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Louis Marvick: The Friendly Examiner

Der Name Louis Marvick begegnete mir zum ersten Mal hier im Nighttrain. In der leider etwas in Vergessenheit geratenen IF Weird-Anthologie war (und ist) nicht nur die erste deutsche Übersetzung eines Marvick-Textes zu finden, sondern auch ein Überblickartikel über sein Werk. Dies ist allein Martin Ruf zu verdanken, der sich der schwierigen Aufgabe der Marvick-Übersetzung angenommen hat und zugleich die literarische Einordnung vorgelegt hat.
Nun ist es kein Geheimnis, dass ich den Geschmack der Freunde des White- und Nighttrains teile (sonst würde ich hier ja auch nicht schreiben). Aber Marvicks Text ist mir nachhaltig im Gedächtnis geblieben. Ich war einfach beeindruckt von seiner Sprachgewandtheit und den intellektuell angehauchten Themen.
Das gilt auch für seinen Connoisseur der Trauer, der ebenfalls von Ruf übersetzt und in der Chapbook-Reihe des Whitetrain-Underground veröffentlicht wurde.

Whitetrain ist mit seiner Marvick-Begeisterung im deutschsprachigen Raum nicht allein. Jonas Plöger veröffentlicht Marvicks Texte in “seinem“ Zagava Verlag. Obwohl in Düsseldorf ansässig, bietet der Verlag sein exquisites Programm ausschließlich in englischer Sprache an. Das liegt nicht nur daran, dass sich anspruchsvolle Literatur nur mit Abstrichen übersetzen lässt, sondern schlicht und ergreifend auch daran, dass der Markt für deutschsprachige Weird Fiction zu klein ist. Wer es mit Weird Fiction ernst meint, kommt um die englische Sprache nicht herum. Konsequenterweise wendet sich Zagava an ein Connoisseur-Publikum. Ausschließlich in gedruckter Form bietet der Kleinverlag ein erlesenes Programm für eine bibliophile Zielgruppe. Diese ist durchaus bereit, für hochwertige Literatur in hochwertiger Ausstattung etwas tiefer in die Tasche zu greifen.
Zu Rezensionszwecken hat mir der Verlag freundlicherweise eine digitale Version des in drei separaten Heften erhältlichen The Friendly Examiners bereitgestellt.

Willkommen in Frankreich

Marvick siedelt seine Werke an markanten Orten an, deren genius loci er mit viel Liebe zum Detail in seine Arbeiten einbezieht. Häufig hat sich der Professor für französische Sprache für Frankreich als Schauplatz entschieden. So auch im Friendly Examiner. Diesmal durchdringt seine französische Fachkompetenz das Thema auf ganzer Linie. Er führt uns mitten hinein in die spannende Zeit der französischen Aufklärung rund um die Enzyklopädisten. Dabei scheut er sich nicht, auf reale, wenn auch fiktionalisierte historische Persönlichkeiten zurückzugreifen. Allen voran Denis Diderot, der hier als Freund und Auftraggeber unserer Hauptfigur auftritt. Aber auch Jean Jacques Rousseau, Montesquieu oder der seltsame LaMettrie haben ihre Auftritte.
Man merkt schnell die Expertise Marvicks, der auf die subtilen Debatten der Enzyklopädisten eingeht und einige zentrale Punkte sogar mit Literaturhinweisen versieht. Auch wenn ich im Detail anderer Meinung bin – den sympathischen Lebemann La Mettrie muss ich einfach gegen eine zu simple vulgärmaterialistische Interpretation verteidigen –, merkt man doch durchweg, dass hier jemand vom Fach schreibt, der die französische Aufklärung bis in ihre Untiefen liebt und durchdringt.

Angenehme Schwere

Nun ist Friendly Examiner keine akademische Fingerübung, sondern eine fantastische Geschichte. Marvick nimmt es mit den historischen Fakten bewusst nicht so genau und schickt seinen Protagonisten in drei Geschichten auf die Suche nach rationalen Erklärungen für irrationale Ereignisse. Dabei werden gerade die Grenzen der rationalen Erklärung ausgelotet und kommt die Unterhaltung nicht zu kurz. Trotz des schweren Stoffes und einer ebenso anspruchsvollen Sprache wirkt das Spiel mit diesen Elementen nachgerade leicht. Marvick spielt mit seinen Figuren und Theorien auf eine Art und Weise, die ein originelles, phantastisches, manchmal sogar pulpiges Werk ergibt. Wenn man sich die Zeit nimmt und Marvicks Worte auf sich wirken lässt, taucht man ein in eine phantastische Variation der französischen Intellektuellenszene des 18. Jahrhunderts ein.
Das bedeutet jedoch, dass man mindestens drei Dinge mitbringen sollte, um das Buch in vollen Zügen genießen zu können. Erstens ein grundsätzliches Interesse an Philosophie oder Geistesgeschichte. Wenn man diese Ebene nicht teilt, verpasst man so manche Pointe. Zum Zweiten gehört Ruhe dazu. Selbst den „pulpigen“ Marvick liest man nicht einfach so, man muss ihn auf sich wirken lassen. Der Text will nachklingen und muss Raum und Zeit zur Entfaltung haben. Nicht zuletzt sollten die Englischkenntnisse sehr gut sein. Trotz eines philosophischen Hintergrunds und einiger Erfahrung mit der englischen Sprache verging bei mir kaum eine Seite ohne einen Blick ins (digitale) Wörterbuch. Wie alle Autor*innen bringt Marvick sein eigenes Vokabular mit. Dieses ist diesmal – dem Thema durchaus angemessen – jedoch noch etwas komplexer als üblichen. Mit der nötigen Ruhe und der Bereitschaft, sich auf die Herausforderung einzulassen, ist das Buch durchaus auch für Nicht-Muttersprachler*innen zugänglich, verlangt aber eben einiges ab.

Inhalt

Mit Inhaltsangaben tue ich mich immer schwer, nicht zuletzt, weil ich meist Bücher lese, die durch Atmosphäre und theoretische Überlegungen glänzen. Das gilt auch für Marvick. Hier lesen wir – wie gesagt – drei Kurzgeschichten, die jeweils einem Geheimnis nachspüren, das rationalistisch aufgeklärt werden will. Die erste Geschichte spielt im Schwabenland und lebt von einer starken Frauenfigur und einem damit verbundenen selbstverständlichen Feminismus. Marvick verwebt hier mühelos philosophische Grundsatzfragen, die Diskussion um Intellekt und Weiblohckeit sowie eine Auseinandersetzung mit der Religion in die Suche nach der Erklärung einer lokalen Legende.
Auch die zweite Geschichte besticht durch die Vermischung von Abenteuer- und Geistesgeschichte. Diesmal geht es um die Faszination der ‚black novels’ oder der ‚graveyard school‘, die gewissermaßen als romantische Reaktion auf den Rationalismus einen Kult des Todes und des Verfalls pflegt. Der dritte lose zusammenhängende Teil führt uns schließlich in die Neue Welt. Hier werden unter anderem (post-)koloniale Gedanken mit dem damaligen Blick auf das „Fremde“ verwoben, wobei ich mir nicht sicher bin, ob Marvick hier nicht gelegentlich in problematische Stereotype verfällt, die über die Erzählperspektive hinausgreifen und so unkritisch reproduziert werden.

Fazit

Es sollte deutlich geworden sein, dass The Friendly Examiner kein Buch für jeden Geschmack ist. Trotz pulpiger Elemente fordert es die Lesenden intellektuell heraus. Dass dies auf durchaus unterhaltsame Weise gelingt, ist Marvick hoch anzurechnen. So legt er mit dem Examiner nicht nur die vielleicht einzige phantastische Erzählung über die französische Aufklärung vor, sondern auch ein ebenso unterhaltsames wie tiefgründiges Werk.
Marvick ist kein Autor für jedermann, aber wer sich für Weird Fiction im tieferen Sinne begeistert, sollte ihn und seine Bücher unbedingt im Auge behalten. Nicht zuletzt, weil die limitierten Sammlerausgaben oft viel zu schnell vergriffen sind. Sapere Aude!

Bibliographisches:

Marvick, Louis (2021): The Friendly Examiner. Düsseldorf: Zagava Books. (Erhältlich direkt beim Verlag)

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