Ich stand leidlich gut gelaunt auf, ging ins Bad und erschreckte mich, als ich in den Spiegel schaute, vor mir selbst. Man erwartet doch von so einem Menschen, dass er ein Gesicht hat. Anstelle dessen saß hinter dem Glas eine Leere und ich fasste mit den Händen nach meinem Kopf, um mir zu versichern, dass ich noch Nase, Augen und Mund besaß. Alles war da, doch die Hände meines Spiegelbilds wurden von der Leere verschluckt. Etwas musste mit meinen Augen nicht stimmen, dachte ich, vielleicht auch mit meinem Gehirn, das mir den blinden Fleck vor Augen führte, anstatt ihn, wie sonst, zu verdecken.
Ich löste meinen Blick vom Spiegel und suchte außerhalb seines Bildes nach einer Bestätigung des Gedankens, doch mein Sichtfeld war ungetrübt und lückenlos. Wieder in den Spiegel zu schauen, wagte ich zuerst nicht, doch es musste sein und ich tat es mit hämmerndem Herzen.
Die Leere starrte mich an, gähnte, da erinnerte ich mich an etwas aus einem Traum aus der vergangenen Nacht. Ich stand in einem Kellerloch, einem Verlies oder dergleichen in Düsternis vor einem Pult, auf dem ein monströses Buch aufgeschlagen war, trat näher und las, ohne aber die Worte zu verstehen. Ihr Sinn kroch unter der Schwelle meines Bewusstseins in meinen Verstand hinein.
Als Buchmensch war ich immer auf der Suche gewesen, der Suche nach etwas schwer zu Bezeichnendem, der Wahrheit zwischen Buchdeckeln vielleicht. Ungeachtet des Umschlags, hart, in Leinen oder Leder, oder bunt bedruckter Pappe eines Taschenbuchs, war in jedem Text ein Hinweis verborgen, ein Fingerzeig hin zu nächstem Schritt und Abenteuer, hin zu Erkenntnis, sogar Offenbarung, hin zum Verstehen des Kosmos. Aber immer ist ein Hinweis auch ein Hinhalten, ein Versprechen ohne dessen Einlösung, immer ein Verweis auf einen nächsten Verweis, anstatt auf ein letztendliches Ziel. So kann ein Geist ein Leben lang auf der Suche verbringen und sich zuletzt doch nur dem letzten Geheimnis anvertrauen, ohne zu wissen, was es verbirgt. Das Geheimnis ist eine Hülle, die wohl ebenso nichts wie etwas umgeben mag.
Auf meiner eigenen Suche durch die Windungen, Kreuzungen, die Abgründe und Gebirge eines oberflächlich augenscheinlichen, aber inwendig vollkommen unbekannten und niemals sich offenbarenden Kosmos hat es eine Zäsur gegeben, einen Schnittpunkt in Zeit und Raum, der meine Schritte umlenkte, fort vom Äußeren, hin zum Inneren. Die Ursache liegt in einer Enttäuschung begründet, die daher rührt, dass alles Gelesene, alles Schriftliche in der Übermittlung seiner Botschaft zwiefach scheitern muss. Erstens nämlich stammt die Botschaft nicht aus dem fadenscheinigen Reich des wachen Verstands, sondern dem, was darunterliegt. Sie wird in Schrift gefasst und weitergegeben, zweitens, nicht um den wachen Verstand zu erreichen, sondern wiederum das, was darunterliegt. Die Botschaft ist wie ein Wesen der Tiefsee, das einen aus dem Wasser ragenden Bergrücken mit einem Sprung durch das ihr fremde und ihre Existenz gefährdende Medium der Luft zu überwinden versucht. Das Scheitern liegt in diesem Wagnis begründet, denn niemals wird das Wesen der Tiefe diesen Sprung durch die Höhe lebendig überstehen.
Die einfache Erkenntnis aus diesem Gleichnis ist folgende: Um die Botschaft zu erlangen muss zuerst die Sprache der Tiefe entschlüsselt werden.
Ich sagte, es sei eine Überschneidung von Zeit und Raum eingetreten, doch mag es eine Überschneidung auch und vor allem anderer Dimensionen gewesen sein, in der ich, soweit ich zu sagen vermag, bei wachem Verstand Kunde vom Buch meiner Träume erhielt. Ich war tief in die Windungen einer Bibliothek verstrickt und fand in einer Monographie, die als den Namen ihres Verfassers meinen eigenen trug, einen Eintrag, der mich meine Forschung unterbrechen und nach gründlichem Zweifel an allem in gänzlich anderer Richtung wiederaufnehmen ließ. Der Eintrag wies mir den Ort, an dem das einzig wahre Buch zu finden sei, nämlich in einem Kellerloch oder Verlies oder dergleichen in meinem eigenen Unbewussten, das nicht anders als auf Pfaden des Traums zu finden sei. Von einem Getriebenen im Medium des Wachseins und des Lesens entwickelte ich mich nach dieser Zäsur zu einem Getriebenen im Medium des Traums. Ich habe viele Jahre auf dieser neuen Suche verbracht, mich von Plateau zu Plateau abwärts durch Schichten meines Bewusstseins und meines Unbewussten bewegt, mich in Kavernen des Verstands und des Unverstands als Abenteurer und immer Suchender, als Pilger und Ketzer, als Rebell und als Gründer bewegt, habe Völker und Länder in den Schlünden der Tiefe erforscht, ihre Sprachen und Kulte, und die Spuren des Unbelebten verfolgt, bis hin zu jenem Ort, dem Kellerloch oder Verlies oder dergleichen, in dem ich zuletzt endlich mein wahres Buch der Träume fand.
Erst jetzt, wie ich vor dem Spiegel stand und mich erinnerte, offenbarte sich das Gelesene. Ich sah es vor mir als einen dunklen Kristall, der mit jedem Schlag meines Herzens aus sich herauswuchs, in mehr als vier Dimensionen. Der Kristall öffnete sich in seinem unbändigen Wachstum zugleich und atmete Dunkelheit aus, die mich in sich aufnahm.
Alle die Worte des Buchs waren Leerstellen, ebenso wie mein Gesicht. Das Innere, das ich gesucht und endlich gefunden hatte, war wie mein Gesicht und die Worte nur eine Leere. Als ein Geheimnis umgab die Leere alles. Die Leere ist das Medium, ist auch die Trägerin aller kommenden Worte.
(c) Tobias Reckermann 2017