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Leseprobe 4: Felix Woitkowski

Auszug aus Die Tränen der Welt von Felix Woitkowski

Sahr war einen Tag gelaufen ohne Rast, und ohne einer Menschenseele zu begegnen, als sie ein Feuer erreichte und überraschend herzlich willkommen geheißen wurde. Ein Wanderer holte in einem großen Krug Wasser herbei, ein anderer gab so viele Trockenfrüchte, dass die kleine Runde aus voller Hand schmausen konnte. »Woher kommt ihr?« Das fragte sie, um nicht schweigen zu müssen, nicht denken und nicht fühlen. Jede und jeder, die mit ihr in die Flammen starrten und für einen Moment der Dämmerung die Dunkelheit vergaßen, sollte antworten. Die Worte, die sie wählten, waren so unterschiedlich wie ihre zerfurchten Mienen. Doch das genügte ihr nicht, die Stille graute: »Warum habt ihr euch auf den Weg gemacht? Warum habt ihr die Heimat verlassen?«

»Die Welt ist aus den Fugen geraten«, erklärte ein Mann, in dessen Armen ein Mädchen schlief.

»Deine Tochter?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Vor zwei Tagen habe ich sie aufgelesen. Sie war ganz allein.«

Von der anderen Seite des Feuers hakte sich eine Alte ein: »Wenn selbst die Kinder zusammen kommen …« Kurz summte sie drei Töne. »Man sollte das Volk wieder zählen lassen. Jeden an dem Ort, an dem schon seine Eltern geboren waren und seine Großeltern. Daraus ist schon einmal Gutes entstanden. Das kann auch wieder geschehen.«

Ein Raunen ging durch die Runde. Die Menschen nickten zustimmend.

»Ist das dein Ziel?«, fragte Sahr über den Lichtschein hinweg. »Der Ort deiner Ahnen?«

»Das ist es ja. Dieser verdammte Spalt, mein großes Unglück. Dachte ich doch, ich könnte dort mein ganzes Leben verbringen, und jetzt ist er ebenso zu Asche und Staub geworden, wie ich selbst es bald sein werde. Nun suche ich meinen Platz in der Welt.«

Die Rastenden schauten einander an, als wisse niemand, was er darauf antworten sollte. Da begann die Alte aus einer Zeit zu erzählen, in der es den Menschen ebenso ergangen war wie in diesen Tagen. Alle kannten die Legende vom großen Krieg und der Verwüstung, von nicht enden wollenden Wintern und der Folge aus Sommern, in denen der spärliche Regen salzig schmeckte. Doch alle lauschten der greisen Stimme so gebannt und voller Hoffnung, als hörten sie davon zum ersten Mal. Denn als die Pflanzen versteinerten, die Tiere fortzogen, alle Freundschaft längst vergessen war, da drohte die Welt schon einmal auseinanderzubrechen. Dazu kam es jedoch nicht, denn sie alle wurden gerettet. Die Hilfe kam aus den Schluchten der Gebirge. Erst nicht mehr als ein Gerücht, doch dann mit der Gewalt eines ganzen Heeres schlug er den Feind nieder und brachte den kargen Landen einen neuen Frühling. Wohin er auch kam, wohin er auch schlug, da brachte er den Schlechten den Tod und den Gerechten das Leben. Johach. Es war das erste der drei Mal gewesen, dass er sich gezeigt hatte.

Als Sahr sich später niederlegte, träumte sie von dem Teil der Legende, den die Alte ausgelassen hatte, den nur die Werker kannten. Von ihrer Rolle in dem Spiel, von ihrem Werk, das den Helden zwar nicht hervorgebracht, aber seine Macht doch erst geschaffen hatte. Und in ihrem Traum strahlte der blaue Anhänger, den sie stets an ihrer Kette trug, so hell wie ein Stern und ihm taten es hunderte gleich.