Der Turm war längst windschief und neigte sich der Abendsonne zu, warf tagsüber einen gebogenen Schatten, der über die Wellen schlängelte. Fels und Heide umgaben ihn auf der Höhe, zwölf Schritt über Kieselstrand und Brandung kalten Wassers der Meerenge, das im fortschreitenden Herbst bereits kleine Eisschollen mit sich führte. Als schweigender, gebeugter Wächter gemahnte der Turm an vergangene Zeiten. In jenen früheren Tagen hieß es sich gegen Stämme verteidigen, die brennend und mordend von Norden her kamen. Gegen sie erhob der Turm seine Wehr und zu jeder Zeit hielten damals grimmige Männer von dort oben Ausschau und blies einer von ihnen das Horn, sobald Boote gesichtet wurden, die Feinde herantragen mochten.
Lange war das her. Generationen waren dem Lauf des Lebens gefolgt, waren wie Wellen über das Land gezogen und über die See. Fehden zwischen den Klans gab es immer wieder, aber im Vergehen der Jahre und Jahrzehnte waren die aus dem Süden mit denen aus dem Norden übereingekommen. Es gab jetzt gemeinsame Herren, gemeinsame Könige und gemeinsame Ziele. Jene Lande nämlich, die noch weiter, viel weiter im Süden lagen, reich und so schutzlos, ahnungslos, wie taufrische Weiber.
Seither diente der Turm den Heimkehrenden, die mit Schätzen beladene Schiffe in die Meerenge lenkten, als Wahrzeichen. Hatten sie ihn erst passiert, lagen sichere Gestade vor ihnen. Den Turm selbst bemannten keine Krieger mehr, keine wachsamen Augen richteten sich nach Norden und aus dem Süden drohte keine Gefahr. In dem groben, dreistöckigen Mauerrund lebte jetzt nur ein Mann, das war Styrval, der mit den Schiffen schwere Beute heimgeholt, als Tribut einen Arm in der Fremde gelassen und sich von der Kriegsfahrt als reicher und angesehener Mann verabschiedet hatte.
Mit jenem Ansehen, freilich, ging es bergab, denn Styrval hielt sich von allen und allem fern. Kaum je sah man ihn unter Menschen, nur zum Zweck der Auffrischung seiner Vorräte. Sein Stand, durch Reichtum und Vergangenheit dem eines Edlen vergleichbar, forderte Einflussnahme, forderte Mitsprache im Thing und mehr Ausgaben, als nur für das Wenige, das er zum Leben brauchte. All dieser Verantwortung aber entzog er sich wortlos und wurde so zu einer Legende. Der alte Krieger im Turm, reich, geizig, gefährlich, schamlos. „Lasst ihn dort“, sagten manche. „Er hat zu viel gesehen, hinter den Wellen. Er ist für die Gemeinschaft untauglich.“ Viele aber, vor allem Jüngere, mochten dies nicht auf sich beruhen lassen und schimpften: „Knauser! Krüppel! Einmal werden wir uns holen, was er in seinem Turm hortet.“ Und natürlich gab es den einen und anderen, der tatsächlich den Versuch dazu unternahm. Deren Schädel trockneten, an Speeren aufgespießt, in der Salzluft der Küste.
Es war sein Recht, Heim und Besitz mit dem Stahl zu schützen. Wer hätte das bestreiten wollen? Ein alter, einsamer Wolf war Styrval, der sich gegen den Lauf der Zeit zu behaupten wusste, solange sein verbliebener Arm stark und seine Augen noch zielfest waren. Trotzdem, Styrvals Ansehen verwandelte sich zusehends in einen Ruf der Ruchlosigkeit, wenn auch weitaus mehr dazu beitrug, dass aus den Scharten des Turms in manchen klaren Nächten, unter dem Meer der kalten Sterne, ein eisiges, scharfes Licht drang, den Turm selbst als finstere Mitte eines Sterns hervorhob, der vielleicht Unnatürliches, sicher Unheilvolles verbarg.
In den Wintern, wenn die Meerenge bis auf eine schmale Fahrrinne zufror und der Frost in die Herzen drang, saßen Männer in schweren Pelzen um Feuer und tranken heißen Met, bestärkten sich dabei gegenseitig in wachsendem Unmut und fassten Gedanken in Worte, wie man Styrval zur Rede stellen, ihn zwingen sollte, dem aus der Fremde heimgebrachten Fluch zu entsagen. Nichts anderes als eine südländische Teufelei konnte es doch sein, was er hinter seinen Mauern verbarg. Unausgesprochene Angst verhinderte, dass je einer der Pläne umgesetzt wurde. Eine Teufelei von der Helle eines Sterns schließlich verhieß einen bitteren Tod, wenn nicht viel Schlimmeres. Aus eisbärtigen Gesichtern quollen Wolken von Atemdampf, wenn die Männer im Rausch unter freiem Himmel turmwärts schauten und still ihre Ohnmacht erkannten. Ungewissheit zersetzte ihren Mut, ließ sie ihre Schwäche erkennen.
Einer wusste davon zu berichten, wie Styrval einen Fürsten des Südens vor dem Tor seines Palasts erschlagen hatte und hernach alleiniger Erbe dessen Besitzes geworden war. Was mochte er in diesem Schatz gefunden haben? Einen bösen Zauber, verfluchtes Gold, ein Artefakt alter Mächte, die Sagen des Nordens kannten solcherlei in großer Zahl. Die Hörner eines Tieres aus der Anderwelt, die ihrem Träger Macht verliehen, ihn aber auch steinernen Herzens werden ließen, der eiserne Ring eines Elfenkönigs, der seinen Träger zu Goldhorten führte, zugleich aber andere zu ihm lockte, die ihm das Gold mit der Klinge entreißen würden, ein Mantel aus den Schwingen eines Feuerwurms, der seinen Träger in die Lüfte hob, ihn aber bald selbst in ein Wesen aus Feuer verwandelte. Soviel war allseits geläufig, dass ein jedes Ding dieser Art eine böse Kehrseite für seinen Finder bereithielt und der Kluge keinen Finger an die Geschenke der Machtvollen und der Lichtlosen legen durfte. Es mochte doch sein, dass Styrval die Anzeichen des Zaubers aus der Fremde nicht erkannt hatte, dass er also glücklos in eine Falle geraten war.
Als einzige Möglichkeit erwog man nun, dem alten Krieger den Kauf von Vorräten zu verweigern, sich also von ihm loszusagen, die letzten Bande der Gemeinschaft mit ihm zu lösen. Froh darüber, wenigstens dieser Handhabe folgen zu können, wandte man dem Anblick des Turms den Rücken zu und zog sich in die Wärme der Hütten zurück. Kein einziges Mal allerdings wurde der einhellige Beschluss einer Probe ausgesetzt. Als habe Styrval mit anderweltlichen Sinnen dem Ratschluss gelauscht, kam er in dessen Folge nie wieder in die Dörfer herab und wurde nur sehr selten noch gesehen, wenn er außerhalb seines Turms, am Rand der Klippe stehend, auf die weite See hinausschaute. Vielleicht brauchte er keine Nahrung mehr, vielleicht nährte ihn anderes.
Drei Jahre vergingen nach seiner Heimkehr und kaum noch ein Gedanke drehte sich um ihn. Er war für die Welt wie ein Toter. Wie einer, der nicht in die Hallen der Krieger, sondern in die Dunkelheit unter der Erde eingegangen war.
Im Frühjahr brachen die Schiffe zur Kaperfahrt auf. Man erwartete sie erst spät im Jahr zurück. Die Zahl der Schiffe wurde mit jedem verstrichenen Winter größer. Schon sprach man davon, im Süden eigene Reiche zu gründen, sesshaft zu werden, wo das Land so viel fruchtbarer war und alle Gegenwehr schwach. Die Könige des Nordens würden bald auch Könige dieser fernen Länder sein und wenn nicht, dann doch ihre Söhne. Mit ihnen würden auch die Götter des Nordens über den Süden herrschen. Denen zu Gefallen brachte man in jedem Herbst Sklaven aus den Südlanden in die Heimat und diese arbeiteten dort auf den steinigen Feldern, trugen selbst zum Bau der Schiffe bei. Unter ihnen herrschte große Furcht, vor den rauen Göttern der Nordleute, ja, aber noch mehr, wenn auch verborgen, vor dem was in Styrvals Turm hauste. Sie nämlich wussten, was es war. Dass sie beim Bestellen der Felder in der Nähe der Küste oft und immer öfter auf Schlangen stießen, verwunderte sie kaum, denn unter den Sklaven war Styrvals Turm als ein Tempel der Gehörnten Schlange bekannt.
Dass dieser Teufel noch vor ihren Göttern in den Norden gelangt war, so sagten viele, sei ein Beweis dafür, dass sie in der Unterwelt gefangen seien. Nun erst, meinten wenige, wüssten sie, warum ihre Götter es zugelassen hatten, dass sie hierher verschleppt worden waren. Es sei ihre Aufgabe und Pflicht, dem Bösen entgegenzutreten.
Der Beginn des Sommers brachte viel Regen mit sich. Unter diesem erweichte die Erde, Schlamm ließ die Sklaven bald knietief versinken. Unteres kehrte sich zuoberst. Schlangen, so zahlreich wie Maden in einem Leichnam, kamen darin zu Tage. Viele starben an ihren giftigen Bissen, auch Nordleute, oft deren Kinder, und Angst machte sich breit. Während ihre neuen Herren nicht wussten, wie es zu der Plage kam, sammelten sich die Entschlossensten unter den Sklaven um Hamrad, der unter ihnen den Einfluss eines Anführers hatte. „Bewaffnet euch! Mit Stöcken und Messern, allem, dessen ihr habhaft werdet. Heute Nacht gehen wir zum Turm“, rief er. In der Heimat war er ein Krieger gewesen, im Sold der Priesterschaft. Hierin sah er seine Gelegenheit, dem Schicksal zu dienen.
Sie traten spät in der Nacht zueinander, als ihre Herren fest schliefen, und gingen in den Regen hinaus. Starker Wind fegte ihnen Salzluft von der Küste entgegen. Auf dem Weg starben zwei Männer, von Schlangen in die Waden gebissen. Sieben erreichten die Anhöhe unter dem aufragenden Zahn, den Styrvals Turm ihnen darstellte. Kaltes Licht flackerte daraus hervor. Das Herz aus Dunkelheit erhob sich wie der Schatten eines Riesen vor den Männern. Hier oben war der Wind ein Sturm, der Eishagel mit sich trug. Blitze rissen den Himmel auf, Donner folgte. Der Turm erbebte darunter. Hamrad sah als Erster, wie aus den Wolken ein wirklicher Riese herabstieß, ihm voran eine Lanze aus blendendem Licht.
In den Hütten waren von dem Donnern Männer, Kinder und Frauen erwacht, die jetzt in die Wolken hinauf schauten. Sie sahen, wie einer der ihren, ein Gott des Krieges, zur Erde herabstieg. Er kämpfte mit dem Turm, der eine Schlange war, die Hörner trug und eisige Flammen versprühte. Der Lindwurm wand sich um den Leib des Riesen, beide verschlangen die Nacht. Blitze und Feuer machten den Himmel taghell und fahl wie das Gesicht eines Toten. Entsetzen griff um sich, als die Nordleute erkannten, dass alles Land um sie her von Nattern und Vipern kochte, das Erdreich brodelte, wie die sturmgepeitschte See. Schwerter, Lanzen und Schilde wurden ergriffen und ein verzweifelter Kampf um wenigstens das Leben der Kinder begann.
Aus dem Turm, jetzt ein in Stein gepanzerter Höllenwurm, trat Styrval den Männern entgegen. Seine Augen waren die einer Schlange, kalt, tödlich, unerbittlich. Gesicht und Hände des Kriegers waren von der Haut einer Echse überzogen, ebenso stark wie ein Hemd aus Eisenringen. Er warf sich, mit zwei langen Messern in den Händen, auf die Vordersten und stach sie blitzschnell nieder. Das Geräusch davon, ein Giiishhh, war selbst einer der Namen der Gehörnten Schlange im fernen Süden. Hamrad wusste, Styrval war nur ein Diener des Teufels, und sprang an ihm vorbei auf den nur gerade noch erkennbaren Eingang des Turms zu, zwängte sich durch die sich verengende Öffnung und wurde von dem Gemäuer verschluckt.
Draußen starben seine Männer, ebenso wie die Nordleute in den nahen Dörfern. Das Ringen des Riesen mit der Gehörnten Schlange erschütterte die Erde, den Himmel und die See. Ein Biss in den Hals lähmte den starken Arm des Kriegsgottes und er rief in den Himmel nach seinesgleichen um Hilfe. Im Angesicht seiner Niederlage verzweifelnd streckte er dem Biest seine linke Faust in den Rachen. Mehr noch verschwanden darin sein ganzer Arm und sein Haupt. Die Schlange fraß den Riesen bei lebendigem Leib.
Von seinen Leuten abgeschnitten, er hörte nur ihre Schreie, wankte Hamrad durch das Innere des Turms, der sich wie ein Wirbelsturm drehte. Er fand keine Treppe, keinen Aufgang zu höheren Ebenen, stattdessen füllte den Bauch der Schlange ein selbst turmhoher Kristall von Sternenhelle. Aus den Facetten des Steins ragte der schuppige Leib von Gish. Seine Herkunft lag hinter Winkeln im Inneren des Kristalls verborgen. Der Körper stak voran im Boden aus Fels, rührte darin, wie die Kelle im Hexenkessel, zuckte und wand sich, als vergewaltigte er die Erde selbst. Hamrad schrie und warf sich auf Gish. Sein Messer rutschte an dem Panzer ab. Nur mit Kraft klammerte er sich an den Schlangenleib, um nicht im Fels unterzugehen, zog sich aufwärts hin zu dem strahlenden Mantel des Kristalls.
Voller Blut, wenn auch selbst nicht blutend, stand Styrval über den Feinden seines Meisters und blickte zu ihm hinauf. Der Riese war im Maul der Schlange verschwunden. Um so größer war Gish, jetzt ragte er bis zu den Wolken auf, aus denen zu spät und hilflos Brüder und Schwestern des Gottes tauchten. Die Schlacht um den Norden war in Styrvals Augen bereits entschieden und er schrie im Triumph den Namen seines Herrn heraus. Die Nordleute in den Dörfern waren bis an die Türen ihrer Hütten zurückgewichen. Viele waren tot, viele lagen im Sterben. Sie erkannten, dass sie Zeugen des Untergangs ihrer Welt wurden.
Unterdessen hatte Hamrad einen Gedanken, wie er diesen noch abwenden konnte. Er erkannte, dass er den Kristall selbst durchdringen konnte und tat es. Die andere Seite fühlte sich kalt an, wenn auch nicht von einer Kälte, die den Körper frieren ließ, sondern die Seele. Als er zurückschaute, wirkte alles außerhalb des Kristalls fern, entrückt. Hamrad hatte die Welt die er kannte hinter sich gelassen, verbat sich, dem nachzusinnen und folgte dem schuppigen Strang in die Tiefe des Steins. Kriechend gelangte er von der einen Facette in die nächste, als würde er selbst seitwärts gekehrt und fand sich wieder in der Hölle. Eine Hölle, die nicht die Unterwelt war, sondern vielmehr eine zuvor unsichtbare Ebene des Alls. Gish erstreckte sich als ein Band, das alle Welten miteinander verband, zu weit, zu unendlich weit, um sein Ende, seinen Anfang je zu erreichen.
Hamrads Glaube kannte nur eine Welt und nur einen Himmel und eine Unterwelt. So war schon zu sehen was er sah, für ihn schlimmer als jedes Höllenfeuer hätte sein können. Es zerfraß sein Innerstes, zersetzte den Fels auf dem er all seine Überzeugungen gebaut hatte.
All seine Bemühung war vergebens. Vielleicht, wenn er gehandelt hätte, bevor Styrval den Kristall hatte nähren, ihm das Wachstum ermöglichen können, bevor der Riss in ihm und zwischen den Welten entstanden war. Jetzt war alles zu spät. Hamrad konnte sehen, wie in allen Welten gekämpft wurde und wie alle Welten miteinander in furchtbarem Streit lagen. Gish fraß an all diesen Welten. Gish fraß an ihm!
Beinahe zu spät erkannte Hamrad, dass seine Verzweiflung der Einfluss des Giftes der Gehörnten Schlange war. Letztlich war er den Einflüsterungen des Teufels erlegen, die allen Mut raubten und alle Zuversicht in Zweifel verkehrten. Gish hatte ihm eine Wahrheit gezeigt, aber diese Wahrheit trug doch eine Lüge in sich. Als Hamrad sich so ein Herz fasste und zu seinen eigenen Sinnen zurückfand, kehrte sich das Bild vor seinen Augen um. Was Äußeres war, wurde Inneres. Worin er sich befand, wurde worauf er schaute. Der Kristall. Gish schaute daraus hervor und ihm in die Augen, während zugleich sein Leib sich aus dem Stein und in die Erde drängte. Die Augen waren denen von Styrval gleich, waren ebenso kalt und ohne Erbarmen.
Ohne Zögern verschloss Hamrad seine Sinne für die Einflüsterungen der Bestie und hieb mit dem Griff seines Messers auf den Kristall ein, stach mit der Spitze der Klinge zu, hämmerte. Die Schläge ließen den Stein erklingen, es entstand ein zuerst nur feiner Riss, dann, mit anschwellendem Klirren, zerbarst der Kristall in Stücke von der Zahl der Sterne am Himmel. Hamrad wurde taub davon, fiel und verlor das Bewusstsein. Der Turm stürzte über ihm zusammen. Die Trümmer begruben auch Styrval unter sich.
Als im Herbst die Schiffe in die Meerenge einliefen, gab es keinen Turm, der sie vom Land her begrüßte. Die Dörfer in der Umgegend fand man verlassen vor. Die Überlebenden des Sommers waren fortgegangen, denn dieses Land würde sich niemals von dem Gift der Gehörnten Schlange erholen.
(c) Tobias Reckermann, 2014