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Mehr als nur phantastisch ‐ im Dialog mit Frank Duwald und Michael Perkampus (Teil2)

Fortsetzung des Gesprächs (Teil eins findet Ihr hier):

ERA: Die Miskatonic Avenue, das ist durchaus ein Projekt das aufhorchen lässt. Wir haben ja heute das Glück, dass der Vater dieser ambitionierten Reihe mit uns am Tisch sitzt um über genau dieses Thema zu sprechen: Phantastik quo vadis? Michael hat ja vorhin schon eingebracht, dass es zu einer Stärkung des Genres unbedingt Einigkeit und Zusammenarbeit braucht. Das PAN fällt mir dazu sofort ein – das Phantastik-Autoren-Netzwerk, das sich das hehre Ziel gesetzt hat, das hiesige Ansehen der Phantastik zu mehren. Der Vincent-Preis wäre da noch zu nennen, der sich ja selbiges Ziel auserkoren hat. Oder auch Publikationen wie das „Zwielicht“ und das „IF – Magazin für Anspruchsvolle Fantastik“ beziehungsweise das „Visionarium“ – derzeit ja bedauerlicherweise auf Hiatus. Also, es gibt doch das eine oder andere Werkzeug, das man zu diesem Zwecke bereits geschaffen hat. Und dann wären da natürlich noch Seiten wie das Phantastikon und dandelion/ abseitige Literatur, Eure beiden Heimstätten, wenn ich das so nennen darf, mit denen ihr ja auch ganz gezielt auf Tauchgang geht, um den unbeachteten Perlen der phantastischen Literatur dazu zu verhelfen, mehr Leuten ihren Glanz näherzubringen. Es würde mich freuen, wenn Ihr mir ein bisschen über Eure Projekte erzählt: was treibt Euch an, nach welchen Kriterien geht ihr vor, welche Autoren und Autorinnen liegen Euch besonders am Herzen – gerne auch mit Nennung heimischen Nachwuchses, von dem ihr vielleicht hofft, dass er dem deutschsprachigen Markt neues Leben einzuhauchen weiß. Wo würdet Ihr Euch mit Euren Anliegen gerne selber in – sagen wir einmal fünf Jahren – sehen? Könntet Ihr Euch vielleicht sogar vorstellen, dass ebendieser vorhin angesprochene Kleinverlag mit entsprechenden Ressourcen und dem benötigten Verbesserungswillen noch kommt? Dass vielleicht sogar Golkonda mit dem Europa-Verlag im Rücken zum Heiland der abseitigen Literatur ersteht?

 

MP: Ich bin, was die Miskatonic Avenue betrifft, guter Dinge, weiß aber, dass sie sich zunächst einmal nur einreiht in großartige Anthologien. Gerade zu Beginn ist das alles gar nicht so leicht einzuschätzen, so ein richtiger Verlag sind wir ja noch nicht – und ob wir das werden können und wollen, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Vorteil ist, dass ich übersetze und einen guten Draht zu einigen amerikanischen Autoren habe. Da könnte durchaus was entstehen. Andererseits wollte ich die MA ja nur herausgeben und nicht verlegen, aber es fand sich kein Verlag. Wir haben sozusagen aus einer negativen Erfahrung erst mal einen positiven Schritt gemacht. Freilich bin ich nicht der Typ, der eine Anthologie herausbringt und sich dann wieder zurücklehnt. Es existieren bereits handfeste Pläne, wie es weitergehen kann, wir sind sozusagen in einer entscheidenden Phase. Darauf verwende ich gerade meine Tage und Nächte – wenn ich nicht gerade etwas für das Phantastikon schreibe. Und dort musste ich ja schon Abstriche machen, weil auch eigene Texte fertig werden müssen, die ich aber wiederum mehr mit der MA verbinde.

Golkonda hat mir immer gut gefallen und soweit ich das sehe, redet Europa ihnen das Konzept nicht kaputt. Das war ja zunächst meine Befürchtung. Die ultimative (und längst überfällige) Lovecraft-Biographie von Joshi ist ein verlagstechnischer Hammer; wie Frank sagt: da sitzen ein paar kluge und leidenschaftliche Köpfe. Ansonsten ist der Name Festa gefallen. Ich halte viel von Frank Festa, schließlich war er der Initiator der Edition Metzengerstein. Jetzt geht es tatsächlich ums Überleben. Seine Bibliothek des Schreckens gibt es immer noch, obwohl sie bereits ein paar Mal auf der Kippe stand. Zum Rest aus diesem Hause schweige ich lieber. Das zeigt aber eins: selbst ein bekannter und leidenschaftlicher Verleger wie Frank Festa konnte dem gemeinen Leser weder die Edition Metzengerstein, noch die Bibliothek des Schreckens schmackhaft machen. Ich finde es auch gar nicht schlimm, dass wir eine Kleinverlag- und Privatdruck-Szene sind. Das liegt in der Natur der Sache und ermöglicht uns viel untereinander. Wenn es dieses Miteinander denn auch gäbe. Da wäre ich fast wieder bei meinem Eingangspunkt: der Splitterszene.

 

ERA: Was bräuchtest Du, um mit Deinen eigenen Anliegen Erfolg zu haben. Woran würdest Du diesen überhaupt messen und was würdest Du gerne davon an die Szene weitergeben, um diese zu beleben. Also wenn Du zu träumen beginnst, wo siehst Du Dich dann idealerweise mit Deinen Unterfangen in fünf Jahren?

 

MP: Eins muss klar sein: Ich und Albera Anders – wir stecken so viel Energie in das Projekt, da kann es keine andere Antwort geben, als dass es sich um eine Verrücktheit von uns handelt, um allen Phantasten etwas zu geben. Ich kann nicht anders als immer weiter zu machen. Erfolg ist mir in erster Linie Wertschätzung, und das ist heute ja nicht mehr selbstverständlich. Ich kenne niemanden, der so viel Lebenskraft investiert, was aber auch daran liegt, dass ich es kann, weil ich aufgrund einer Krankheit in einer Art Vorruhestand  bin, ich kann kaum das Haus verlassen. Die Literatur ist die einzige Therapie, die anschlägt, also bin ich sozusagen in meinem Garten Eden. Was ich bräuchte: mehr Mut und Visionen der Kreativen. Wir haben in unseren Reihen so viel Potential, das könnten wir – und der Vincent Preis ist ja schon so eine Sache – nutzen. Jene, denen es um Geld geht, die werden früher oder später ohnehin in einen anderen Markt gespült werden. In fünf Jahren … eine wahnsinnige Spanne. Ich plane ja kaum für das nächste Jahr. Aber wenn alles gut geht, feuert das Phantastikon noch aus allen Rohren, die Miskatonic Avenue hat zwei Lektoren und wir können die gesammelten Werke von Ligotti, Angerhuber und Pugmire herausgeben, oder: die MA wird von einem Verlag betreut

 

ERA: Na, das ist ja schon einmal was. Mehr sogar – das ist Einiges. Ich komme gleich noch einmal zu Deinen ehrgeizigen Plänen, für die ich Dir von ganzem Herzen wünschen, dass sie genau so eintreten wie Du das gerne hättest. Aber vorher noch zurück zu Frank, dem ich gerne die gleichen Fragen stellen möchte: dandelion – abseitige Literatur, was bedeutet das für Dich und Dein Leben, was würdest Du der Welt der Phantastik gerne zurückgeben damit? Was liegt Dir dabei besonders am Herzen?

 

FD: Wenn ich in mein Herz horche (und ich brauche nicht lange horchen), dann steht mir persönlich ein Projekt wie MA um ein Vielfaches näher als die kommerzielle Verlagsszene. Wenn ich irgendetwas durch dandelion über die Jahre gelernt habe, dann ist es, nicht dem Erfolg hinterherzulaufen, sondern einfach sein Ding durchzuziehen, so gut man es eben kann. Man muss nur immer dran bleiben, sich nie verzetteln, Kontinuität zeigen, auch wenn sie langsam vonstatten geht. Wenn man dann wirklich begeisterte Reaktionen bekommt, auch wenn es nicht viele sind, dann ist das einfach für mein Glücksempfinden sehr viel mehr wert als eine hohe aber anonyme Leserzahl, von der ich nicht weiß, ob sie nur geklickt haben oder tatsächlich die Texte gelesen haben, geschweige denn, ob sie es überhaupt gut finden. Erfolgszahlen sind etwas für wirtschaftliche Unternehmen, aber bei uns geht es um mehr, um existentielle Leidenschaft. In fünf Jahren sehe ich dandelion an keiner anderen Stelle als heute. Ich möchte einer relativ kleinen aber sehr anspruchsvollen und intelligenten Gruppe von Lesern abseitige Bücher vorstellen, die die meisten nicht kennen, die aber deshalb nicht schlechter (eher besser) sind als die ewig durchgenudelten Kanon-Kandidaten. Daher denke ich, dass dandelion mich sanft mein Leben lang begleiten wird, in der Hoffnung, dass meine Leser mir folgen werden und bereit sind weiterhin vergrabene Perlen zu finden.
Ich glaube, dass nur mit dieser Einstellung (nicht den Riesenerfolg zu erwarten) ein Verlagsprojekt wie MA letztlich in seinem Rahmen erfolgreich sein wird.
Deshalb bin ich auch fest davon überzeugt, dass du, Michael, zusammen mit Albera, eine Schlüsselfigur für die Phantastik werden könntest, denn, du hast recht, du bist wirklich völlig verrückt.

 

MP: Wow, Frank, das berührt mich jetzt.

 

ERA: Meine lieben Freunde der wertvollen literarischen Träumereien, in diesem erhebenden und berührenden Moment der Offenheit und erstrebenswerten Zukunftsvisionen, führt mich das direkt zu meiner nächsten Frage: Ihr beide seid ja auch selbst Geschichtenerzähler. Von Dir, Michael, weiß ich, dass Dein „Schwarzenhammer-Zyklus“ sich in der Fertigstellung befindet und Du, Frank, hast eine fertige Geschichten-Sammlung zur Veröffentlichung bereitstehen. Kommen wir also dazu, dass ich Euch zum Ensemble auf die Bühne bitten darf, wenn ich Euch die Frage stelle: wohin wollt Ihr mit Euren eigenen Geschichten? Welche Länder wollt Ihr Euren Lesern und Leserinnen zeigen, in welche Winkel wollt Ihr sie entführen, womit wollt ihr sie überraschen und was plant Ihr selber beizutragen, um das Genre reicher zu machen?

 

MP: Oh. Das ist eine interessante Frage. Ich bin ja seit 30 Jahren Schriftsteller und komme aus der der progressiven Literatur (ausgehend von Schlegels Begriff der „progressiven Universalpoesie“). Das muss ich vorher sagen, weil das in unseren Kreisen gar nicht so bekannt ist. Und das führt bei meinen Geschichten zu einer merkwürdigen Tendenz, die eigentlich keiner Strömung angehört. Am ehesten gehöre ich zu Postmoderne und bin interessiert an komplexen, tiefenpsychologischen Systemen und Symbolen. In meinem „Schwarzenhammer-Zyklus“ geht es primär um ein Dorf im Fichtelgebirge, in dem ich aufgewachsen bin. Zu sagen, dort gäbe es urbane Legenden und alte Sagen, würde zu kurz greifen. Ich gebe jedem Haus, jedem Stein und jedem Keller dort einen unheimlichen Anklang, transportiere die Phantastik oder den Horror aber über eine subtile, surreale oder sprachliche Ebene. Das mag sich für manche anstrengend anhören. Kurz gesagt geht es, da alle Geschichten miteinander verbunden sind, kann ich das als Zusammenfassung so sagen, um ein mystisches Dorf und eine mystische Stadt, Raha genannt. Um diesen Gegensatz und um den Gegensatz Traum und Realität, Freundschaft und Verlust. Und um das Rätselhafte in allem, das uns umgibt. Kürzer kann ich es nicht ausdrücken.

 

FD: Das hört sich extrem interessant an. Wurde davon schon etwas veröffentlicht, Michael?

 

MP:  Im IF #666 ist „Dorothea“ enthalten.

 

FD: Ich fühle mich seit 30 Jahren als Schriftsteller, habe aber nur sehr wenig wirklich fertig bekommen, und das sind im Kern die Geschichten in dem anstehenden Sammelband „Die grünen Frauen“. Mein Thema ist die Sehnsucht: Sehnsucht, einem leeren Leben zu entfliehen, Sehnsucht nach Stille, nach Land und Natur, nach einer nicht ganz diesseitigen Frau. Das Übernatürliche ist bei mir gewöhnlich nicht böse, aber es reißt die Protagonisten aus ihren vertrauten Welten, weswegen sie aber alles andere als traurig sind, da sie durchweg Eskapisten sind. Nachdem ich jetzt einige Zeit für meine Verhältnisse recht konzentriert an dem Erzählungsband gearbeitet habe, würde ich das Schreiben von Fiction eigentlich gern intensivieren.

 

ERA: Welche Schriftsteller und Bücher würdet Ihr als die wichtigsten Einflüsse dafür nennen, wie Ihr heutzutage Eure Geschichten verfasst, und warum gerade diese?

 

MP: Zu Beginn, also wenn man noch sehr jung ist, ahmt man alles nach, was einem zwischen die Hände kommt, weil eben alles besser ist als man selbst – zumindest war das zu meiner Zeit noch so. Ich habe mit meinen ersten Geschichten, so um 82 herum, versucht, Edgar Allen Poes Ton halbwegs zu treffen, aber ich hatte natürlich keinen hinlänglichen Wortschatz. Dann kam Kafka – das war fast noch schwieriger, obwohl er viel klarer schrieb. Irgendwann hatte ich es satt und kümmerte mich erst einmal um meine Sprachbegabung. Dazu muss man sich einerseits tief in die Lyrik und Linguistik vertiefen, andererseits so viele Klassiker lesen, wie man vermöge ist. Aber ich will und soll ja hier nicht von meinem Werdegang berichten, entschuldige… Ein wahres Erweckungserlebnis hatte ich, als der Surrealismus in mein Leben trat, das hat mein Leben grundlegend verändert. Heute wissen die wenigsten, dass diese Strömung eine Revolution der Sprache war und erst einmal nichts mit Bildern zu tun hatte. Ich glaube, das hat meinen Sinn, das Unmögliche darzustellen, sehr verfeinert. Heute würde ich aber trotzdem behaupten, dass die Romantik den größten Einfluss auf mich ausübt, im Verbund mit dem Magischen Realismus. Autoren, die direkt auf mich einwirken, gibt es eigentlich nicht, ich schreibe einen völlig eigenen Stil. Aber du willst ja bestimmt den einen oder anderen Namen von mir hören. Julio Cortázar natürlich. Thomas Ligotti ist ja kein Geheimnis. Sprachlich E. T. A. Hoffmann und Jean Paul. Von den neueren Autoren Roberto Bolano und Nona Fernandez. Von den Horrorautoren halte ich Peter Straub für absolut unterschätzt. Und in der Fantasy fand ich (neben dem göttlichen Steven Erikson) Robin Hobb grandios, auch wenn ich nie so etwas schreiben würde. Ah… und einen habe ich noch: Tabucchi und sein „Indisches Nachtstück“. Ein kleines Büchlein, das auf den ersten Blick gar nicht viel hermacht. Da zeigt sich meine Vorliebe für sinnlose Reisen, unmögliche Reisen, das Herumirren in einer für immer unfassbaren Welt. Das ist nun einmal mein Thema.

 

ERA: Aber genau um Deinen Werdegang geht es hier, Michael. Mich interessiert das auf jeden Fall, und ich bin überzeugt, viele junge – aber nicht nur – Autoren und Autorinnen da draußen auch.

Ich kenne das natürlich gut, das mit dem nachahmen zu Beginn. Bei mir war es ganz am Anfang Wolfgang Hohlbein, dann natürlich ebenfalls Franz Kafka, irgendwann Karl Edward Wagner (was habe ich ihn geliebt), ehe ich mich dann auf meine ersten eigenen Entdeckungsreisen in die Sprachen der verschiedenen Geschichten und deren Strukturen gemacht habe. Später war noch Paul Auster als Nachahmungsopfer für meine jugendlichen Ergüsse an der Reihe, aber nur als Experiment.

 

MP: Ja, Auster hat vielen als Vorlage gedient…

 

ERA: „Mond über Manhattan“, wenn ich jemals in ein Buch richtiggehend verliebt war, dann war es jenes.

 

MP: Was hier sehr interessant ist: man sieht, dass Phantastik wenig mit dem heute gängigen Klischee zu tun hat. Vielleicht enttäuscht das ja unsere Leser auch etwas.

 

ERA: Das denke ich nicht. Ich denke, es könnte einfach für einige überraschend sein, dass sich auch deutschsprachige Autoren und Autorinnen wieder dieser weiten Variation an Themen widmen – inklusive vorangestellter Skepsis, die es mittels Qualität zu brechen gilt.

 

MP: In der Literatur wird ja ebenfalls immer alles schneller. Bücher sind ja schon Wegwerfprodukte. Wenn ich sehe, dass manche Buchblogger im Jahr 100 und mehr Bücher lesen und ihr Blog nur führen, damit sie sich daran erinnern, was sie überhaupt gelesen haben, finde ich das äußerst fragwürdig. Borges sagte einst: wirkliches Lesen ist wiederlesen. Muse. Und genau da hält sich das Bleibende der Phantastik auf; in der eigenen Seele. Man muss eine Verbindung mit dem Text eingehen, nur dann ist es so, als ob man in seinen eigenen Träumen wandelt.

 

ERA: Wobei ich zugeben muss, dass ich auch nur meine absoluten Lieblinge wiederlese – also zwei, drei Dutzend Bücher vielleicht. Dafür gibt es für mich einfach zu viele neue Geschichten, die noch entdeckt werden wollen.

 

MP: Ich habe meine Augen schon auch überall. Aber ich muss sagen, dass es wenig Neues gibt, das mich in irgendeiner Weise interessiert oder das ich gut finde. Und wenn, dann sind das jene Sachen, die zu meinem Kanon des Wiederlesens hinzukommen. Aber das sind nicht mehr als 300 Bücher. Die Sprache hat in den letzten hundert Jahren erheblich nachgelassen, bei uns natürlich am meisten.

 

ERA: Ja, leider muss ich Dir da rechtgeben. Ich muss sagen, dass uns die amerikanische Weird-Literatur da qualitativ mittlerweile leider allzu oft weit hinter sich gelassen hat.

 

MP: Die amerikanischen Künstler haben ein anderes Selbstverständnis. Gesellschaftlich wie als Individuum. Bei uns ist eine Gleichschaltung am Werk, die katastrophale Auswirkungen hat. Kaum jemand lässt sich außerhalb der sozialen Netzwerke zu einem Kommentar herab. Man konsumiert nur noch, aber partizipiert nicht mehr. Eine wirkliche Vernetzung findet nicht statt, man hat sich nichts zu sagen, eine Streitkultur gibt es bei uns ohnehin schon lange nicht mehr. Das sind alles erschreckende Tendenzen, aber wir sind schon derart eingeschläfert, dass ich da sehr realistisch keine gegensätzliche Entwicklung sehe. Wer englisch lesen kann, der sollte das unbedingt tun. Andererseits bin ich in meiner Muttersprache derart verwachsen, dass ich mich selbst seit Jahren weigere, das Licht auszuschalten und mich ausschließlich der englischen Sprache hinzugeben. Ich bin nun einmal hier. Es gefällt mir nicht, aber so ist es nun mal.

 

ERA: Ich sehe das Hauptproblem hierbei auch darin, mich nicht mehr genügend mit der Sprache zu beschäftigen, mit der ich arbeite. Aber die amerikanische Phantastik (die, wie vorhin besprochen, ja leider nur unzureichend Übersetzungen findet) ist schon eine unglaubliche Versuchung. Und wie verhält sich das bei Dir Frank, was sind deine stärksten Einflüsse als Schreibender?

 

FD: Meine größten Einflüsse als Schreibender sind Arthur Machen, T. E. D. Klein, Paul Auster (bis „Mond über Manhattan“, danach hat er mich verloren), Madison Smartt Bell und Ali Smith. Machen hat meinen latenten Drang zur Schönheit der Natur komplett ausbrechen lassen, und ich liebe auch diesen trockenen Erzählton in Paul Austers ersten Romanen (der mich vor Auster schon in den phantastischen Werken Christopher Priests sehr faszinierte). T. E. D. Klein hat mir mit seiner Horror-Erzählung „Das Grauen auf der Poroth Farm“ die perfekte Horror-Geschichte vorgeführt, denn sie hat für mich alles, was eine unheimliche Geschichte haben muss, inklusive Humor, was man wirklich selten in solchen Texten findet. Stilistisch hat mich auch Madison Smartt Bell zutiefst beeindruckt, genauso wie Ali Smith.
Weitere Autoren sind wahrscheinlich irgendwo bei mir präsent, aber sie sind einfach so übermächtig, dass man nur dabei verlieren kann, würde man sie sich als schriftstellerisches Vorbild auserwählen. Dies sind John Crowley, Vladimir Nabokov, Virginia Woolf, Sarah Waters und bei genauerem Überlegen sicherlich noch mehrere.

 

ERA: Lieber Frank, Lieber Michael, obwohl wir dieses Gespräch ja sicherlich noch stundelang weiterführen könnten, ohne dass uns der Stoff ausgehen würde, müssen wir für heute trotzdem langsam zum Ende kommen. Darum stelle ich hier meine letzte Frage für dieses Mal: wenn ihr Euch eine der vielen Welten in Euren Lieblingsbüchern zum Leben aussuchen könntet, welche wäre das und warum?

 

FD: Ohne zu überlegen: Edgewood aus John Crowleys „Little Big“, ein geheimnisvolles verwinkeltes Haus in einer ländlichen Dorfgemeinschaft, in der es keine Spießer gibt sondern nur schrullige und melancholische Freigeister, die an Feen glauben, aber trotzdem all die Sorgen und Probleme haben, die uns Menschen nun mal das Leben schwer machen. Eine realistische Traumwelt also.
Ich wäre sofort weg…

 

MP: Ich nenne da gar keine literarische Welt, sondern die erinnerte, die zur Literatur wird. Das hat den Grund, dass „wirkliche“ Welten (und dazu zähle ich alle literarischen Welten außer die der „realistischen“ Schiene) immer auch ein paar unliebsame Überraschungen auf Lager haben, in der Erinnerung aber werden die Dinge perfekt. Und noch etwas: ich glaube, dass schließlich alle literarischen Welten aus der Erinnerung gespeist werden.

 

ERA: Einen herzlichen Dank an Euch beiden, dass Ihr mir heute so geduldig und eloquent Rede und Antwort gestanden seid. Wenn man der Zug-Durchsage glauben darf, sind wir leider an der angestrebten Station angelangt. Natürlich nicht die Endstation – die Länder, die wir noch im Nachtzug bereisen möchten, sind ja endlos, wenn man den Geschichten über sie glauben darf. Und trotzdem muss ich mich für heute von Euch verabschieden und Euch in die Nacht entlassen. Aber keine Sorge, der Nachtzug und ich kommen wieder um zu sehen, wohin Euch Eure weitere Reise getragen hat – versprochen! Inzwischen werde ich mich im Weiterfahren selbst der vorbeiziehenden Landschaft widmen um darüber nachzudenken, welches literarische Land ich mir einmal als Heimat erwählen würde, sollte ich mich jemals niederlassen. Also: Michael, Frank – liebe Freunde, geschätzte Büchermenschen, gehabt Euch nun wohl… und stellt sicher, dass Ihr auch weiterhin mit dem hervorragenden Stoff versorgt seid, aus dem bekanntlich die besten Träume geschaffen sind.