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Unter den Gräbern, die Gruben

I

Unter den Meistern der Zunft der Buchdrucker gibt es ein Geheimnis, das niemals an einfache Gesellen weitergegeben wird. Sollte einmal ein Geselle seine Oberen dabei beobachten, wie sie dieses Geheimnis zelebrieren, so wird er kurz darauf feststellen, am Ende seines Lebens angekommen zu sein. Ist nämlich erst einmal der Deckel gelüftet, strömen alsbald Teufel aus dem Tiegel und verzehren, wen sie ohne hinreichenden Schutz vorfinden, mit Herz und Verstand. Mag das Geheimnis selbst auch verborgen bleiben – wer würde sich erdreisten, es dem zahlreichen Leser zu offenbaren? – in Verbindung steht es jedenfalls mit jener wunderbaren Eigenschaft des Wortes, Vorstellungen zu evozieren und Gedachtes in eine Art von Fleisch zu kleiden, die es ihm erlaubt, zwischen den Geistern der Lebendigen und der Toten einherzugehen.

Wir betrachten die Werkstatt eines Meisters der Schwarzen Kunst: Karl Bellor ist in seinem fünften Jahrzehnt weit fortgeschritten und beschäftigt zwei Gesellen und einen Lehrling an seiner Maschine. Bellor hat sich auf den Druck von Pamphleten spezialisiert und verdient sein Geld großenteils mit politischen Schriften, die ihm aus verschiedensten Redaktionen und privaten Händen zukommen. Es ist eine bewegte Zeit und der Streit der Meinungen tobt mit Inbrunst, sodass sich in Bellors Taschen Auftrag um Auftrag ein kleines Vermögen zu horten beginnt.

Neben diesen täglichen Geschäften kommt ihm von Zeit zu Zeit die Ehre zu, einer Verpflichtung folgend, Seiten von Grimoiren zu drucken, wie sie Meister jener anderen Schwarzen Kunst zu verfassen pflegen, um ihre Kenntnisse des den Blicken der meisten Menschen Verborgenen zu fixieren. Grimoiren die, in kleinsten Auflagen gefertigt, durch ausgesuchte Hände gehen, in denen Flüsterworte und Inkantationen ihr kodiertes Wesen manifestieren und die, wenn sie nicht an einem frühen Ende ihrer Existenz auf Scheiterhaufen landen, vielleicht dereinst, Jahrhunderte vom Jetzt entfernt, in den Regalen privater Sammler der Zeugnisse okkulter Wissenschaften zueinanderfinden und sich von Seite zu Seite, von Buch zu Buch Geheimnisse zuraunen, zu deren Entdeckung arge Stunden der Erforschung fremder Sphären geführt haben.

An diesem Tag bekommt Bellor Besuch von einem Mann, dessen Haltung aristokratisch, dessen Blick stechend wie der eines Adlers ist. Groß, hager, knochig, mit hoher, bleicher Stirn und langem, schwarzen Haar, gekleidet in einen dunklen Rock. Er trägt einen Stock bei sich, dessen Knauf aus Silber einen Panther darstellt und den er, vor Bellor Aufstellung nehmend, mit einem deutlich vernehmbaren TOCK auf den Boden der Werkstatt stößt. Bellor, im ledernen Kittel und mit hochgekrempelten Ärmeln, neigt den Kopf zum Gruß, bietet dem Gast, der größer ist als er, Aussicht auf seine von Farbe geschwärzte Glatze und spricht mit Worten, die zu sehr dem Unhörbaren angehören, um von den beistehenden Gesellen verstanden zu werden. Der Gast zieht unter dem Rock ein in Leder geschlagenes Manuskript hervor, überreicht es und legt einen ansehnlichen Stapel Silbermünzen obenauf, den er in einer Schoßtasche bereitgehalten hat. Das Treffen ist schon zu Ende, kaum dass es begonnen hat und der Gast verlässt den Ort schreitend, als vermesse er, indem er sie durchwandert, mit seinen Beinen die Welt.

II

Der Stapel bedruckten Papiers, den der Besucher eine Woche darauf bei Meister Bellor abholte, war wie zuvor das Manuskript in Leder geschlagen. Von dem Original war bei diesem zweiten Treffen nicht die Rede, schließlich wusste der Auftraggeber, dass es im Laufe der Herstellung des Drucks sich Wort um Wort und Zeile um Zeile aufgelöst und seine Seele zuerst in die bleiernen Lettern, dann über sie in die Druckerschwärze und mit ihnen auf die Fahne versetzt hatte. Am Ende dieses alchymischen Prozesses hatte die Seele des Geschriebenen die Form gewandelt, hatte neues Fleisch gewonnen und mit ihm ein größeres Stück Wirklichkeit. Es verschwand in einer großen Tasche und brütete auf dem Weg, den der Kunde ging, in einem fort, schwelte und flüsterte. Machtvoll und machtlos zugleich war es, gekettet wie ein Kampfhund, bevor sein Herr ihn in die Arena entlässt, um für ihn Blut zu vergießen.

Hätte es sich bei dem Werk um eine Abenteuererzählung, einen Reisebericht, eine gelehrte Abhandlung oder um ausgesuchte Lyrik gehandelt, wäre das nächste Ziel seiner Reise wohl ein Buchbinder gewesen, der das edle Papier in Seiten geschnitten und in weiches Schweinsleder gebunden haben würde, mit Vorblatt und Goldschnitt hätte es alsdann den Weg in die private Bibliothek des Auftraggebers oder in die seines privaten Herrenclubs gefunden. Nicht so in diesem Fall. Die Druckfahne, wie sie war, wurde von ihrem Besitzer über die Schwelle eines Friedhofs getragen, außerhalb der Stadt, außerhalb der Blicke der Lebenden, dort wo nur Krähen die Nacht beäugten, denn es war bereits Nacht geworden als der Herr in seiner Kutsche den Ort erreichte. Der Himmel war sternlos, der schweren Rauchwolken wegen, die aus hohen Schornsteinen wehten, die in weitem Umkreis die Szene einrahmten, denn der Friedhof gehörte zu einem Gebiet der Stahlindustrie sowie des Untertagebaus.

Sich den Friedhof als ein Feld einzelner Gräber mit Marksteinen vorzustellen, würde in die Irre führen. Hier waren Reihen langgezogener Erhebungen zu finden, jede davon zwanzig Meter lang, zwölf davon und jede angefüllt mit mehr als fünfzig Leichen, die nach Grubenunglücken aus den Tiefen geborgen worden waren. Im Leben waren all die Männer, die hier verscharrt lagen, schwarz gewesen, nicht nur von Kohlestaub, sondern von Natur aus. Alle waren an Ketten gelegt, während der gefährlichen Arbeit in den Stollen und hatten darum nicht das Weite suchen können als die Stollen einstürzten. Kein Weg führte in die Freiheit, wenn Eisen einen an Ort und Stelle hielt.

Der Untertagebau selbst verschlang große Mengen der Kohle, die er zu Tage förderte, große Maschinen hoben Tonnen über Tonnen aus dem Dunklen Reich ans Licht der Oberwelt, nachdem die Arbeiter sie Zentner für Zentner aus den tausend Verästelungen der unterirdischen Gänge schlugen und in Loren zum Hauptschacht im Herzen der Anlage schoben. Das geförderte Schwarz wanderte daraufhin auf berghohe Haufen, von wo es wieder lorenweise abtransportiert und in die Feuerschlünde der Industrieanlagen geschüttet wurde. Die Stahlherstellung verschlang jeden Tag tausende Tonnen. Das schlagende Herz der Industrie durfte niemals ohne Brennstoff sein und hätte man aus den schwarzen Leibern der Toten Kraft ziehen können, so hätte man auch sie verbrannt.

III

Unser Herr hatte etwas anderes im Sinn. Nach einer langen Reihe schwerer Unglücke, unglücklich sowohl für die Arbeiter, die bei ihnen ums Leben kamen, als auch für die Herren des Stahls und der Kohle, die darum Produktions- und Verdienstausfälle zu beklagen hatten, herrschte in dem Moloch aus Eisen und zu Tage geförderter Dunkelheit großer Mangel an Arbeitern und dieser musste so schnell wie nur irgend möglich behoben werden. Der Herr also begab sich zwischen nächtlichen Schatten in die Mitte der Toten, zwischen die langen Gräber und legte sein Machwerk auf die Erde, entzündete eine Reihe schwarzer Kerzen, die er in einem Kreis um das Bündel aufstellte, faltete alsdann kniend den Lederumschlag auseinander. Im Kerzenschein leuchtete das schwere Papier golden, schluckten die gedruckten Buchstaben darauf das Licht, wie finstere Gruben und zeichnete sich im Zusammenspiel beider der Sinn der geschriebenen Worte.

Seine Hand erfasste das obere Ende der Fahne, er hob es an und begann laut vorzulesen. Satz um Satz rollte in seiner das Gebieten gewohnten Stimme, er stand dabei auf, half dem Papier mit wechselnden Händen voran, streckte dabei die jeweils freigewordene majestätisch über die Gräber hin, erhob seine Stimme, ließ sie dringlich und befehlend werden. Am Ende der Fahne angekommen gipfelte seine Intonation in donnernden Worten, schnitt er am Rande des letzten Abschnitts den Daumen seiner rechten Hand und ließ nachtdunkles Blut unter die letzten Worte tropfen.

Dann ließ er Papier und Hände sinken und horchte in die Nacht hinein.

IV

In den Gräbern über den Gruben regten sich die Gebeine. Moderndes Fleisch und längst vertrocknete Knochen gehorchten dem Befehl ihres Meisters.

Eine höhere Macht als das bloße Wort ist das Geschriebene und mächtiger noch als das bloß geschriebene Wort ist das, das gedruckt steht. Ein Vertrag ist ein Vertrag. Wenn der Meister zur Arbeit ruft, gilt kein anderes Gesetz, auch nicht, dass Totes in Frieden ruhen soll.

In der Erde wanden sich stöhnend die Kadaver und gehorchten. Sie wandten sich hinab und stiegen aus den Gräbern hinunter in die Gruben, gebunden an Ketten aus Worten und kehrten zurück zu ihrer Arbeit unter Tage.


(c) Tobias Reckermann, 2014