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DAS ALTE HAUS AM NORDRAND — LESEPROBE

~ Das alte Haus am Nordrand ~

 ein Roman von Erik R. Andara

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1

Durch die wogenden Äste eines entlaubten Baumes zeichnete Dämmerlicht die bernsteinfarbenen Schatten jener Tragödie, die einmal ihre Beziehung gewesen war, an die gegenüberliegende Wand; und drei, vier Herzschläge lang fand sich Valentina außerstande, wegzusehen. Das Wohnzimmer roch alt und muffig, Staub hing flirrend in der Luft. Mit einem Ächzen richtete sie sich schließlich auf, strich sich das Haar aus dem Gesicht, nicht ganz sicher, ob sie geschlafen hatte. Sie schüttelte den Kopf, um etwas klarer zu werden – irgendwo läutete ein Telefon. Valentina blickte zum mahagonifarbenen Beistelltisch, auf dem nach wie vor ihre Füße ruhten – daneben lag ihr Handy, das Display dunkel. An den Stellen, mit denen sie bisher nicht in Berührung gekommen war, überzog eine dicke Staubschicht die Tischplatte, schimmerte fremd und unnahbar im Zwielicht des zu Ende gehenden Tages. Gänzlich unbeeindruckt lärmte indes das Telefon weiter vor sich hin und wollte überhaupt nicht mehr verstummen.

„Was zum …“, entfuhr es ihr. Sie zog die Beine vom Tisch und wirbelte dabei eine Wolke auf, die ihr in die Nase stieg und sie beinahe zum Niesen brachte.

„Gregor!“, fluchte sie, als sie wieder frei Luft bekam, und taumelte hoch. Aber woher sollte er wissen, wo sie steckte? Sie betrachtete das unbeleuchtete Display ihres Mobiltelefons. Der Nachtdienst saß ihr in allen Knochen, bleiern versuchten ihre Glieder sie zurück auf den Fauteuil zu ziehen. Sie widerstand. Gregors Nummer hatte sie bereits vor Tagen geblockt, und falls das, was da ohne Unterlass weiter vor sich hin ratschte, von der Festnetzleitung ihres Vaters kam, dann hatte sie selbst bis gerade eben nichts von deren Existenz gewusst. Valentina seufzte, griff sich ihr Handy und tapste aus dem Wohnzimmer hinaus.

Der Flur begrüßte sie fensterlos und dunkel, ermöglichte es ihr in den ersten Momenten kaum, die Hände vor Augen zu sehen. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase. Ammoniak? Von irgendwoher drang ein Wispern zu ihr – unverständliche Worte umfingen sie klebrig wie Spinnweben. Valentina tastete sich den Weg vorwärts, dem Schrillen entgegen. Die Linke hielt sie dabei von sich gestreckt, um in der Düsternis mit keinem der lauernden Möbelstücke zu kollidieren.

„Wer ist da?“, rief sie, als sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, schalt sich aber im nächsten Moment selbst eine Närrin. Das Haus war alt, die Wände dünn, die weibliche Stimme, die sie zu vernehmen glaubte, musste einer Nachbarin gehören. Inzwischen war sie dem Telefonläuten so nahe gekommen, dass sie sich direkt davor befinden musste. Ihre Augen hatten sich zwar an die Dunkelheit im Flur gewöhnt, trotzdem konnte sie nicht mehr als gedrungene Schemen erkennen. Vorsichtig bückte sie sich, fingerte nach der Kommode, deren Umrisse sich nur widerwillig vor ihr aus der Dunkelheit schälten. Das Läuten kam offenbar genau von dort. Und tatsächlich fand sie darauf etwas, das sich nach vibrierendem Kunststoff anfühlte. Sie schloss die Finger darum und hob ab, brachte das nervtötende Klingeln dadurch zum Ersterben. Sie presste sich das, was sie für die Hörmuschel hielt, ans Ohr – dem kühlen Plastik entströmte zuerst bloß ein fernes Rauschen.

„Hallo?“, fragte sie mit belegter Stimme, was das Wispern, das sie nach wie vor in der Dunkelheit umgarnte, erst recht anzustacheln schien: Hallo? Hallo? Hallo?, echote es durch den Flur – die ersten Worte, die Valentina deutlich verstehen konnte. Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie sie wirklich gehört oder ihr die Akustik in der lichtlosen Umgebung einfach einen Streich gespielt hatte.

„Jetzt sage ich dir mal was, du dumme Schlampe, was denkst du eigentlich, wer du bist, mich hier derart versauern zu lassen. Wenn ich anrufe, hebst du gefälligst sofort ab. Capisci?“

Vor Schreck entglitt Valentina der Hörer und krachte auf die Kommode. Aber immer noch konnte sie die Stimme, die ihr so grausam vertraut vorkam, sprechen hören.

„Du hättest nicht zurückkommen sollen. Hättest bleiben sollen, wo ich dich nicht finden kann. Du und ich, wir haben noch eine Rechnung offen, Schwesterherz …“

Es war nicht Gregor, dessen verzerrte Stimme aus der Muschel drang; mit Gregor hätte sie schon irgendwie umgehen können. Es war schlimmer. Viel, viel schlimmer noch, als sie es sich in ihren furchtbarsten Träumen hätte ausmalen können. Mit einem Schlag schien der Flur dunkler, länger. Kalter Wind kam auf, erzeugte ein leise pfeifendes Geräusch, als würde er irgendwo über ihr durch hohe Deckengewölbe streichen. Gewölbe, die es unmöglich geben konnte. Gleichzeitig fühlte Valentina, wie die düsteren Konturen der Mauern schwer auf ihr lasteten, sie zu erdrücken drohten. Das abendlichtgeflutete Wohnzimmer, das sich eigentlich gleich am anderen Ende des schmalen Gangs befand, keine drei Meter von ihr entfernt, schien plötzlich unmöglich weit weg zu sein. Wie war sie bloß hierhergekommen? Immer noch wisperte diese weibliche Stimme aus undefinierbarer Nähe. Aus dem Augenwinkel nahm Valentina eine Bewegung wahr, einen Lichtschimmer, der durch die Dunkelheit zu ihr drang. Durch einen runden Durchgang, etwa zwei Meter weiter den Flur hinab, erkannte sie einen Raum, bei dem es sich nur um die Küche handeln konnte. In ihr war der Kühlschrank geöffnet worden und gab nun sein mattes Licht an die nächste Umgebung ab. Jemand stand davor: jemand Dunkles, jemand Unbeschreibliches, dessen Konturen wie Tinte in den ohnedies schwachen Schein des Kühlschranklichts verliefen und ihn zusätzlich trübten. Das Kühlgebläse sprang an, füllte die Wohnung mit seinem Summen. Der schwarze Umriss beugte sich zum offenen Kühlschrank vor, dabei wurde der stechende Duft von Ammoniak so intensiv, dass Valentinas Augen zu tränen begannen. Nicht. Sieh nicht hin, wisperte die Frauenstimme, nur um sich gleich darauf wieder in unverständlichem Kauderwelsch zu ergehen.

„Wer ist da?“, fragte Valentina – ihre Stimme kaum mehr als ein nervöses Flattern. Der Schatten vor dem Kühlschrank hielt inne, so als wäre er sich nicht sicher, ob er jemanden gehört hätte. Sieh nicht hin. Geh, verlass dieses Haus. Du bist hier nicht sicher, wisperte die weibliche Stimme direkt neben Valentinas Ohr.

„Gib gefälligst Antwort, wenn ich mit dir spreche, oder muss ich erst kommen und dich daran erinnern, wie man sich in dieser Familie benimmt, kurva?“, drang knisternd die Stimme ihres Bruders Konstantin durch den Telefonhörer. Ihres verstorbenen Bruders Konstantin! Wie gebannt stand Valentina im Flur und konnte keinen Finger rühren. Sie starte dem finsteren Umriss in der Küche entgegen, und obwohl sie kein Gesicht in dieser Abwesenheit von … von allem erkennen konnte, war sie sicher, dass dieses grausame Nicht-Ding sie ebenfalls anblickte. Das Summen des Kühlschranks war inzwischen so laut geworden, dass sie es bis in die Knochen spüren konnte; ihr gesamter Körper erbebte im Einklang damit. Und dieser Geruch! Dieser scharfe Geruch! Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihre Augen brannten davon. Das Wispern der weiblichen Stimme klang inzwischen beinahe panisch, aber Valentina konnte kein Wort davon verstehen.

Dann ein Klopfen – laut und deutlich: Knöchel auf Holz. An der Tür eine Stimme: „Hallo? Frau Marin? Sind sie da?“, rief jemand von draußen nach Valentina. Und mit einem Schlag löste sich die Finsternis auf: das dunkle Ding verschwand, als wäre es niemals dagewesen. Das Wispern verklang, und aus dem baumelnden Telefonhörer drang leise tutend ein Freizeichen, als hätte sich Konstantin niemals am anderen Ende der Leitung befunden. Wie sollte er auch? Er war seit über zwanzig Jahren tot! Gefallen in einem sinnlosen Krieg, in den ziehen zu müssen er sich unbedingt eingebildet hatte. Und? Und?? Was hat es dir gebracht, du dummer Wichser?, dachte Valentina zornig. Dabei war dieses Kapitel ihres Lebens nun wirklich abgeschlossen, lag so weit zurück in der Vergangenheit, dass jede Wiederbelebung sinnloser Selbstgeißelung gleichkäme. Und trotzdem … und trotzdem war da seine Stimme am Telefon gewesen …

„Frau Marin?“, erklang es erneut von jenseits der Tür. Valentina fuhr herum, griff nach der Kante der Kommode, um nicht ins Taumeln zu geraten. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie zu schnell aus großer Tiefe aufgetaucht und ihre Ohren hätten sich just diesen Moment mit einem leisen Ploppen dem niedrigeren Luftdruck angeglichen, der hier oben herrschte. Alles fühlte sich plötzlich leichter an, als hätte sich der Horizont, den sie im dunklen Flur ja gar nicht sehen konnte, von einem Augenblick auf den nächsten verschoben.

„Ja, ich bin hier! Wer ist dort?“, rief sie. Ihr war schwindlig.

„Nur ich, ihr … der Nachbar ihres Vaters. Würden sie die Tür öffnen? Ich bräuchte kurz ihre Hilfe. Dauert auch nicht lange.“

Valentina fiel auf, dass auch der Gestank von Ammoniak verblasst war, nun roch sie bloß noch Staub und den moschusartigen Geruch, den ihr Vater – obwohl laut Notar seit über einem halben Jahr tot – in der Wohnung hinterlassen hatte. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie es als kleines Mädchen gehasst hatte, wenn er sie, in eine frische Duftwolke seines heißgeliebten Pitralon gehüllt, an sich drücken wollte. Valentina starrte in die Küche. Der Kühlschrank stand immer noch offen und sonderte blasses Licht aus seinem Inneren ab. Aber diese unmögliche, diese bedrohliche Abwesenheit, die sie bis eben noch direkt davor zu erkennen geglaubt hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich war Valentina felsenfest davon überzeugt, dass sie das alles nicht gesehen hatte, dass ihre hoffnungslos überspannten Nerven ihr einen wilden Streich gespielt hatten. Sie griff nach dem leise tutenden Telefonhörer und legte ihn unsanft zurück auf die Gabel. Dann wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich langsam in Bewegung, um nachzusehen, wer da vor der Tür nach ihr verlangte.

So hatte sie sich das Alles nicht vorgestellt. So nicht! Eigentlich wollte sie hier nur ein paar Tage unterschlüpfen, bis sie eine neue Bleibe gefunden hatte. Egal, in welchem desolaten Zustand sich die ehemalige Wohnung ihres Vaters auch befand, alles war besser, als in ihre gemeinsame Wohnung mit Gregor zurückzukehren. Und Ursula hatte sie inzwischen auch lange genug genervt. Zwei Wochen auf ihrem Sofa waren wahrlich lange genug gewesen. In den letzten Tagen hatten sie sich nur noch gezofft; wegen nichts, wegen Kleinigkeiten. Vor drei Tagen hatte sich Ursula etwa aufgeregt, dass Valentina ihr ständig die Chips wegfresse, und – als sei das noch nicht genug – Ali, ihrer derzeitigen Liebschaft, schöne Augen mache, wenn sie morgens bloß im Nachthemd ins Bad torkelte. Spätestens da hatte sie gewusst, dass diese Notfalllösung nicht mehr lange gutgehen würde. Und als dann vorgestern dieser Notar angerufen und ihr vom Testament ihres Vaters und der dazugehörigen Wohnung erzählt hatte, war ihr das beinahe wie ein Zeichen des Himmels erschienen. Aber es war alles viel zu schnell gegangen, als dass sie bisher angemessen darüber nachdenken und es hätte hinterfragen können. Ihr Vater! Wie lange hatte sie zuvor nicht mehr an ihn gedacht? Valentina kam es wie eine halbe Ewigkeit vor.

Sie drehte den Schlüssel, den sie im Schloss stecken hatte lassen, als sie nach dem Nachtdienst hier angekommen war, und öffnete mit Schwung die Tür. Davor erwartete sie ein alter, zauselköpfiger Herr: etwa ein Meter sechzig groß, mitternachtsblaue Hornbrille auf der Nase und mit schlohweißem Haar. Er grinste über das ganze Gesicht, was die Falten in seinen Augenwinkeln wie fein gewobene Spinnennetze wirken ließ, die sich über seine Wangen und Schläfen ausbreiteten.

„Hallo“, sagte er. „Sehr erfreut. Ihr Vater und ich waren  … nun ja, würde ich behaupten, wir wären gute Freunde gewesen, wäre das eine Lüge. Aber wir haben über zwölf Jahre Tür an Tür gewohnt. Wozu macht uns das wohl?“

„Zu Nachbarn?“, fragte Valentina und musterte skeptisch den kleinwüchsigen Herrn im burgunderroten Pullover. Verlegen griff der nach seiner Brille und schob sie mit zittriger Hand zurecht. Beinahe tat es Valentina nun leid, so schroff zu ihm gewesen zu sein. Immerhin war er nur ein ungefährlicher, alter Mann, der bei irgendetwas ihre Unterstützung brauchte. Das hatte er doch gesagt, oder? Dass er ihre Hilfe bei etwas brauche?

„Also, was kann  ich für Sie tun?“, fragte sie ihn und bemühte sich, dabei einen etwas sanfteren Ton anzuschlagen.

Der Alte hob einen gefalteten Zettel, den er in der Hand hielt – einen Brief, wie Valentina gleich darauf erkannte.

„Was ist das?“, fragte sie.

„Wir …“, der alte Mann zögerte, stierte sie plötzlich aus weit aufgerissenen Augen an, so als wäre er entsetzt über das, was gerade seinem Mund entschlüpft war. Dabei war es überhaupt nichts Verfängliches gewesen. „ICH ….“, fuhr er dann fort, und betonte es so, als ob es überaus wichtig wäre, dass Valentina verstünde, dass ihm ein peinlicher Fehler unterlaufen sei, als er von einem Wir gesprochen hatte. „Ich habe ein leckendes Rohr im Badezimmer. Nichts Tragisches, also nichts, dass mir die Wohnung unter Wasser zu setzen droht oder so, zumindest nicht so schnell, aber … der Installateur“ … Neuerlich wedelte er mit dem Zettel vor Valentinas Nase herum, um damit seine Worte zu unterstreichen. „Also der Installateur hat gemeint, dass er auf jeden Fall auch in die Nachbarwohnung muss, also in Ihre Wohnung. Ich darf doch davon ausgehen, dass es jetzt Ihre Wohnung ist? Sie sehen Ihrem Vater aber auch wirklich sehr ähnlich, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ich habe mich vorhin gefreut, als ich Sie im Flur erkannt habe.“

„Was Sie nicht sagen“, fiel ihm Valentina ins Wort. Die ganze Situation überforderte sie ehrlich gesagt etwas. Außerdem konnte sie sich nicht daran erinnern, den kleinen Mann jemals zuvor getroffen zu haben. Aber sie war auch wirklich müde gewesen, als sie sich früher am Tag ins Haus geschleppt hatte.

„Es tut mir leid, Herr …“ Valentina zögerte. Hatte der Alte seinen Namen genannt und sie hatte ihn bloß vergessen?

„Rudineck“, half ihr der kleine Mann lächelnd aus und rückte sich abermals die verrutschte Brille am Nasenrücken zurecht. „Meine Verehrung!“

„Herr Rudineck, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir das ein anderes Mal besprechen? Ich bin das erste Mal hier und muss mich noch etwas zurechtfinden. Ich glaube auch nicht, dass ich heute schon bleiben werde …“ Das würde sie sogar ganz sicher nicht! Alleine beim Gedanken daran, die Nacht in dieser verwunschenen Wohnung zu verbringen, lief es Valentina eiskalt den Rücken hinunter.

Der alte Mann musterte sie aufmerksam durch seine dicken Brillengläser. Valentina fiel das helle Grau seiner Augen auf, die sich plötzlich so unverwandt in sie bohrten, dass es ihr unangenehm war.

„Natürlich, natürlich … wo bleiben bloß meine Manieren? Kommen Sie erst einmal an. Und wenn es Ihnen dann gelegen ist, seien Sie doch so lieb und sagen Sie mir Bescheid, wie wir weitertun wollen. Ich habe mich wirklich gefreut, Sie vorhin heimkommen zu sehen. Ich habe schon gedacht, ich müsste mich wieder mit dieser vermaledeiten Hausverwaltung herumschlagen. Sie ahnen ja gar nicht …“ Der Alte unterbrach sich selbst und schenkte Valentina dann ein zögerliches Lächeln; beinahe so, als hätte er selbst gerade mitbekommen, dass er ins Schwafeln verfiel. Valentina hatte ihm auch gar nicht mehr richtig zugehört. Nicht, nachdem er von ankommen gesprochen hatte. Was meinte er bloß damit? Ursprünglich hatte sie geplant, hier nur für ein paar Tage Unterschlupf zu suchen, bis sie etwas Besseres auftäte. Sie wollte sich bloß in der Wohnung umsehen, sich darüber klar werden, in welchem Zustand sie war und erkunden, ob sich etwas von Wert darin befand. Etwas, das sich möglichst rasch zu Geld machen ließe. Denn das war es, was sie jetzt am Dringendsten benötigte, nachdem Gregor klammheimlich ihr Konto leergeräumt hatte: Geld, um über die Runden zu kommen, ohne ständig ihre Freunde anpumpen zu müssen. Aber ansonsten bedeuteten ihr weder diese Wohnung noch ihr Vater etwas. Er hatte sie und ihre Mutter verlassen, als sie noch ein ganz kleines Mädchen gewesen war. Er war bereits zuvor so gut wie niemals da gewesen, aber danach hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört – bis eben vor zwei Tagen der Notar sie wegen seiner Hinterlassenschaft kontaktiert hatte. Valentina plante nicht, ihrem Vater den Verrat, den er in ihren Augen vor all den Jahren begangen hatte, jemals zu vergeben. Zumindest nicht bloß deswegen, weil sie nach seinem Tod seine desolate Wohnung überschrieben bekam. Auch wenn es ihr bis gerade eben noch wie Rettung aus höchster Not erschienen war.

„Na gut“, verkündete der alte Mann, der sich bei ihr als Herr Rudineck vorgestellt hatte. „Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Bitte klingeln Sie einfach, wenn Sie etwas Zeit für mein Anliegen finden. Und auch, falls Sie irgendwelche Fragen haben oder Unterstützung benötigen oder auch einfach nur tratschen wollen. Ich warte Ihnen auch immer gerne mit frischem Kaffee auf, wenn Ihnen der Sinn nach etwas Gesellschaft steht. Zögern Sie nicht, rüberzukommen. Ich bin so gut wie immer zuhause. Aber jetzt erst einmal auf Wiedersehen. Wir sehen uns bald, hoffe ich.“

„Herr … Herr Rudineck, darf ich Ihnen eine Frage stellen?“

Der alte Herr, der sich eben dazu angeschickt hatte, nach Hause zu gehen, hielt noch einmal inne und schenkte Valentina ein freundliches Lächeln. „Aber natürlich“, antwortete er. „Was liegt Ihnen denn am Herzen, mein Kind?“

„Ich weiß, das hört sich jetzt vielleicht seltsam an, aber … haben Sie eine Frau?“

Kaum hatte Valentina die Frage Valentinas ausgesprochen, entglitten dem weißhaarigen Mann die Züge, als hätte sie ein völlig ungebührliches Anliegen vorgebracht. Seine Mundwinkel sackten nach unten, seine Augen wirkten hinter den Brillengläsern fassungslos. Flugs bekam der alte Herr jedoch sein Gesicht wieder unter Kontrolle, und als er gleich darauf den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, zeugte nur noch ein Zucken unter dem linken Auge davon, dass er kurzzeitig am falschen Fuß erwischt worden war.

„Warum wollen Sie das denn wissen, meine Liebe?“

„Ich dachte … ich dachte, ich hätte eine Frau in der Nebenwohnung sprechen gehört“, rechtfertigte sich Valentina, der die Schatten, die über die Züge des Alten gehuscht waren, keinesfalls entgangen waren. Instinktiv wollte sie vor ihm zurückweichen, während sie sprach, zwang sich aber dazu, an Ort und Stelle zu verharren und das aufgesetzte Lächeln beizubehalten.

„Hmmm, da haben Sie sicher nur meinen Fernseher gehört. Ich werde wohl im Alter etwas schwerhörig und habe ihn manchmal etwas laut laufen. Mein Frau ist vor vier Jahren verstorben, die können Sie also unmöglich gehört haben.“

„Das tut mir leid“, schoss es aus Valentina, der die Begegnung mit Herrn Rudineck zusehends unangenehmer wurde.

„Also dann …“, verkündete der Alte, fast so, als könnte er die Gedanken der jungen Frau lesen. „Ich habe Sie schon viel zu lange aufgehalten. Ich würde mich allerdings freuen, wenn wir uns demnächst tatsächlich wiedersehen. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wie wir wegen des Rohrs weiter vorgehen wollen. Bis dahin wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Zeit. Schön, Sie kennengelernt zu haben.“

Herr Rudineck deutete eine kleine Verbeugung an und machte dann am Absatz kehrt, um gleich darauf linkerhand durch die Tür der Nachbarswohnung zu verschwinden. Weder war Valentina bis eben aufgefallen, dass sie die ganze Zeit über offengeblieben war, noch dass tatsächlich – wie er gesagt hatte – dahinter der Fernseher relativ laut lief und die Fetzen eines Streitgesprächs zwischen einem Mann und einer Frau auf den Flur heraus drangen. Dann schloss sich die Tür hinter dem alten Mann und ließ Valentina alleine zurück.

Verloren blickte sie den Flur hinab. Herr Rudineck hatte den leisen Geruch von Kernseife und Limette hinterlassen. Sie drehte sich um und starrte dem Zwielicht entgegen, das immer noch in der ehemaligen Wohnung ihres Vaters auf sie wartete. Bloß für ein paar Nächte, sagte sie sich. Nur bis sie etwas Besseres gefunden hätte. Neuerlich blickte sie den abgewohnten Flur hinab und versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen, als mit einem leisen Klacken das Licht verlosch. Ein leiser, spitzer Schrei … Valentina brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie selbst ihn von sich gegeben hatte; aus purem Schrecken darüber, dass sie ohne Vorwarnung der Dunkelheit ausgesetzt worden war. Sie beeilte, sich, zu dem dunkelrot glimmenden Punkt an der Wand zu kommen, der den Lichtschalter markierte, und drückte ihn dann so fest, dass er ein deutlich vernehmbares Knirschen von sich gab. Als im nächsten Moment die Lampen wieder angingen, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Ihr Puls schlug so schnell und fest, dass sie ihn bis in den Unterkiefer spüren konnte. Und in diesem Augenblick fällte sie eine Entscheidung: Nein, auch wenn es völlig irrational war, sie würde sicher nicht hier schlafen. Lieber ging sie zu Ursula zurück und kroch reumütig vor ihr zu Kreuze, damit sie dort noch ein paar Nächte auf dem Sofa verbringen konnte. Alles wäre besser, als dieses finstere Höllenloch von einer Wohnung, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Eigentlich gab es dabei auch nur ein klitzekleines Problem: Die Tasche mit ihren wichtigsten Kleidungsstücken und den Toilettenartikeln, die sie vorsorglich mitgebracht hatte, lag nach wie vor im Wohnzimmer.

Valentina gab sich einen Ruck und beugte sich vor, um durch den Türrahmen in die Wohnung zu greifen. „Bitte“, flüsterte sie, während sie nach einem Lichtschalter tastete, „bitte, bitte, bitte. Mach, dass der Strom an ist.“ Nachdem sie vorhin angekommen war, hatte sie gar nicht dran gedacht, das zu überprüfen. Weil es draußen noch zu hell gewesen war, hatte sie einfach darauf vergessen. Als sie gleich darauf endlich den Schalter fand und ihn energisch betätigte, begann sie beinahe zu weinen, weil an der Decke tatsächlich eine Glühbirne aufleuchtete. Erneut schalt sie sich selbst eine Närrin, weil sie sich hier so kindisch aufführte. Aber nichtsdestotrotz beeilte sie sich, so rasch wie möglich ins Wohnzimmer zu kommen und die paar Sachen, die sie bei ihrer Ankunft gedankenlos auf dem Sofa verteilt hatte, zurück in die Tasche zur raffen und danach beinahe schon kopflos die Flucht zu ergreifen.

Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, die Tür abzuschließen, sondern zog im Vorbeistürmen einfach den Schlüssel ab und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen. Als sie über den Hausflur den Stufen entgegenhetzte, die sie hinab ins Erdgeschoß und aus dem verfluchten Haus hinausbringen sollten, vernahm sie ein Frauenlachen aus der Wohnung, in der Herr Rudineck lebte. Der Fernseher – hoffte sie, aber darauf gewettet hätte sie nicht. Dabei versuchte sie, nicht an ihren toten Bruder zu denken, und dass die Schimpftirade, die sie vorhin am Telefon über sich hatte ergehen lassen müssen, viel zu vertraut geklungen hatte. Mehr als zwei Jahrzehnte waren vergangen, seitdem er gestorben war, und trotzdem konnte sie beim bloßen Gedanken an ihn immer noch spüren, wie ihr die Beine zu zittern begannen.

Während sie über die Stufen weiter nach unten hetzte, gingen draußen die Straßenlaternen an. Ihr orangefarbenes Licht verfing sich in den kahlen Ästen der Bäume vor dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite standen mehrere Gebäude. Aber hinter keiner einzigen der Scheiben war die Wohnungsbeleuchtung an. Über den bleichblauen Abendhimmel zogen schwarze Wolken. Nicht mehr lange, dann wäre die Nacht angebrochen.

Als Valentina endlich im Erdgeschoss ankam, hoffte sie, nie wieder in dieses Haus zurückkehren zu müssen. Irgendjemand Anderer sollte die Wohnung für sie zu Geld machen. Egal wer, Hauptsache, sie selbst blieb davon verschont, jemals wieder durch diese Tür zurückkehren zu müssen. Auch wenn sie keinerlei Plan hatte, wen sie darum bitten könnte.

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2

Kurz vor halb sieben deckte Ernst Rudineck wie jeden Abend den Tisch für zwei Personen. Im Hintergrund flackerte Sturm der Liebe über den Bildschirm eines uralten Röhrenfernsehers der Marke Blaupunkt, der derart auf der Anrichte platziert war, dass man ihn von der ganzen Küche aus gut sehen konnte. Allerdings hatte der alte Mann den Ton vorsorglich so leise gestellt, dass er hören könnte, falls seine Frau Elke zu ihm spräche – beziehungsweise, damit er die einzelnen verständlichen Wörter aufschnappen könnte, die sie manchmal von sich gab, ehe sie vom restlichen Flüstern und Wispern wieder verschluckt würden.

„Der Tochter von Aleksandar hast du aber einen gehörigen Schrecken eingejagt. Hat gezittert wie Espenlaub. Hat mir leid getan, die Kleine“, sagte er, nachdem er das Besteck fertig ausgelegt hatte. Dann stapfte er zum Herd, um dort den Deckel eines großen Topfes anzuheben. Er wartete, bis sich die aufgestiegene Dampfwolke verflüchtigt hatte, dann beugte er sich vor und rührte mit einem großen Kochlöffel im sämig-dunkelroten Inhalt. Der aromatische Duft von Zwiebel und süßer Paprika machte sich in der Küche breit, Herr Rudineck leckte sich genüsslich über die Lippen und seufzte.

„Ich weiß ja nicht, wie es um dich steht, aber ich verhungere gleich.“ Er legte den Kochlöffel aus der Hand und zog sich die Brille vom Nasenrücken, um mit einer Ecke der rosageblümten Schürze, die er trug, die beschlagenen Gläser zu reinigen.

„Na dann“, seufzte er, nachdem er die Brille wieder auf seiner Nase hatte. „Dann wollen wir mal essen.“ Er schaltete die Herdplatte ab, griff sich das rot-weiß karierte Geschirrtuch und trug den Topf damit zum Esstisch, um ihn dort auf einem dicken Korkuntersetzer abzustellen. Dabei hielt er sich penibel ans Ritual, tätigte jeden einzelnen Handgriff ganz genau so, wie Elke es gemacht hatte, als sie noch am Leben gewesen war.

„Siehst du?“, verkündete er und zog dann den Deckel vom Topf. „Gulasch mit Nockerl, eines deiner Leibgerichte. Vielleicht magst du ja heute kommen und mir beim Essen Gesellschaft leisten?“

Kurz stand Herr Rudineck still und lauschte, ob seine Frau etwas dazu zu sagen hätte. Im Hintergrund nahm murmelnd die Telenevola ihren vorhersehbaren Gang – Folge 2700-irgendwas. Herr Rudineck hatte diese Serie noch niemals ernsthaft angesehen. Wenn er danach gefragt würde, müsste er sogar eingestehen, dass sie ihm ziemlich auf die Nerven ging. All die Heulerei und Knutscherei, die überzogenen Gesten, der steife Sex und geheuchelten Plattitüden der versammelten Besetzung hingen ihm meist bereits wenige Minuten nach dem Vorspann zum Halse heraus. Aber neben der Barbara-Karlich Show war das die Lieblingssendung von Elke gewesen, und er glaubte zu wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu ihm kam, höher war, wenn sie im Hintergrund lief. Aber egal, wie lange er auch lauschte, heute war da nichts; bloß die monoton vor sich hin plätschernden Dialoge der kitschigen Fernsehshow. Herr Rudineck räusperte sich enttäuscht. In Wahrheit hatte er das erwartet, nachdem er Elke vorhin, als Aleksandars Tochter dagewesen war, so laut wie schon lange nicht mehr sprechen gehört hatte. Sie musste der Kleinen einen Heidenschrecken eingejagt haben, so bleich, wie die gewesen war, als sie ihm die Tür öffnete.

Herr Rudineck schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, dass die junge Frau hier aufgetaucht war. Nach dem Tod von Aleksandar hatte sich das Haus etwas beruhigt, zumindest hatte er seitdem den Wanderer weder gesehen noch gespürt. Alleine beim Gedanken an ihn stellten sich seine Nackenhaare auf. Er hoffte für die Kleine, dass sie in der Wohnung drüben keinem seiner Gesandten begegnet war. Auszuschließen war das allerdings nicht. Aleksandar hatte immer eine ganz besondere Beziehung zum Wanderer unterhalten, von der er Herrn Rudineck niemals über das Notwendigste hinaus erzählt hatte. Mehr hätte er aber auch gar nicht wissen wollen – und meist war ihm sogar das Wenige, das Aleksandar Marins Lippen immer nur dann entschlüpft war, wenn er wieder einmal über den Durst getrunken und sich nach nachbarlicher Vertrautheit gesehnt hatte, zu viel an Information gewesen. Er wollte mit dieser schrecklichen Gestalt nichts zu tun haben, er wollte keine Geschichten über den Wanderer hören. Egal, ob dieses Haus nun in Wahrheit in seinem Besitz stand oder nicht. Er war sein ganzes Leben regulärer Mieter gewesen, er war kein einziges Mal mit seinen Zahlungen in Verzug gekommen und hatte nie in irgendeiner Art gegen die Hausregeln verstoßen. Er hatte Rechte hier, und auf diese plante er zu pochen, falls ihm der Wanderer wirklich einmal gegenüberstünde und das Unmögliche von ihm verlangte.

Herr Rudineck wünschte sich wieder einmal, er könnte hier weggehen – einfach ausziehen, irgendwohin; in ein nettes Seniorenheim vielleicht, wo er etwas mehr Gesellschaft finden würde als in den gottverlassenen Fluren dieses heimgesuchten Hauses. Aber was würde dann aus Elke werden? Bereits zu ihren Lebzeiten war sie nicht dazu zu bewegen gewesen, hier auszuziehen. Herr Rudineck hatte aber auch sein Bestes getan, um all die Absurditäten, all die Schrecklichkeiten, die Abnormalität, die mit dem Leben hier verbunden war, von ihr fernzuhalten. Meist war ihm das gelungen, aber bei weitem nicht immer. Vor allem am Schluss …

Der alte Mann tat den Gedanken ab. Er hatte sich angewöhnt, so spät am Abend nicht mehr allzu viele Sorgen zu wälzen, sondern sich lieber auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Und hier und jetzt war es Zeit fürs Abendbrot.

Er knüpfte die Masche der Schürze auf und hängte sie beiläufig über einen der Stühle. Dann nahm Herr Rudineck Platz und zupfte sich das flaschengrüne Strickkleid zurecht, weil es ihm über die Knie gerutscht war. Das Kleid war neu, gestern erst per Versand gekommen. Als er es vor zwei Wochen im aktuellen Zalando-Newsletter entdeckt hatte, hatte er sofort gewusst, dass er es haben musste. Aber er war bei der Einschätzung seiner Maße ganz offensichtlich etwas zu eitel gewesen, er spürte, dass das Kleid um die Schultern und an den Hüften viel zu stramm saß; er würde es wohl umtauschen müssen. Aber einmal zumindest musste er es anziehen. Dieses Schmuckstück unbenutzt zurückzuschicken, hätte er einfach nicht übers Herz gebracht.

Elke hatte es immer gemocht, wenn er Frauenkleider getragen hatte. Er habe einfach die Figur dafür, hatte sie immer bekräftigt, wenn er mit einem Neuerwerb vor ihr durch das Schlafzimmer flaniert war. Sie hatte stets darauf bestanden, dass er ihr die neuesten Stücke vorführte, dass sie ihn darin von allen Seiten zu sehen bekam, ehe er es später für sie ausziehen musste. Auch, wenn sie darin übereingekommen waren, dass er es nur in der Wohnung tat, das mit den Frauenkleidern, wo ihn niemand außer ihr zu Gesicht bekäme. Die anderen Leute würden es nicht verstehen, also sollte es ihrer beider kleines, wohlgehütetes Geheimnis bleiben.

Und seitdem Elke von ihm gegangen war, trug er in erster Linie ihre alten Kleider. Es gab ihm das unvernünftige Gefühl, ihr trotz allem auch körperlich noch irgendwie nahe sein zu können. Die meisten ihrer Stücke waren ihm allerdings viel zu groß – sie hatte in ihrem letzten Lebensjahrzent, als sie nicht mehr allzu gut auf den Beinen gewesen war, einiges an Gewicht zugelegt. Aber das störte ihn nicht weiter, hatte es auch nie. Für ihn war Elke immer so perfekt gewesen, wie sie eben gerade gewesen war. Er hatte sie geliebt, und als sie gestorben war, hatte er zunächst nicht gewusst, wie er ohne sie weiterleben sollte – bis sie nur wenig später doch wieder zu ihm zurückkehrte. Dafür zumindest war dieses verfluchte Haus gut: Niemand, der sich zu lange hier aufhielt, konnte es jemals wieder verlassen. Nicht einmal nach dem Tod. Und irgendwie musste er das auch der jungen Marin beibringen; soviel zumindest war er Aleksandar schuldig. Auch wenn er nicht sagen konnte, warum eigentlich. So dicke Freunde waren sie nun auch wieder nicht gewesen. Höchstens Gelegenheitsbekannte – in diesem verfluchten Haus aneinander gekettet, Tür an Tür. Aber trotzdem … es war einfach ein Gefühl, das ihn aus dem heiteren Nichts überfallen hatte, als er sie vorhin ihm Stiegenhaus erkannte: Dass es einfach nicht richtig wäre, wenn sich die Kleine in demselben klebrigen Netz verfing wie die dummen Alten, die ihr gesamtes Leben sowieso bereits hinter sich hatten.

„Mahlzeit“, brummte Herr Rudineck, bekam aber keine Antwort darauf. Für heute hatte er die Hoffnung aufgegeben, noch einmal etwas von Elke zu hören. Sie schlief wahrscheinlich gerade, irgendwo tief im Inneren des Hauses, in einem der Zimmer hinter den Zimmern, wie Aleksandar die geheime Struktur unter der Oberfläche des Gebäudes immer genannt hatte. Herr Rudineck war sich sicher, dass er diese Zimmer hinter den Zimmern eines Tages selbst zu sehen bekam; spätestens wenn er gestorben war. Zumindest sähe er dann Elke wieder. Und wer weiß, vielleicht konnte er sie dann sogar wieder berühren, wieder richtig mit ihr zusammen sein. Dafür nähme er sogar die Schwärze in Kauf, würde er sich sogar irgendwie mit der Gegenwart des Wanderers arrangieren, so schrecklich diese Vorstellung auch war.

Er beugte sich vor und nahm die Schöpfkelle zur Hand, tauchte sie tief in den dampfenden Gulaschtopf und füllte sich dann seinen Teller. Aber als er die Kelle am Tisch ablegen wollte, um endlich zu Abend zu essen, widerfuhr ihm ein richtig dummes Malheur: ein dicker Batzen Gulasch tropfte ihm in den Schoß und landete auf dem brandneuen Wollkleid. Fluchend sprang Herr Rudineck auf.

„Das darf doch gar nicht wahr sein“, brüllte er. Zornig auf seine eigene Tatterigkeit, angelte er sich eine Serviette vom Tisch und versuchte, den Fleck vorsichtig von der Wolle des Kleids zu tupfen. Aber dabei rieb er den Gulaschsaft noch tiefer in die Maschen hinein. Herr Rudineck spürte, wie ihm heiße Tränen des Zorns in die Augen stiegen; seine Brillen beschlugen, ein Wimmern kam ihm über die Lippen. Das war heute eindeutig nicht sein Tag! Nicht seine Woche, nicht sein Jahr! Sein ganzes beschissenes Leben fühlte sich in Augenblicken wie diesem wie ein einziger, riesiger Fehlschlag an. Elke natürlich ausgenommen. Sie war das einzig Gute darin gewesen, das Einzige, das er richtig gemacht, hatte. Aber sonst? Sonst war da nicht viel …

Schließlich gab er es auf, geschlagen ließ er sich zurück in den Sessel sinken und betrachtete das dunkelrote Desaster, das der Gulaschsaft auf der leuchtend grünen Wolle des Kleides hinterlassen hatte. Fauchend schleuderte er die verschmutze Serviette von sich. Das Kleid war hinüber – ausgeschlossen, dass sie das jemals wieder zurücknahmen. Aber egal; würde er eben einfach solange hungern, bis es ihm passte. Für den Moment zumindest war sein Appetit sowieso verflogen.

Frustriert schloss Herr Rudineck die Augen und atmete aus. Morgen, dachte er zusammenhanglos, morgen würde er zur kleinen Marin hinübergehen und reinen Tisch machen. Er würde ihr sagen, dass sie hier nicht sicher war, dass sie laufen sollte, solange sie noch konnte. Natürlich nur, wenn sie dann wieder da wäre. Er hatte vorhin gehört, wie sie über den Hausflur davongestürmt war. Seitdem war sie nicht wieder heimgekommen Vielleicht hatte sich die Sache damit sowieso erledigt, vielleicht hatte sie instinktiv die richtige Entscheidung getroffen, als sie mit dem ersten Schrecken konfrontiert gewesen war, die dieses Haus aufzubieten hatte. Besser wäre es wohl. Dabei hatte sie noch gar nichts gesehen. Nichts. Für sie hatte das Grauen noch nicht einmal begonnen. Nur ein kleiner Vorgeschmack konnte das gewesen sein, mit dem sie vorhin in der Wohnung ihres Vaters konfrontiert gewesen war.

Rudineck lachte, ein trockenes, zynisches Lachen, vor dem er selbst ein bisschen erschrak. Dann öffnete er seufzend die Augen und blickte sich um. Es wäre wohl an der Zeit, ins Bad zu gehen und sich fürs Bett zurecht zu machen. Dieser Tag war gelaufen. Ein weiterer qualvoller Tag, den er ohne Elke hinter sich gebracht hatte. Aber vielleicht kam sie ja später doch noch zu ihm, wenn das Licht in der Wohnung ausgegangen war. Durch eine der verborgenen Türen, die sich nur in der Finsternis öffneten – niemals untertags, niemals bei Licht. Zumindest durfte er darauf hoffen.

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