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Leseprobe: Die Erloschenen

Die Erloschenen

von Erik R. Andara

 

Teil 1, Nachtspiel und Morgengrauen

 

1

In den frühen Morgenstunden kam die Stromversorgung zum Erliegen. Victor wurde von rasenden Kopfschmerzen geweckt. Am Fernsehbildschirm, der eigentlich verhängt sein sollte, wartete bereits das Weiße Rauschen des toten Kanals auf ihn. Noch lag er brach und übertrug nichts weiter als die zischende Leere der Konformität – jenes Frequenzbündel, das keinerlei Elektrizität aus der Steckdose benötigte, um von den Geräten wiedergegeben zu werden. Es konnte nun nicht mehr lange dauern, ehe die Sendung begann. Fluchend rappelte Victor sich hoch und taumelte auf die andere Seite des Zimmers, um dort die verrutschte Decke wieder über den Monitor zu breiten. Das zuckende, pulsierende Licht verlieh der Umgebung die Beschaffenheit eines farblosen Traumes, der Victor nicht so einfach freigeben würde; und nicht einmal die Wolldecke – so dick sie auch war – vermochte das knisternde Leuchten gänzlich auszusperren. Aber anstatt überall zu sein, den gesamten Raum mit seiner Anwesenheit zu füllen, kroch es nun bloß noch unter den Stofffalten hervor, über den Boden, um sich in den Ecken und Winkeln auf die Lauer zu legen.

Victor wollte nichts von der Sendung sehen, wollte nicht wissen, wer heute zu Gast sein würde. Trotzdem lag ihm viel daran, den Beginn der Übertragung nicht zu verpassen. Hätte er gekonnt, wäre er den Fernseher schon lange losgeworden, so sehr hasste er die Sendung – hasste er sich selbst dafür, ihr trotz seiner Abscheu immer wieder zu verfallen. Er war hungrig danach, mehr zu sehen, maßlos hungrig, das hatte er sich schon lange eingestanden. Und es barg keinerlei Schande, so zu fühlen. Die gesamte Menschheit war krankhaft süchtig nach der Sensation, die der tote Kanal nun bereits seit einigen Jahren während der Kadenzen versprach: einen Blick auf die andere Seite, und sei er in seiner Unverständlichkeit, in seiner makaberen Anzüglichkeit auch noch so grausam.

Victor wandte sich vom Sog ab, den der Fernseher auf ihn ausübte, strich sich gedankenverloren über die hämmernde Narbe am Hinterkopf, dann öffnete er das Fenster – Novemberluft strömte ins Zimmer und klärte die Sicht. Der Tag war noch nicht richtig angebrochen, noch war der Schimmer auf den Dachfirsten der Hausreihe gegenüber nicht mehr als das fahle Versprechen des herannahenden Sonnenaufgangs. Hinter vielen Fenstern war es dunkel, aber durch andere sickerte das blässliche Licht leer vor sich hin tosender Fernsehmonitore. Die meisten Menschen schliefen noch, auch wenn die Sendung sie alsbald wecken und vor die Bildschirme locken würde.

Der Himmel war verhangen und in den Wolken hatten sich die Stillen niedergelassen, ihr stumpfes Raunen lag in der Luft – man ahnte und fühlte es mehr, als man es hörte. So deutlich wie heute waren sie schon lange nicht mehr auszumachen gewesen. Wenn er sich darauf konzentrierte, konnte er sie sogar in den Fassaden der Häuser entdecken. Ihre klar erkennbare Gegenwart verhieß Victor einen langen Dienst. Er blickte die menschenverlassene Gasse hinab. Der Morgen präsentierte sich kalt und klar, aber die Kanten der Gebäude waren unscharf; ein weiteres Zeichen dafür, dass die Konformität heute sicher mehrere Stunden andauern würde. Irgendwo rief deutlich vernehmbar ein Kuckuck. Victor ignorierte ihn, ebenso wie die beiden Wochen zuvor, seitdem er ihn das erste Mal bemerkt hatte. Er schloss das Fenster, zog sich in seine Wohnung zurück. Am Weg in die Küche massierte er die schmerzende Narbe. Er war es gewohnt, dass sie ihm gerade zu Übertragungszeiten Unannehmlichkeiten bereitete, aber heute empfand er es als besonders schlimm.

Im Flur machte er kurz halt an der tönernen Schale, die auf dem kleinen Tisch neben der Eingangstür stand. Er entnahm ihr das Täschchen mit seinen Arbeitsutensilien, öffnete es und kontrollierte, ob er noch ausreichend Einweghandschuhe, Tupfer und sterile Nadeln für die Blutproben mit sich führte, um damit auch durch einen langen Dienst zu kommen. Dann griff er sich die gesicherte Taschenlampe und überprüfte den Handdynamo. Als er die kleine Kurbel an ihrem hinteren Ende drehte, gab die Lampe ein  zittriges, warmgelbes Leuchten ab. Gut, dachte er, das bedeutete, dass ihre Isolation doch nicht zerbrochen war, als sie ihm am Ende der letzten Schicht von einem aufgebrachten Erloschenen aus der Hand geschlagen worden und am Boden gelandet war. Das hieß, dass er für die Tour voll ausgestattet war, ohne sich noch extra in die Zentrale begeben zu müssen, ehe er sich dann gleich auf den Weg machte.

Routinemäßig nahm er den Pager zur Hand. Ein kleines, grünblinkendes Licht in der Keramikummantelung vermeldete überflüssigerweise, dass eine Kadenz angebrochen sei und rief ihn zum Dienst. Aber Victor zögerte, den Knopf zu drücken, der ihn in der Zentrale einchecken würde. Kurz überlegte er noch, dann ließ er den Pager wieder in sein Arbeitstäschchen gleiten. Der Tag heute würde anstrengend werden, das teilte ihm das störende Klopfen unter seiner Schädeldecke mit; aber er konnte sich noch Zeit nehmen, um zu duschen und anständig zu frühstücken – auch wenn der Boiler ohne Strom nicht arbeitete und das Wasser deshalb eiskalt sein würde. Zumindest machte ihn das dann wacher. Und die Erloschenen konnten ruhig noch ein Bisschen auf ihn warten.

 

 

2

Erst als er auf die Straße trat, konnte Victor das wahre Ausmaß dieser Kadenz feststellen. Die ganze Welt schwang noch stärker als sonst gewöhnlich zu Übertragungszeiten. Die Gebäude wirkten an den Kanten durchlässig und wurden von einem seichten Flimmern bedeckt. Es kam nur sehr selten vor, dass die Stillen vom Himmel herabstiegen und sich in den Hausmauern einnisteten, normalerweise thronten sie schweigend und fern in den Wolkenbergen und beobachteten teilnahmslos das Treiben der Stadt. Heute aber ruhte hinter beinahe jeder der Fassaden entlang der Schlossgasse eine der stummen Konturen, und nur die Wenigsten davon wirkten menschlich. Victor hatte sich an ihre Gegenwart gewöhnt. Er kannte die Theorien darüber, dass die Stillen nicht mehr als tote Zerrbilder und Echos jener Übertragungen der Kadenz seien, die irgendwo auf Erden einen Empfänger gefunden hatten; persönlich war er aber der Ansicht, dass sie mehr als das darstellten. Er dachte über sie gerne als Zeugen – Beobachter und Archivare, die einem irgendwo da draußen vielleicht die Waagschale entgegenhielten, wenn es einmal soweit war, dass man in die Finsternis treten musste.

Victor überquerte den Margaretenplatz, die Platzuhr war unbeleuchtet und ihre Zeiger auf 6 Uhr 27 stehengeblieben. Inzwischen musste seitdem fast eine Stunde vergangen sein, aber immer noch hielt die Konformität unvermindert stark an, war in der letzten Stunde vielleicht sogar stärker geworden – zumindest behauptete das seine schmerzende Narbe. Irgendwo hinter der taubengrauen Wolkendecke war bereits die Sonne aufgegangen, aber ihr Licht reichte kaum bis auf die Firste der Dächer herab; und unterhalb herrschte immer noch diffuses Halblicht.

Dort, wo die Pilgramgasse in die Margaretenstrasse mündete, stand ein einsamer Bus auf der Fahrspur und lauerte darauf, dass die Kadenz die Leitungen wieder freigäben würde und er losfahren konnte. Im Inneren war der Fahrer nur als zusammengesunkener Umriss zu erkennen. In Zeiten der Digitalisierung war der universale Stromausfall, den die Konformität mit sich brachte, eine Geißel. Dabei war die Ironie, dass sie genau dort ihren Ursprung gefunden hatte: in der Energiegewinnung.

Victor trottete über die Straße, trat an die Scheibe neben dem Fahrersitz heran und tappte mit dem Finger ans Glas. Aber noch während er überlegte, wie er sich Zugang zum Bus verschaffen sollte, bewegte sich der Fahrer, drehte sich zu ihm um und reckte den Daumen nach oben. Gut! Kein Erloschener, nur ein Buslenker, der das Ende der Kadenz abwartete, um seine Route wieder aufzunehmen. Das erleichterte die Sache. Dann bemerkte Victor das farblose Glühen des Telefondisplays in der Hand des Fahrers. Er erhaschte einen Blick auf die grobkörnige Übertragung. Auf dem kleinen Monitor war kaum etwas von der Sendung zu erkennen, trotzdem wendete Victor sich instinktiv ab und trat ein paar Schritte zurück. DAS war in Wahrheit das Problem, DAS war der Grund, warum es keinen Sinn ergab, mehr als die essentiellste Infrastruktur gegen die Übertragung zu isolieren: Selbst wenn zusätzliche Dinge auch während des Stromausfalls wie vorgesehen funktionierten könnten, würde weiterhin alles stillstehen, weil sich die Menschen während der Kadenz ausschließlich für die Sendung interessierten. Warum sich also überhaupt erst die Mühe machen? Sie umschwärmten die Monitore wie Motten das Licht. Das hieß alle außer den Erloschenen, die zwischenzeitlich ihre eigenen, oft unverständlichen Pläne verfolgten. Und natürlich auch außer ihm und seinen Arbeitskolleginnen vom Streetwork, die sich um die Erloschenen zu kümmern hatten. Aber sogar unter ihnen widerstand nicht immer jeder dem Ruf der Sendung. Und niemand machte ihnen daraus einen Vorwurf.

 

… weiterlesen in „Die Erloschenen“, ein Roman von Erik R. Andara. Erscheint am 30. Juni 2021

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