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Brückenspiel

Der Brückenbogen war lang und dunkel und es führte kein anderer Weg drum herum. Eigentlich war es auch eher ein Tunnel als sonstwas, ein langer Schlauch mit niedrigem Deckengewölbe, geformt aus faustgroßen, grob behauenen Pflastersteinen und gekrönt von einem guten Meter Erdreich und Schotter. Obenauf saß ein Netzwerk aus Schienen, das direkt an den heimischen Zugbahnhof anschloss. Wenn auch nicht wirklich der einzige Weg, so war dieser Tunnel doch zumindest der einzige Weg, der Sinn machte, wenn man von zuhause aus zu dem unweit gelegenen Supermarkt wollte.

Im Sommer war alles gut, im Sommer waren die Tage lang genug, so dass ich abends noch schnell mit dem Fahrrad zu diesem Supermarkt rauschen konnte, wenn mich meine Mutter um die eine oder andere Kleinigkeit fürs Abendessen schickte. Auf dem Weg dorthin zog ich so schnell als möglich durch die dunkle Röhre, die in der Mitte immer verdächtig nach stechendem Urin und fauligem Sickerwasser roch. Dabei hielt ich vorsichtshalber den Kopf unten, damit ich nicht in die unzähligen niedrig hängenden Spinnweben an der Decke geriet.

Aber im Herbst, wenn die Abende allmählich früher anbrachen, war es eine gänzlich andere Sache, den Tunnel zu durchqueren. Es gab keine einzige Laterne auf dem beengten, von dicht wachsendem Liguster begrenzten Weg, der zu dem Tunneleingang führte. Die umliegenden Schrebergärten waren zumeist schon verlassen und das Licht hinter den Scheiben der Gartenhäuschen für den Rest des Winters erloschen. Eher früher als später kam es im Oktober also soweit, dass diese abendliche Fahrt in den Supermarkt zum Wettlauf mit dem ersterbenden Licht des Tages wurde, und die Dämmerung zum erbitterten Kontrahenten, von dem es sich auf keinen Fall einzuholen lassen galt. Aber egal, wie schnell ich auch in die Pedale trat, irgendwann gelangte ich jedes Jahr an jenen Punkt, ab dem keine Aussicht mehr bestand, das Rennen noch für mich zu entscheiden. Spätestens Ende Oktober war der Tag bereits schon so kurz geworden, dass ich es nicht mehr schaffte, am Rückweg noch genügend Licht zu haben, um den Tunnel gefahrlos durchqueren zu  können; dies war der Zeitpunkt, ab dem offiziell das Spiel begann.

Die Regeln desselben waren einfach  – Zähne zusammen und durch, und dabei hoffen, dass nicht genau in diesem Moment ein Zug über die Röhre donnert  – denn wenn er das tat, dann war man am Arsch. Der Einsatz für dieses Spiel, den aufzubringen mich eine unvorstellbare Menge Mut kostete, war also hoch. So hoch, dass es mir an manchen Tagen tatsächlich sinnvoller erschien, den viel, viel weiteren Weg über die Umfahrungsstraße zu nehmen und dadurch zu riskieren, von meiner Mutter für diese unverständliche Trödelei gehörig den Kopf gewaschen zu kriegen. Sollte es wirklich dazu kommen, ertrug ich es damals beschämt und wortlos, weil ich wusste, dass sie auf keinen Fall verstehen konnte, welcher Horror in den langen Herbst- und noch viel längeren Winternächten in dem finsteren Tunnel auf mich wartete. Ganz im Gegenteil, jede Erklärung meinerseits hätte in ihren Ohren nach einer traurigen Ausrede klingen müssen. Nicht, dass sie das so jemals zu mir gesagt hätte, ich vermutete es nur in den wenigen Momenten, in denen ich doch versucht war, mich ihr zu erklären, in ihren Blicken erkennen zu können. Also ließ ich es irgendwann einfach bleiben.

Aber es gibt natürlich kein Spiel, das zu spielen Sinn machen würde, wenn es keinen Gewinn zu ergattern gäbe; so selbstverständlich auch in diesem Fall. Es war das Gefühl, das einem beschert wurde, wenn die Finsternis erst einmal hinter einem lag, das den hohen Einstiegseinsatz so bittersüß machte. Wenn einem die weit in den Weg hinein hängenden Zweige der Weghecken im Vorbeifahren gegen die Schultern peitschten und man schließlich euphorisch auf die Straße zuhielt, die einen nach Hause brachte, dann war das mit nichts anderem zu vergleichen. Diese wenigen Meter Heldentum, von dem man nur selbst wissen, und das man auch nur so lange in seiner Brust tragen konnte, bis man wieder ins Licht der ersten Lampe bog und es dort irreal wurde, waren besser als alles, was man sich mit elf oder zwölf Jahren ansonsten so an bestandenen Abenteuern vorzustellen vermochte.

Warum? Ich werde euch sagen warum: weil es zuvor schreckliche Monstren zu bezwingen galt! In dieser Röhre wohnten bei Nacht nämlich die dunkelsten Wesen hinter den unverfugten Spalten zwischen den Steinen und warteten gierig darauf, sich am Rücken eines nichtsahnenden Passanten in unsere Welt hineintragen zu lassen. Ihr glaubt mir nicht? Dann wisst ihr ja jetzt, warum ich noch niemals zuvor jemanden davon erzählt habe. Ich muss ehrlich sagen, ich glaube ja mittlerweile selbst nicht mehr daran. Aber an jenen Abenden, wenn ich auf der kleinen Anhöhe stand, die Einkäufe erledigt und in einem Plastiksack von meinem Fahrradlenker hängend, der aufgrund der Schlagseite, die er durch sein Gewicht meinem Fahrrad verlieh, die Navigation im Tunnel für mich alles andere als einfach machen würde – vor allem bei der Geschwindigkeit, mit der da durchzufliegen plante – da war die Anwesenheit der rachsinnigen Geschöpfe für mich grauenerregende, herzschlaggaloppierende Gewissheit.

Was sie von mir wollten? Das konnte ich damals nicht sagen. Und wenn ich mich heute an diesen Tunnel erinnere, dann ist er nicht mehr, als eben ein Tunnel. Ich verstehe gleichzeitig aber auch, wie er für ein Kind mit viel zu viel Fantasie, das zusätzlich schon länger die – eigentlich untersagte – Horrorabteilung der Erwachsenenbibliothek mit List und Gerissenheit zu entern wusste, leicht zu einem durchlässigen, bedrohlichen Ort im Gefüge werden konnte. Ein anderer, gar nicht so kleiner Teil von mir wiederum meint mittlerweile, dass ich damals vielleicht auch einfach noch nicht so abgestumpft und auf die allgemein gültige Realität zugestutzt war, wie ich es heutzutage bin, und es auch sehr gut möglich wäre, dass das, was ich dort und damals spürte, durchaus seine Berechtigung gehabt haben könnte. Ich weiß es nicht. Vielleicht kehre ich eines Tages zu dieser heruntergekommenen Röhre zurück und vergewissere mich, was wirklich Sache ist.

Aber wieder zurück zu dem Spiel. Wenn ich also soweit war, meiner Angst zu begegnen, läutete ich meinen Sturzflug ins Ungewisse jedesmal mit dem gleichen Ritual ein, nämlich durch zweimaliges Betätigen meiner Fahrradglocke. Dann ließ ich mich über die Klippe des kurzen Abhangs fallen und raste schnurstracks auf den Tunnel zu. Der Dynamo surrte über die Felgen, darunter klapperten die Speichen, und der schwache, zittrige Glühdraht meines Vorderlichtes ließ den Tunneleingang nur umso mehr wie ein weit aufgerissenes, zahnloses Maul wirken. Der Eingang zur Dimension nebenan, der geduldig immerzu am gleichen Ort auf mich wartete ­– um mich zu verschlingen und direkt in die einsame Kälte des  finster dräuenden Abgrunds  zwischen den Sternen wieder auszuspucken … jetzt bitte keine Zug, alles, nur kein Zug, der die Unterführung grollend und rumpelnd überquerte!

Die dunklen Dinge im Inneren hingen sich sofort nach Eintritt an mein angestrengtes Keuchen, imitierten es zeitversetzt aus unzähligen Schlünden und hofften, mich so zu verwirren. Sie wollten mich ablenken, von dem, was sie planten. Das Echo aus ihren Mäulern deutete mir die weitläufigen Katakomben, die hinter den durscheinenden Steinen der beengten Mauern lagen; durch deren Ritzen sich, sobald ich in der Tunnelröhre ankam, sofort die biegsamen Extremitäten meiner Jäger schoben und die Verfolgung aufnahmen. Das Echo sollte darüber hinwegtäuschen, wie nahe sie in Wirklichkeit schon an mir dranhingen – nur um Haaresbreite zurück. Sie wussten, ich könnte mich mit dem einseitig gelagerten Gewicht der Tragtasche am Lenker nicht nach ihnen umsehen, um mich zu vergewissern. Ich würde dabei riskieren, zu sehr auf die Seite abzudriften und mit einer der Wände zu kollidieren. Aber dies war trotz allem noch immer die beste Möglichkeit, den Einkauf nach Hause zu transportieren! Ich weiß, wovon ich spreche, ich habe es auf alle anderen erdenklichen Arten versucht und bin kläglich gescheitert.

Ganz am Anfang habe ich zum Beispiel den Fehler gemacht, den Sack auf dem Gepäckträger festzuspannen. Einmal und nie wieder! Durch diesen dummen, katastrophalen Fehler sind sie eigentlich auch erst überhaupt auf mich aufmerksam geworden. Mein Fahrrad war nicht mehr das Jüngste und der Bügel meines Gepäckträgers war ausgeleiert. Dadurch habe ich damals den Einkauf verloren und musste mitten in dieser abscheulichen Röhre stehen bleiben, schließlich sogar umdrehen, um ihn wieder aufzuklauben. Das hat mich Zeit gekostet, viel zu viel Zeit! Die Kreaturen konnten so in Ruhe meine Witterung aufnehmen, während ich gebeugt die Lebensmittel vom übel riechenden Boden auflas; dadurch wussten sie von da an immer genau, wann ich ihre Welt betrat. Und dann, als ich endlich wieder aufstieg, war es bereits zu spät, sie hatten ihren Herrscher gerufen. Der Zug kam und donnerte mit voller Wucht über den Tunnel. Er erschütterte dabei das Gerüst dieses gebrechlichen Röhrensystems durch die Nacht so stark, dass ich tatsächlich fürchtete, es könnte vollends kollabieren und ich wäre auf ewig im Raum zwischen den Toren gefangen – völlig der Willkür seiner Bewohner ausgeliefert, ohne Aussicht, diesem Irrsinn jemals wieder entkommen zu können.

Seit jenem Tag war ich ständig auf der Flucht. Es war mir schmerzhaft bewusst, dass ich es mir kein zweites Mal erlauben könnte, mich in der Unterführung aufzuhalten, während über mir ein Zug mit seinen Vibrationen das Gefüge völlig zerbröselte. Es hätte mein sicheres Ende bedeutet. Und glauben sie mir, das Ende eines Unsterblichen – denn nichts anderes ist man in der Selbstwahrnehmung eines Kindes – ist auf keinen Fall ein erstrebenswertes Ziel!

Unter mir der besudelte Boden, über mir die bewegten Netze mit den unzähligen zuckenden Schatten der grotesk vergrößerten Arachnoiden, die sich mir ihren aufgeblähten, scheinschwangeren Leibern auf mich warfen und mich mit ihren Stichen lähmen und wehrlos als Opfergabe für die Bewohner der Lücken hinter der Wand zurücklassen würden. Ich trat wie wahnsinnig in die Pedale, ich schwitze bei jeder Außentemperatur wie ein Schwein und manchmal betete ich auch. Manchmal überholten sie mich und traten mir als zufällige Passanten entgegen, die mir erzürnt und unbeholfen den Weg zu versperren versuchten, sich meinem unaufhaltbaren Ritt entgegenzustellen versuchten, mich mit ihren augen- und mundlosen Gesichtern vor Furcht erstarren zu lassen versuchten. Aber ich schaute ihnen niemals direkt ins Antlitz, ließ mich niemals von ihnen stoppen und obsiegte so wieder und wieder und wieder. Ich stürmte – das Herz im Hals – unbeirrt und geradeaus durch den Abgrund. Egal, was auch passierte, im Tunnel selber durfte man niemals zögern, niemals zaudern!

Ich rauschte weiter und immer weiter und schließlich hinaus in die süße Abendluft, den Ligusterzweigen entgegen, die mich willkommen hießen und mir anerkennend auf die Schultern klopften. Der Einkaufssack mit der süßen Beute des Ausfalls hing sicher am Lenker und ich war letztlich immer der Sieger! Der glorreiche Triumphator über das durch-und-durch Böse! Gegen alle Wahrscheinlichkeit war ich immer und immer wieder derjenige, der als Letzter lachte, während ich die Dunkelheit strampelnd hinter mir zurückließ und ins Licht der heimatlichen Straße bog, um von dort aus aufgeputscht weiter nach Hause zu flitzen. Dort stopfte ich das Abendessen, das nur mir und meiner Furchtlosigkeit zu verdanken war, so schnell als möglich in mich hinein und verkroch mich dann in mein Zimmer, um von dem neuesten ergaunerten Recherchematerial aus der Horrorabteilung meiner Bibliothek mehr über den grauenvoll listigen Feind in Erfahrung zu bringen: das kolossale, die Sonne verdunkelnde, ewiglich gierig nach mir heischende Urwesen der Angst!

 

(erstmals erschienen als „Die Furcht, die unter dunklen Eisenbahnbrücken haust“ in „Die Phasen der Furcht“ auf www.phantastikon.de) 

(ERA 2017)