehrsunfall beiwohnen, gegen den er nichts unternehmen konnte – oder wollte. Eiserne Stacheln in der Schläfengegend trieben ihn dazu an, Streit zu suchen und so hoffentlich den Frust loszuwerden, der ihn schon seit Tagen peinigte. Das Bier hatte vorübergehend geholfen. Aber während er patschnass und schlotternd an den nobel gekleideten Gästen vorbeistolperte, gedankenverloren vom Champagner nippte, und sich vorkam wie die Hauptfigur eines schlechten Witzes, brodelte kalter Zorn in ihm. Eigentlich konnte er Champagner nicht ausstehen.
Luise musste dann ausgerechnet bei jenem Feuerkorb stehenbleiben, neben dem ein großer, rotgesichtiger Mann im sündteuer wirkenden Frack sich gerade mit einer wunderschönen Dunkelhaarigen im ausladenden opalgrünen Ballkleid unterhielt. Alfred platze endgültig der Kragen. Bei dem Mann handelte es sich um Gautsch, daran gab es keinen Zweifel. Mit seiner fassähnlichen Figur, dem feisten Gesicht und den üppigen grauen Koteletten hätte Alfred ihn überall erkannt. Und auch die Brünette war ihm aus dem Gesellschaftsteil der Zeitungen geläufig; Prinzessin von Irgendwas – von was genau fiel ihm gerade nicht ein.
Luise stellte sich neben Gautsch, drehte sich um und deutete Alfred, sich zu beeilen und ebenfalls ans wärmende Feuer zu treten. Alfred packte sie am Oberarm und zerrte sie grob von der Feuerstelle weg.
„Hier nicht“, zischte er feindselig. Von all den Feuerkörben musste sie sich partout jenen aussuchen, an dem er sich in seinem Aufzug und seiner Verfassung zum größtmöglichen Idioten machen würde.
„Du tust mir weh.“ In Luises Stimme hatte sich die Kälte der Nebelausläufer geschlichen, die sich aus dem Waldrand schlängelten und lauernd im hohen Gras versteckten.
„Weißt du wer das ist?“, schnaubte Alfred, und deutete mit einer knappen Kopfbewegung zu Gautsch, der von der Auseinandersetzung, die sich keine vier Schritte neben ihm abspielte, gottseidank noch nichts mitbekommen zu haben schien. Die Prinzessin von Irgendwas lachte laut auf, Gautsch prustete dröhnend und erinnerte Alfred an ein Walross, das während einer Zirkusvorstellung um Fischköpfe bettelte. Das Gezeter des Amerikaners schwang nervös durch den Hintergrund.
„Du tust mir weh“, wiederholte Luise ruhig, ihre Augen glänzten gläsern. Alfred konnte nicht einschätzen, ob das Funkeln von Tränen oder Zorn herrührte – wahrscheinlich von beidem. Er ließ sie los; vor allem, weil er weiteres Aufsehen vermeiden wollte.
„Weißt du, wer das ist?“ Irritiert stellte Alfred fest, dass sich ihr Gespräch im Kreis bewegte. Dabei wollte er ihr nur sagen, dass er sich für das schämte, was aus ihm geworden war; aus ihm, dem man immer eine glänzende Zukunft als Künstler prophezeit hatte. Wo sollte er die Schuld für sein Versagen suchen, wenn nicht bei sich selbst … und natürlich auch bei Luise. Vor allem bei Luise! Was war die Kunst für sie jemals anderes gewesen als etwas, das man bewunderte, in Museen, in Galerien. Ja, auch in Menschen – aber er hatte seine eigene Kunst verloren, während Luise immer nur in sehr bescheidenem Ausmaß über eigene Kunst verfügt hatte. Ihr war das Schaffen von Kunst scheinbar niemals wichtig gewesen. Ihr hatte es irgendwann einfach gereicht, sich damit zu umgeben. Und dann hatte sie ihn auf den Job im Bezirksmuseum gestoßen. Endstation. Jetzt wollte sie, dass er sich in feuchter Kleidung und zitternd wie ein junger Hund ausgerechnet neben den großen Kunstmäzen in der maßgeschneiderten Abendgarderobe stellte und so tat, als ob ihn das alles nichts anginge. Was, wenn das Gespräch darauf käme, wer er war und was er tat? Was sollte er darauf antworten? „Ich war mit Claus an der Universität! Ich war der Beste unseres Jahrgangs!“ Und dann? Was dann? Verdammt sei Luise! Und verdammt sei auch Claus!
„Natürlich weiß ich, wer das ist“, antwortete Luise nach einer Ewigkeit, in der sie ihn abschätzend gemustert hatte. Tränen perlten inzwischen aus ihren Augenwinkeln. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuwischen. Wahrscheinlich um ihr Make-up nicht zu zerstören. Sie schnappte sich ebenfalls eine der Chamapagnerflöten vom Tablett eines vorbeihuschenden Kellners, zeigte Alfred den Mittelfinger und drehte sich dann wortlos wieder zurück zum Feuerkorb, als sei nichts geschehen. Gautsch zog die Brünette an seinen grobschlächtigen Körper. Die Prinzessin von Irgendwas ließ sich das nur zu gerne gefallen und gackerte wie ein hysterisches Huhn. Alfred wandte sich ab und stapfte zwei Feuerkörbe weiter. Luise würde sich schon wieder einkriegen. Und wenn nicht … naja, sie hatte die Autoschlüssel. Irgendwann müsste sie also so oder so wieder mit ihm sprechen, spätestens wenn es dunkel wurde. Wenn dieses Fiasko seinem Ende entgegenstrebte und die Zeit gekommen wäre, wieder aufzubrechen. Alfred betete, dass das schnell passieren möge, rechnete aber damit, dass Luise ihn aus Rache zappeln lassen würde.
Lesen Sie weiter in „Hinaus durch die zweite Tür“. Die Novelle erscheint am 29. September 2018 und ist ab Mitte August per Subskription zu erwerben.