Zum Inhalt springen

Raumflucht (plus gratis E-Book-Download)

(Hier klicken für gratis E-Book Download, Format Epub)

(Hier klicken für gratis E-Book Download, Format Mobi)

 

Ich erwache in einem Zimmer, das ich nie wieder sehen wollte. In einer Wohnung, die mir mit all ihren Regeln und Verboten schon früh zur Hölle geworden ist. Ich öffne die Augen, weil ich das muss. Im beschlagenen Licht des Tages schält sich die gegenüberliegende Wand nur nach und nach aus dem blinden Meer der Besinnungslosigkeit, aus deren dunklen Tiefen ich widerwillig auftreibe. Mein Schlaf war mit Sicherheit nicht traumlos, aber er gestaltete sich wie üblich so fest, dass die Träume, die mich in diesem verhassten Bett heimsuchten, auf meinem Weg an die Oberfläche zurückbleiben mussten. Und dafür bin ich dankbar.

„Herr Decker?“

„Herr Decker?“

„Herr Decker?“

Die störende Stimme insistiert wieder und wieder. Ich will nicht, aber mir bleibt keine andere Wahl als zu antworten.

„Ich komme.“ Ein Flüstern. Mehr bringe ich nicht zustande. Und sogar das wird sofort von den dicken, vergilbten Stofftapeten und zentimeterhohem Staub auf dem Mobiliar verschluckt. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich gehört wurde. Das Quietschen, das der Briefschlitz an der Eingangstür von sich gibt, bestätigt es mir. Wie ich dieses Geräusch verabscheue. Ich setze mich auf. Ich muss mich nicht anziehen. Ich trage immer noch die Kleidung von gestern. Wann immer das auch gewesen sein soll. Ich quäle mich aus dem Bett, obwohl alles in mir danach schreit, mich einfach auf die andere Seite zu drehen und wieder ins süße Vergessen abzutauchen. An den dunklen Ort, von dem aus ich nichts in diese Wohnung mitbringen kann. Aber ich weiß, dass ER das niemals zulassen würde.

„Herr Decker?“

Es wundert mich nicht, dass seine Stimme das nächste Mal just in jenem Moment erklingt, in dem ich kurz davor bin, mich wieder auszustrecken, um mich der Finsternis zu ergeben. Ich glaube fast, dass er meine Gedanken liest. Dass er trotz alledem auf diese Scharade besteht, ist der reinste Hohn.

„Jaja, ich komme schon.“

Der Parkettboden knarzt ungehalten als ich es endlich schaffe, vom Bett herabzugleiten und mich auf die Füße zu stellen. Benommen torkle ich hinaus in den Flur und reiße mit einer unbeholfenen Bewegung einen der hohen Bücherstapel ein, mit denen mein Vater irgendwann die gesamte Raumflucht verstellt hat. Es ist egal. Morgen wird alles wieder genauso so sein wie zuvor.

„Herr Decker?“

„Ja, verfluchte Scheiße nochmal. Wie oft soll ich es denn noch sagen? Ich bin ja schon da.“

Seine fistelnde Stimme zieht mir den letzten Nerv. Ich ärgere mich aber noch im selben Moment, dass ich mich derart aus der Reserve locken lasse. Es ist keine gute Idee, ihm aufgebracht entgegenzutreten. Dadurch bekommt er nur genau das, was er will. Also versuche ich mich wieder zu sammeln, ehe ich den Vorhang für die Vorstellung aufziehe. Ich schließe die Augen und zähle. Eins, zwei, drei… bei sieben öffne ich die Tür.

„Herr Decker, wie schön. Wie haben Sie denn geschlafen?“

Obwohl ich derjenige bin, der in der Wohnung steht, und er lediglich im unbeheizten Treppenhaus, kann es keinen Zweifel daran geben, wer hier wen empfängt. Der Nachbar hält vor der Wohnung meines Vaters Hof. Im leuchtend orangen Jogginganzug, die wenigen Haare, die ihm geblieben sind, in dicken, fettigen Strähnen fest an den Kopf gekämmt, gewährt er mir Audienz. Wenn man nicht weiß, wen man da vor sich hat, könnte er in dem Aufzug beinahe lächerlich wirken. Aber ich musste auf dem harten Weg lernen, dass er weit entfernt davon ist, auf irgendeine Art und Weise schrullig zu sein. Unter der dummen Staffage hält sich ein skrupelloses, knallhartes Schwein versteckt.

„Geht so“, murmle ich. Ich versuche, mich ans alltägliche Skript zu halten und mich von ihm zu keinen Improvisationen verleiten zu lassen. Wie aufs Stichwort tauchen seine Wurstfinger in meinem Blickfeld auf und halten mir eine dampfende Tasse vors Gesicht.

„Kaffee?“

Ich nehme die bestialisch stinkende Brühe entgegen. Was sollte ich auch sonst schon groß tun?

„Das ist der Edle vom Eduscho. Rrrrrrröstfrisch. Kostet zwar ein bisschen mehr, aber das zahlt sich aus. Morgenstund´ hat Gold im Mund, gell Herr Decker. Da kriegt das Sprichwort gleich eine andere Bedeutung, so gesehen. Kosten Sie nur. Der ist richtig gut.“

Ich setze meine Lippen an die Stelle, an der die Tasse bei einem unserer letzten Treffen einen langen Sprung davongetragen hat, und probiere vorsichtig vom Inhalt. Das Gesöff schmeckt nach flüssigem Teer. Wie üblich. Ich ringe mir ein Lächeln ab. Wie üblich.

„Köstlich“, heuchle ich und zwinge mich, gleich noch einmal daran zu nippen.

„Es ist mir ja nix zu schad´ für Sie. Der Herr Papa selber hat mich gebeten, auf Sie aufzupassen, wenn er einmal nicht mehr ist. Und das zumindest bin ich ihm schuldig, dem alten Decker.“

Die Großkotzigkeit des Alten hängt mir schon so dermaßen zum Hals heraus, dass ich laut schreien möchte.

„Was weißt du schon vom alten Decker, du Arschgeburt?“

Verdammte Scheiße, wie konnte mir das jetzt wieder passieren? Das Lächeln auf dem Gesicht des Nachbarn verschwindet noch im selben Moment, in dem ich wünschte, die Worte einfach wieder einsaugen zu können. Ich nehme einen großen Schluck vom Kaffee, um zu retten, was noch zu retten ist. Ich kann regelrecht schmecken, wie er stinkt. Ich unterdrücke den Würgereiz. Das Gesöff hinterlässt einen metallischen Geschmack auf dem Gaumen. Als hätte ich heißes Blut getrunken. Was wahrscheinlich nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. Ich zwinge mich, es zu schlucken, dabei genießerisch die Mundwinkel nach oben zu ziehen und das elendige Gebräu nicht sofort wieder in die Tasse zurückzuspucken. Aber für diese Art der Schauspielerei ist es bereits zu spät. Der alte Mann schlüpft aus seiner irreführenden Behäbigkeit wie eine Schlange aus ihrer abgetragenen Haut, wenn sie ihr erst einmal zu eng geworden ist. Seine Schweinsäuglein mustern mich funkelnd. Alles was jetzt kommt, habe ich nur mir selber zuzuschreiben.

„Jetzt sage ich Ihnen einmal was, junger Mann. Ihr Vater – Gott hab´ ihn selig – war Rechtschaffenheit und Güte in Person. Er hat es nicht verdient, dass ihm ein verzogener Fratz wie Sie schlecht hinterherredet. Und das nach allem, was er für Sie getan hat. Schämen Sie sich! Sie sind nicht gut genug für den Namen Decker! Sie sind eine Schande für Ihren Vater!“

„Wie auch immer.“

Ich halte ihm die Tasse unter die Nase, weil ich keine Veranlassung mehr dazu sehe, es ihm noch recht zu machen. Für heute ist es gelaufen.

„Und das schieb´ dir dann am besten auch gleich in den Arsch.“

Ich sehe es zwar kommen, bin aber wie gewohnt zu langsam, um etwas dagegen zu tun. Der viele Schlaf macht mich träge. Und irgendetwas ist in dem Kaffee, das mich in diesem Zustand halten soll. Der Nachbar trifft mich mit der Faust genau zwischen die Augen. Ich denke noch, wie unansehnlich seine aufgedunsenen Finger sind. Dichte Behaarung sprießt von seinem Handrücken bis weit über die Fingerknöchel hinab. Aber darunter kann man auch deutlich die verblichenen Narben der vielen Kämpfe erkennen, die der Alte Zeit seines Lebens ausgetragen haben muss. Der goldene Reif an seinem Finger zieht eine gleißende Bahn, während er auf mich zurast. Es ist sein Ersatz für einen Ehering. Er war niemals verheiratet, aber mein Vater hat ihm diesen Ring geschenkt. Als Unterpfand für ihre ewige Freundschaft – wie er einfach nicht müde wird, mir in all den aufgezwungenen Morgengesprächen zu erklären. Für mich hat das schon immer mehr als nur ein bisschen verlogen geklungen.

Der Ring brennt sich heiß in meine Stirn. Ich taumle rückwärts. Doch bevor ich umfallen kann, schnappt mich der Nachbar am Schlafittchen, legt mir seine fleischigen Finger um den Hals und drückt fest zu. Mir bleibt die Luft weg. Ich kann mich nicht wehren, als er mich an sich heranzieht und auf die Knie zwingt. Sein Griff bleibt eisern wie ein Schraubstock. Ich öffne die Lippen und versuche, den dringend benötigten Sauerstoff einzusaugen. Aber es bleibt beim trockenen Japsen. Atmen – ich muss unbedingt atmen. Eine zweite Hand legt sich mir über die Augen. Ich kann deutlich die harten Schwielen an den Ballen spüren, während sie mir unnachgiebig den Kopf in den Nacken drückt. Etwas Kaltes, Hartes zwängt sich zwischen meine Lippen. Dann lässt die Hand an meinem Hals endlich los und ich schnappe überstürzt nach Luft. Bekomme dabei aber gleichzeitig den schrecklichen Sud in die Kehle gekippt. Ich verschlucke mich prustend. Der Nachbar lacht. Schmerzhaft rinnt mir die Brühe die Luftröhre hinab, während ich nicht anders kann, als weiterhin gierig nach Atemluft zu schnappen.

„Das hast du dir nur selber zuzuschreiben, mein Sohn. Du kennst die Regeln. Und jetzt trink aus, bevor wir zum Höhepunkt unseres kleinen Tänzchens kommen.“

Ich tue, wie mir geheißen wird. Während sich die faulige Suppe durch meinen Schlund zwängt und ich versuche, sie nicht sofort wieder hochzuwürgen, sehne ich mich nach Schlaf. Tiefem, ereignislosen Schlaf. Ich verfluche den alten Decker dafür, dass ich überhaupt hier sein muss.

„Herr Decker?“

Meine Augen tränen. Mein Magen ist zu einem störrischen, harten Klumpen im Unterleib geschrumpft, der mich grollend für die Dinge beschimpft, die ich ihm antun lasse.

„Herr Decker? Sind wir soweit?“

Ich rülpse. Es fordert meine volle Konzentration, mich nicht zu übergeben.

„Herr Decker, ich habe Sie etwas gefragt. Sind wir soweit?“

Ich nicke verzweifelt. Was bleibt mir auch anderes über.

„Gut, gut. Dann fangen wir an.“

Der Nachbar nimmt seine Arme von mir. Ich halte den Blick gesenkt und beobachte seine weißen Turnschuhe, wie sie sich auf dem hellgrau gefliesten Boden von mir entfernen. Lausche wehrlos dem grausamen Rascheln des Papiers, das er aus seiner Jacke zieht. Ich könnte in die Wohnung flüchten, um mir das hier zu ersparen. Aber meine Energie ist aufgebraucht. Nach all den morgendlichen Torturen verfüge ich nicht mehr über genügend Kraft, um mich zu wehren. Außerdem beginnt das Gebräu, das der Alte in mich hineingeschüttet hat, langsam zu wirken. Meine Gliedmaßen werden bereits taub. Es ist einfacher, alles über mich ergehen zu lassen. Dann ist es schneller vorbei.

„Herr Decker?“

„Ja?“

„Sehen Sie mich jetzt an.“

Ich hebe den Kopf. Ich brauche ein, zwei Augenblicke, um das Bild scharfzustellen. Der alte Nachbar trägt jetzt seine schmale, rahmenlose Lesebrille, über dessen Ränder hinweg er mich kritisch beäugt.

„Den zornigen Blick können Sie sich schenken, Herr Decker. Ich habe es mit Freundlichkeit versucht. Aber wie so oft sind diese Bemühungen bei Ihresgleichen reine Zeitverschwendung. Aber bitte. Ich beherrsche auch die härtere Gangart.“

Die Maske fällt endgültig. Die Worte, die seinen Mund verlassen, werden nun geschliffen formuliert, bar jeglichen Akzents. Bar des Wiener Proletenhausmeister-Charmes, mit dem er sich so gerne präsentiert. Er zeigt mir sein wahres, dämonisches Gesicht. Eines, das mich in meine Träume verfolgt. Da bin ich mir sicher. Auch wenn ich mich morgens niemals daran erinnern kann.

Mein Lieber Sohn…“, beginnt der Nachbar von dem abgegriffenen Stück Papier abzulesen. Ich kenne die Worte, die nun folgen werden, inzwischen auswendig. Er mit Sicherheit auch. Aber der formelle Teil des Vorlesens scheint ihm trotz allem wichtig zu sein.

Mein Lieber Sohn, es tut mir so unendlich leid, dass ich dich nicht retten konnte.“

Ich lache. Egal, wie oft ich es höre – es ist und bleibt ein riesiger Witz, der da auf meine Kosten geht.

„Was gibt es denn da zu lachen?“

„Gar nichts. Machen Sie weiter, damit ich es hinter mir habe.“

Der Nachbar räuspert sich. Ich kenne ihn mittlerweile gut genug um zu wissen, dass er gerade überlegt, ob er mir nicht noch eine kleine körperliche Zurechtweisung angedeihen lassen soll. Er scheint sich aber nach kurzem dagegen zu entscheiden und fährt mit seinem Vortrag fort.

„Hätte ich gewusst, was ich damit anrichte, hätte ich Dich niemals von der anderen Seite zurückgeholt. Aber was soll ich sagen? Wenn meine einzige Schwäche darin bestand, meinen Sohn so sehr zu lieben, dass ich ihn nicht loslassen konnte, dann ist das nun auch nicht mehr zu ändern. Vor allem nicht, wenn ich nicht mehr da bin, um meinen größten Fehler wiedergutzumachen. Denn dass Du diese Worte überhaupt zu hören bekommst, legt nahe, dass dem höchstwahrscheinlich so ist. Ich habe Franz damit beauftragt, sich um Dich zu kümmern. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er dieser wichtigen Aufgabe gewissenhaft nachkommt. Er ist ein guter Mann, auf den ich mich immer verlassen konnte. Er war mir ein treuer Freund, solange ich denken kann.“

Wie üblich wird die Stimme des Alten brüchig, als er diese Stelle im Brief erreicht. Er ist eine lächerliche, vorhersehbare Kreatur. Zorn kocht heiß in mir hoch. Ich will aufspringen und dem Alten den Kopf von den Schultern reißen, dann durch den Hals in seinen Brustkorb fahren, um mir sein warmes, schlagendes Herz herauszuangeln. Blut. Köstliches Blut. Mit dem Zorn brennt nun auch unerbittlich der Hunger in mir. Dass mir mein Körper einfach nicht gehorchen will, geißelt mich mit siedendem Frust.

Iä Shub-Niggurath cf’ayak’vulgtmm, vugtlagln vulgtmm!“ Der Schwall aus Worten bricht aus mir hervor, wie ätzender Gallensaft. Aber der Sud, der mich eigentlich peinigt, bleibt bleiern in meiner Körpermitte hängen und hält mich mit seinem Gewicht am Boden. Mein Rachen ist völlig wund, und meine Lippen, meine Zunge, sogar meine Zähne brennen von der Formulierung dieses Kauderwelschs wie verrückt. Es fällt mir schwer, mich noch zu konzentrieren. Aber hinter dem roten Schleier, der sich über meine Gedanken legt, bemerke ich trotzdem noch, dass den Nachbarn das alles nicht sonderlich zu beeindrucken scheint. Er konzentriert sich wieder auf den zerknitterten Papierbogen in seinen Händen und fährt stoisch mit seinem Vortrag fort. Dafür möchte ich ihn am liebsten töten und anschließend fressen. Wenn ich nur könnte.

„Ich weiß, wie Du Dich jetzt fühlen musst, mein Sohn. Ich weiß, dass Du Dich schon früh vor mir zu fürchten gelernt hast. Aber was sollte ich sonst Deiner Meinung nach tun? Das soll keine Entschuldigung sein. Dafür ist es nun ohnedies zu spät. Alles, womit ich jetzt noch aufwarten kann, ist der Versuch einer Erklärung.

Du warst noch sehr jung, als die Ärzte feststellten, dass Du an Leukämie erkrankt warst. Vielleicht weißt Du das noch. Dasselbe raffgierige Ungeheuer, das mir schon Deine Mutter genommen hatte, wollte mir auch Dich noch entreißen. Aber was wäre ich dann noch gewesen? Ohne Dich? Nur ein einsamer alter Narr, der sein Leben mit Nichtigkeiten verschwendet hat. Du warst das letzte bisschen Liebe, das mir auf dieser Welt noch blieb. Der letzte Funken Licht in der Dunkelheit. Verzeih mir meine rührseligen Worte, ich weiß, das bist Du nicht gewohnt von mir. Auf Dich muss ich immer wie ein erbarmungsloser Mann gewirkt haben, der den ganzen Tag nichts anderes im Sinn hatte, als Dich zu quälen. Aber was blieb mir schon groß anderes übrig? Irgendwie musste ich Dich unter Kontrolle halten.

Deine Mutter wurde meinen Armen entrissen, noch ehe ich auf meiner verzweifelten Suche nach Heilmethoden in den uralten Büchern fündig geworden war. Im Nachhinein gesehen war das gut so. Ich glaube, ich hätte es nicht ertragen, sie so zu sehen und sie so behandeln zu müssen, wie ich es später bei Dir gezwungen war. Ja, es hat mir letztlich das Herz gebrochen, mein Sohn. Ich weiß, dass Du Dir das nicht vorstellen kannst. Aber als das Schicksal mir damit drohte, auch Dich noch zu holen, zögerte ich keinen Moment. Ich war mit meinen Untersuchungen endlich soweit. Ich handelte im festen Glauben daran, einen Weg gefunden zu haben, der Deine Leukämie zu heilen vermag. Ich hatte zwar mehr als nur eine Ahnung davon, wie verdorben die Mittel waren, derer ich mich dazu bedienen musste, war aber gleichzeitig der festen Überzeugung, dass der Zweck sie schon irgendwie rechtfertigen würde. Und seien wir uns ehrlich: was bedeutet uns das Wörtchen Blasphemie schon dieser Tage? Der Glaube an göttliche Wesen – eine reine Profanität aus abergläubischen Zeiten, die wir längst hinter uns gelassen haben. Oh, wie ich mich getäuscht habe, mein Sohn. Ich kann mich niemals genug dafür entschuldigen, was ich Dir in meiner durch und durch egoistischen Überheblichkeit angetan habe. Das zumindest musst Du mir glauben – jeder Tag, den ich Dir kein Vater sein durfte, sondern Dein Kerkermeister sein musste, wurde zum aussichtslosen Alptraum für mich. Ich hätte alles gegeben, um den Fluch zurückzunehmen, den ich Dir durch mein unbedachtes Handeln auferlegt habe. Dass Du diese Zeilen jetzt liest, beweist, dass ich dies schließlich sogar versucht, aber auch darin kläglich versagt haben muss. Franz ist für diesen Fall entsprechend instruiert. Lieber, herzensguter Franz, der all meine Torheiten immer mitgemacht hat, seitdem ich ihm damals das Leben rettete. Es war purer Zufall, dass ich an diesem Tag zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, um ihn aus dem sicheren Tod in einer klirrenden Winternacht in meine Wohnung zu retten, wie ich niemals müde wurde zu beteuern. Er ist mir nichts dafür schuldig. Jeder, mit nur einem Funken Anstand im Leib, hätte dasselbe getan. Ich bin nicht der gute Mensch, für den er mich hält. Ganz und gar nicht. Er hat es schließlich ganz alleine geschafft, trocken zu werden. Aber davon wollte er nie etwas hören. Er ist überzeugt davon, dass uns das Schicksal zusammengeführt hat, und dass die Liebe immer einen Weg findet. Er hat sich sogar eine Wohnung neben der meinen gesucht, als er merkte, wie es um mich stand, und dass ich am Wahnsinn kratzte. Er wurde mein unerschütterlicher Fels in der Brandung. Obwohl er immer wusste, dass ich seine Liebe niemals in einer Form erwidern kann, die er mehr als verdient hätte. Er ist der unverrückbaren Ansicht, dass das keine Rolle spielt. Dass Liebe nichts ist, das man an Bedingungen knüpft. Und wenn er mir dabei zusieht – wie er immer zu beteuern pflegt – wie ich Dich einfach nicht loslassen kann, dann weiß er, dass ich sehr wohl begriffen habe, was wahre Liebe bedeutet. Ich werde niemals verstehen, womit ich einen loyalen Freund wie ihn überhaupt verdient habe…“

Ich lache. Diesmal sehe ich den Fausthieb nicht kommen. Und wenn, dann hätte ich sowieso nichts dagegen unternehmen können. Mittlerweile ist mein gesamter Körper empfindungslos. Alles, was ich noch spüre, ist das Lodern auf den Lippen, das mich dazu verleiten will, noch mehr dieser verdrehten Silben hervorzuwürgen. Nichteimal der letzte Haken – so hart er auch gegen mich geführt wird – beeindruckt mich sonderlich. Kurz versuche ich sogar, nach der behaarten Hand zu schnappen und meine Zähne ihn ihr zu vergraben. Dann detoniert sie genau auf meinem linken Auge und lässt mich wuchtig nach hinten schnalzen. Gier. Zorn. Ich fühle mich wie ein ausgehungertes Biest im Käfig meines gelähmten Körpers. Und gleichzeitig behält ein kühles, abwartendes Kalkül die Oberhand, das mich alles genau erfassen lässt. Ich bin ich, und gleichzeitig nicht. Ich bin mehr.

„Ich weiß, dass es Dir schwerfällt zu verstehen, was mit Dir geschehen ist. Das Elixier, mit dem Dich Franz in meinem Auftrag täglich sediert, macht Dir den Überblick über Deine Lage sicher nicht leichter. Aber er hat mir versprochen, Dir Deine Würde zu lassen und dabei so behutsam als möglich vorzugehen.“

Würde? Welche Würde? Ist es etwa würdig, wehrlos im Dreck zu liegen? Ich will schreien, aber statt der Töne schwappt bloß der schwarzen Sud aus meinem Mund. Plötzlich fühle ich mich dämmrig. Mit der trüben Suppe scheint sich auch der Hunger und der Zorn aus mir zu ergießen und eine große Lache um meinen Kopf zu bilden, die sich langsam auf die sauberen weißen Turnschuhe des Nachbarn zubewegt. Sein unablässiges Gebrabbel dringt weiter auf mich ein und raubt mir die Besinnung. Obwohl ich deutlich fühle, dass irgendetwas in mir nach wie vor nagend auf die Gier besteht, die mich eigentlich antreiben sollte.

„Die Dinge stehen nämlich mittlerweile so schlimm um Dich, dass ich zu einer letzten, verzweifelten Maßnahme greifen muss. Ich kann Dich kaum noch bändigen. Das Ding, das Du mit herüber gebracht hast, hat Dich bereits zu fest im Griff. Ich fürchte um Dich, mein Sohn. Ich habe Angst vor alldem, was Du dieser Welt antun könntest, wenn man Dich lässt. Und es wäre meine Schuld. Meine Schuld ganz alleine. Während ich diese Zeilen hier schreibe, bin ich mir durchaus der Gefahr bewusst, diese Wohnung nie wieder lebend zu verlassen. Ich glaube, ich rechne inzwischen sogar fest damit. Wenn es tatsächlich so kommen sollte, dann habe ich meinen Frieden damit gemacht. Franz hat den Schlüssel. Er weiß, was zu tun ist, falls…“

Endlich findet mich der Schlaf. Die Worte des Alten entfernen sich und ich tauche wieder ein, in den Ozean aus Schwärze, aus dem ich vor kurzem erst in diese Welt hineingeboren wurde. Ich sinke wie ein Stein in seine bodenlose Tiefe. Irgendetwas… irgendetwas ist bei mir… etwas Großes. Plötzlich ist die Dunkelheit nicht mehr so friedlich. Die Träume finden mich. ER ist bei mir. Ein gigantisches Maul, das zu saugen beginnt, und mich strudelnd durch Zeit und Raum schleift. Die Schwerelosigkeit ist schlagartig ein wildes Durcheinander, und die Finsternis um mich herum voller krakeelender Fratzen. Keine Gespenster. Keine Menschen. Etwas anderes. Etwas, das mir trotz seiner Fremdartigkeit aus all den vergessenen Träumen vertraut ist. Ich habe mich geirrt. Ich bringe sehr wohl etwas von der anderen Seite mit. Ich begreife es nur nicht immer gleich. Ich werde jeden Morgen neu geboren. Ich bin der Anfang. Ich trage das lebendige Zeugnis von der Existenz Gottes in mir. ER. ER ist stets bei mir. Unaufhaltsam, wann immer ich die Augen aufschlage. Ich bin sein personifiziertes, atmendes Gebet für die Erlösung der Erde. Ich muss aus diesem Zimmer raus. Irgendwie. Ich muss der Welt von meinem Herrn erzählen. Ein Herr, der alle Krankheiten des Körpers und des Geistes heilt. Ich bin der Beweis für seine Gnade. Ich muss hier raus. Raus!

Ich werde unsanft im Genick gepackt und aufgezerrt. Meine Augen öffnen sich. Es ist zu hell. Viel zu hell. Irgendjemand trägt mich. Ich fühle die Wärme eines anderen Menschen, rieche aufdringliches Parfüm und darunter sauren Schweiß. Verschwommen erkenne ich den verblassten Plafond der Wohnung, unter dem ich durchgetragen werde. Nein! Ich darf nicht zurück! Ich muss nach draußen! Ich muss der Welt von seiner Ankunft berichten!

!“, will ich schreien, es hört sich aber bloß nach einem Röcheln an. Dann ein lautes Rumpeln. Ein weiterer Bücherstapel, der umgefallen ist.

„Halt´s Maul. Halt bloß dein dummes Maul.“ Die Stimme des alten Nachbarn streicht mir heiß übers Ohr. Sein Atem riecht schlecht. Nach Magenproblemen.

Ich werde ins Bett geworfen. Die Federn der durchgelegenen Matratze quietschen empört. Noch ehe ich auch nur den Versuch starten kann, mich zu erheben, wird mein Brustkorb schwer nach unten gedrückt. Die Lippen werden mir wieder aufgezwängt. Etwas Hartes schlägt schmerzhaft gegen meine Zähne. Dann werde ich erneut unter dem entsetzlichen Gesöff ertränkt, das mir anfangs noch als Kaffee verkauft wurde. Ich verschlucke mich. Mein Gesicht wird ganz nass davon. Es dauert ewig, und am Schluss bin ich mir sicher, jeden Augenblick ersticken zu müssen. Aber irgendwann endet es doch wider Erwarten. Die Welt besteht nur noch aus Schlieren. Ebenso wie das Gesicht, das sich über mich beugt. Ich bin völlig verbraucht. Ich schließe die Augen. Ich will schlafen.

„Nun sieh dir einmal an, was du dieses Mal wieder angestellt hast, du dummes Arschloch. Wegen dir kann ich das Bettzeug wechseln und die Bücher am Flur neu aufstapeln. Aber egal. Dann kann ich mich gleich weiter umsehen, ob ich etwas finde, das mir gegen dich und deine Brut hilft.“

Die Worte ergeben keinen Sinn mehr für mich. Ich treibe sanft auf der Oberfläche eines dunklen Meeres. Über mir sehe ich das Weltall. Es ist ein friedliches Bild. Einer der Sterne scheint heller zu leuchten als die anderen. Er blinkt mit einer Regelmäßigkeit, die keinem Zufall entspringen kann. Es sieht fast so aus, als würde er Kontakt mit mir aufnehmen wollen.

Die Stimme erklingt nun wieder ganz nah neben meinem Ohr.

„Eines Tages wird es soweit sein, dann wird es dir tatsächlich gelingen, diese Wohnung zu verlassen. Ich weiß, dein Vater war gut darin, sie entsprechend zu präparieren. Am Schluss hat er sein Leben gegeben, um sie fest zu verschließen. In einem letzten Ritual hat er sein Blut an der Türschwelle vergossen, um sie dir vor der Nase zuzuschlagen. Ich war da am nächsten Tag. Ich habe gesehen, welchen kranken Scheiß du mit seinen Überresten angestellt hast. Aber wenn es soweit ist, dann werde ich draußen stehen und auf dich warten. Dann werde ich dich mit großer Freude endlich kaltmachen, du Missgeburt. Das Versprechen, das ich deinem Vater gegeben habe, endet nämlich an der Türschwelle, verstehst du? Du bist schon lange nicht mehr sein Sohn. Soviel steht fest. Auch, wenn ich ihn bis zum Schluss nicht davon überzeugen konnte. Keine Gnade für dich. Also bitte, tu mir den Gefallen. In den Büchern, die hier zuhauf herumliegen, habe ich bereits genug Munition gefunden, um dich für immer zurück in das Höllenloch zu schießen, aus dem du herausgekrochen kamst. Und wenn erst einmal mein Gelöbnis deinem Vater gegenüber nicht mehr gilt, dann rechne bloß nicht damit, dass ich dich weiterhin schonen werde. Er war ein guter Mensch. Viel zu gut für diese Welt. Und du Schwanzlutscher hast ihm einfach das Gesicht weggefressen und diesen ekelhaften Fischlaich in seinen Brustkorb gelegt. Du widerst mich an. Nach allem, was er für dich getan hat. Aber ich bin da. Morgen und übermorgen und überübermorgen auch, und werde auf dich warten. Du entkommst mir nicht.“

Leere Silben wie der verglühende Schweif des Kometen, der just in diesem Augenblick über mich hinwegzieht. Ein endloses Meer ohne Ufer. Über mir stehen mehr Sterne, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und rings um mich driften ihre Spiegelungen über die sanften Wellenberge meiner Bewusstlosigkeit. Ich bin irgendwo. Irgendwo anders. Ich ziehe die Arme eng an meine Seite, mache mich klein und tauche unter. Sacke hinab in die Tiefen, in denen mein Gott auf mich wartet und bete dort zu ihm. Ich bitte darum, dass ich ihn morgen auf die andere Seite mitnehmen kann.