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Warnruf des Kleibers (eine Stilübung)

… So spät im Herbst nistete im Marillengarten meiner Großmutter bereits der Winter zwischen den weitestgehend entlaubten Zweigen. Ich war wie stets zu dieser Jahreszeit das letzte Kind am Hof; das einzige der Enkelkinder, das liebend gerne über das Ende der warmen Tage hinaus geblieben war. Um ehrlich zu sein, wusste ich schon in jungen Jahren den diesigen Mantel der Schweigsamkeit, der sich ab September friedlich über das Bauerngut breitete, mehr zu schätzen, als die fidele, menschengefüllte Betriebsamkeit der Sommertage. Und wenn der Junge ohne Gesicht hätte sprechen können, hätte er mir gewiss zugestimmt. So kniete er bloß stumm am anderen Ende des Baumhauses, wendete mir seinen kahlen Hinterkopf zu, und trieb mit regelmäßigen, präzisen Hammerschlägen den Nagel in das Brett, das die morsch gewordene Kante ersetzen sollte, genauso wie ich es ihm gezeigt hatte. Aber auch das wertete ich als Zustimmung; überhaupt schienen wir uns in vielen Dingen einig zu sein, ohne uns groß darüber unterhalten zu müssen. Dabei kannten wir uns noch gar nicht so lange. Gestern noch war er bloß ein Schatten am nahen Waldrand gewesen, den ich irgendwann aus den Augenwinkeln entdeckt hatte. Erst, als ich mich daraufhin suchend umblickte, entdeckte ich den Jungen bewegungslos neben einem Baumstamm stehen. Zuerst war ich ja davon überzeugt, er wende mir seinen Rücken zu, bis ich feststellen musste, dass das völliger Unfug war. Die großen Knöpfe seiner Jacke – ein Kleidungsstück aus der zurückgelassenen Wintergarderobe meines abgereisten Cousins, wie ich zu erkennen glaubte – konnte ich ja sehen, sie saßen mir zugewandt am Gewand, genau da, wo sie hingehörten, nur sein Gesicht war … nun, er hatte einfach keines. Wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war das auch gar nichts Besonderes mehr.

„Gib mir den bitte mal“, hieß ich ihn und schalt mich sofort einen Idioten. Ohne Ohren konnte er mich natürlich nicht hören, es wäre echt an der Zeit gewesen, mir das endlich zu merken. Ich legte meine Hand auf seine Schulter, und der Junge hielt augenblicklich inne. Ich beugte mich vor und nahm ihm den Hammer aus der Hand, dabei ließ ich wie mesmerisiert meine Finger über seinen Handrücken gleiten. Obwohl seine Haut beinahe porenlos glatt wirkte, fühlte sie sich unter meinen Fingerkuppen trocken und rau an, wie die Schuppen einer Schlange. Ich dachte nicht weiter darüber nach; irgendwann würde er mir schon verraten, woran das liege. Ich wollte ihn nicht vergraulen, indem ich ihn von Beginn an mit meinen neugierigen Fragen bedrängte, obwohl mich inzwischen durchaus dutzende davon plagten.

„Kriegst ihn gleich wieder. Muss nur kurz was festmachen.“

Aufkommender Wind strich mir kühl durchs Haar, als ich mich wieder dem neuen Stützbalken zuwendete, den ich sicherheitshalber an der ursprünglichen Konstruktion des alten Baumhauses anzubringen gedachte – es handelte sich dabei um ein abgelegtes Stück Sperrholz vom Holzschnittlager an der rückwärtigen Schuppenwand; also jene Art von Baumaterial, das zu verwenden mir erlaubt war, ohne eigens deswegen bei meiner Großmutter nachzufragen. Ich befand mich bereits seit dem frühen Nachmittag im Marillengarten, der Junge ohne Gesicht war irgendwann ohne großes Gebaren aus dem Wald getreten und dazugestoßen, seitdem unterstütze er mich tatkräftig bei der Werkelei. Die Arbeit hatte mich ins Schwitzen gebracht, und irgendwo in den Bäumen des Marillengartens pfiff ein Kleiber saisonvergessen sein helles ,Wi wi wi´. Hätte ich den kleinen farbenfrohen Piepmatz nicht vorher auf einem der feuchtbraunen Äste erspäht, hätte ich den Gesang wohl nicht zuordnen können. Aber mit seinem Bäuchlein in der Farbe von reifen Marillen war mir der Vogelname im Gedächtnis geblieben, seitdem ihn mir meine Großmutter vor einigen Jahren verraten hat.

„Halt mal“, hieß ich den Jungen ohne Gesicht, nur um gleich darauf lautstark zu seufzen. Ich hatte es schon wieder getan! Ergeben ließ ich den Hammer sinken, trat auf meinen neugewonnen Freund zu und legte ihm die Hand auf die Schulter, auf dass er verstünde. Unter dem gefütterten Stoff ertasteten meine Finger das verheißungsvolle Räkeln von etwas, das mehr als bloßes Fleisch und Muskeln war. Der konturlose Schädel des Jungen wendete sich mir zu; das Schlängeln unter meinem Handballen setzte sich pulsierend nach oben fort und wölbte fragend die Haut an seinen bleichen Schläfen.

„Hier. Komm mit, ich zeige dir, wo du stehen sollst.“ Wohlwollend schob ich den gesichtslosen Jungen an den ihm angedachten Platz, von wo aus er mich stützen sollte, während ich in einem nicht ungefährlichen Balanceakt meinen Körperschwerpunkt weit über das Geländer hinaus verlagern musste, um so an das äußerste Stück des Balkens zu gelangen. Seine Hände in meinen stieg ich auf den kleinen Schemel, und führte aus der erhabenen Position dann seine Arme um meine Oberschenkel. Augenblicklich klammerte er sich fest an mich und legte zuneigungsvoll seinen Kopf in meinen Schoß. Ich spürte, wie etwas unter seiner Haut sich fest um meine Beine schlang, sodass ich mich ohne Bedenken so weit nach hinten lehnen konnte, wie es erforderlich war.

Ich hob den Hammer hoch, streckte die Arme aus, und im selben Moment, als ich den Nagel ans Holz setzte, sprang der Kleiber pfeifend jenen Ast entlang, an dem ich zugange war. „Wi wi wi, Wi wi wi“, sang er aufgeregt, und ich nahm plötzlich Schatten aus meinen Augenwinkeln wahr.

„Lass jetzt bloß nicht los“, murmelte ich – dieses Mal eher zu mir selbst als zu dem gesichtslosen Jungen –, und den Nagel fest gegen das Brett drückend, lehnte ich mich weiter zurück, um am benachbarten Marillenbaum vorbei zum Waldrand lugen zu können. Mehrere der gesichtslosen Wesen waren hinter den Stämmen  hervorgetreten, und standen nun – so wie der Junge tags zuvor – regungslos keine zwei Schritte von dem Feldweg entfernt, der den Hof begrenzte.

Durch die offene Hintertür des Schuppens, durch die ich vor mehreren Stunden den Marillengarten betreten hatten, wehte die ferne Stimme meiner Großmutter zu mir. Sie rief zum Abendessen, ich hatte über der Arbeit gar nicht gemerkt, wie viel Zeit bereits vergangen sein musste.

Die gesichtslosen Wesen setzten sich unversehens in Bewegung, auf die Schnelle überschlug ich ihre Zahl, und kam auf ebenso viele entgegenkommende Gestalten wie wir im Sommer Cousins und Cousinen am Hof waren; sie alle trugen Kleidungsstücke, die ich nur allzugut kannte, die ich bereits oft gesehen hatte, an unseren eigenen Leibern.

„Du kannst jetzt loslassen“, flüsterte ich. Plötzlich war mir die Angelegenheit doch ziemlich unheimlich. Ein hilfsbereiter, gesichtsloser Freund war die eine Sache, bei der ich mir – froh über ein bisschen Gesellschaft – nicht allzu viel gedacht hatte, jedoch gleich eine ganze Sippe von ihnen war nun doch zu viel für mich. Aber anstatt seinen Griff zu lockern und mich vom Schemel hinabsteigen zu lassen, zog sich das Pulsen und Winden unter der Haut des Jungen noch fester um mich, hielt mich an Ort und Stelle, während die anderen, die so waren wie er, inzwischen den Marillengarten erreichten, ihn ohne zu zögern betraten und sich schnurstracks auf den Weg zum Baumhaus machten. Erneut erklang die ferne Stimme meiner Großmutter durch die aufstehende Hintertür, die mich zum Essen rief. „Wi wi wi“, trillerte der Kleiber aufgeregt und flog auf. „Wi wi wi“.

Die erste gesichtslose Gestalt betrat die Leiter, die hoch ins Baumhaus führte; aus der Nähe erkannte ich an ihr meine eigene abgelegte Winterjacke von vorigem Jahr, die mir inzwischen zu klein geworden war. Kurz war mir so, als würde das sich windende Ding unter der Haut des Schädels versuchen, ein mir nur allzu vertrautes Gesicht zu formen, als er sich durch die Einstiegsluke im Boden des Baumhauses schob. Eine jähe Böe warf knallend die Hintertür des Schuppens zu. Falls meine Großmutter abermals nach mir riefe, würde ich sie nicht mehr hören können. Ich war nun gänzlich auf mich gestellt …