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Leseprobe: Und über allem der Hunger

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eine Novelle von Erik R. Andara

Cosmin hatte mit Stefan vereinbart, dass sie beim Käfig aufeinander warten würden, aber es regnete so stark, dass er stattdessen lieber unter der Überdachung bei der U-Bahn-Station stehengeblieben war. Er hatte Stefan das auch auf der Fahrt hierher per Instagram-Nachricht geschrieben, der war allerdings seitdem noch nicht online gewesen. Sie hatten ausgemacht, sich um neun Uhr am Abend zu treffen, aber inzwischen war es bereits fast Viertel nach und von Stefan war weit und breit nichts zu sehen.

Während Cosmin durch den dichten Wasservorhang hindurch den leeren Ballkäfig beobachtete, war er sich unsicher, was er jetzt tun sollte. Was, wenn Stefan irgendwo dort hinten bereits auf ihn wartete? Erkennen konnte er dort allerdings nichts. Und der Regen prasselte nun schon seit fast einer halben Stunde in unverminderter Stärke vom Himmel herab – sah nicht so aus, als würde es bald aufhören. Cosmin beschloss, hier noch ein bisschen auszuharren und dann unter der Brücke rückwärts zu wandern, auch wenn es ihn gewundert hätte, wenn Stefan bereits da gewesen wäre. Er kam beinahe zu jedem Treffen zu spät, seitdem Cosmin ihn kannte, und das belief sich auf immerhin dreizehn Jahre, seitdem sie gemeinsam hier in die Volksschule gegangen waren.

Seither war allerdings viel Wasser den Fluss hinabgeflossen; ihre Wege hatten sich getrennt, als Cosmin vor fünf Jahren gemeinsam mit seinem Vater in den sechzehnten Bezirk gezogen war. Er hatte Stefan danach nur noch sporadisch gesehen, war mit ihm über Insta und TikTok in Kontakt geblieben und hatte ihn anfangs noch alle paar Monate mal getroffen, aber auch das war immer seltener geworden. Letztlich waren sie sich per Zufall hin und wieder im Bermudadreieck beim Ausgehen über den Weg gelaufen. Stefan hing inzwischen mit einer suspekten Gruppe ab, war selbst mittlerweile zu einem harten Typen geworden, wie Cosmin bei ihrer letzten Zusammenkunft hatte feststellen müssen. Klar war sicher etliches von dem, was Stefan ihm über die Dinger, die er gemeinsam mit seinen neuen Freunden drehte, erzählt hatte, schamlos übertrieben und dick aufgetragen gewesen. Trotzdem, Stefan war schon immer ein Kämpfer gewesen, einer, der sich nix sagen ließ, egal ob von der Lehrerschaft, seinen Eltern oder den größeren Jungs in der Siedlung. Insofern war die Geschichten, die Stefan zum Besten gegeben hatte, sicher zumindest nahe an der Wahrheit gewesen. Und seine neuen Kumpel standen ihm offenbar in nichts nach. Das war auch der Grund, warum Cosmin zögerte, nach dort hinten zu gehen und unter der Brücke nachzusehen, ob Stefan da vielleicht auf ihn wartete. Stefan war zwar immer noch sein Freund – zumindest glaubte er das –, aber den Jungs, mit denen er derzeit abhängte, vertraute er nicht. Auch wenn ebendiese neuen Verbindungen und Machenschaften Stefans den Grund darstellten, warum Cosmin heute hierher gekommen war – zurückgekehrt ins Schöpfwerk, den Ort, der mit den schönsten, aber auch den schrecklichsten Erinnerungen seiner Kindheit verbunden war.

Die Uhr auf seinem Handy zeigte zwanzig nach neun, inzwischen präsentierte sich die U-Bahn-Station so gut wie verwaist. Nur einzeln tröpfelten Personen die neonbeleuchtete Rolltreppe herab und verloren sich gleich darauf eilenden Schritts im gleichförmig trommelnden Regen. Die wenigsten davon hatten Schirme bei sich. Cosmin öffnete zum wiederholten Male Instagram, Stefan hatte die Nachricht immer noch nicht gesehen. Seufzend ließ er das Telefon zurück in seine Jackentasche gleiten und blickte zum Käfig nach hinten, als sich plötzlich etwas Hartes zwischen seine Schulterblätter bohrte.

„Gib iPhone, du Opfer“, hörte Cosmin eine unbekannte Stimme hinter sich knurren; dann erklang ein Kichern.

„Ist bloß ein uraltes Samsung, mit dem hättest du keine große Freude, Bruder“, antwortete Cosmin und hoffte, dass seiner Stimme nicht anzuhören war, dass er sich vor Schreck beinahe in die Hose gepinkelt hätte.

Stefans keckerndes Lachen erklang hinter ihm.

„Sag ich dir doch, der Bruder ist legitim. Bei dem nützt dir das bisschen Herumfuchteln nix.“

Cosmin drehte sich um und fand sich im nächsten Moment in einer herzlichen Umarmung wieder. Stefan roch nach Karameltabak, Red Bull und Bier. Cosmin klopfte ihm zweimal fest auf den Rücken, ehe er sich aus seinen Armen löste und sich dem um über einen halben Kopf größeren Jungen zuwandte, der neben Stefan stand.

  „Cosmin, aber meine Freude nennen mich Mimo“, sagte er und streckte dem ihm unbekannten blonden Burschen die Hand entgegen. Der starrte ihn allerdings weiterhin bloß träge an, den linken Mundwinkel leicht nach oben gezogen.

„Komm schon, Radu, jetzt sei nicht so. Ich sag‘ dir doch, Mimo ist voll okay. Einer von uns!“

Radu drehte den Kopf nach rechts und spuckte aus. Dann hustete er und spuckte noch einmal aus. Cosmin bemerkte die lange Narbe, die die linke Augenbraue des großen Jungen in zwei teilte – Radu war niemand, mit dem man sich ohne Grund anlegte, niemand, den man gegen sich haben wollte, zumindest teilte sein Instinkt ihm das mit. Besser unten bleiben, keine Widerworte geben, den anderen die Führung überlassen – rein und raus, so schnell wie möglich. Cosmin war auch nicht hier, um neue Freunde zu gewinnen. Er war hier, weil er musste, weil er keine andere Wahl hatte, wenn er die anstehenden Prüfungen irgendwie positiv abschließen wollte.

„Bessa isses“, knurrte Radu nach einer halben Ewigkeit, in der er Cosmin wortlos mit seinem schiefen Lächeln gemustert hatte. Dann drehte er sich weg und setzte sich in Bewegung, in Richtung der beiden Hochhäuser, die den Zugang zum Bau bildeten.

Stefan warf Cosmin einen entschuldigenden Blick zu, zuckte daraufhin die Achseln und winkte ihm dann, ihnen zu folgen.

Jenseits des Vordachs der U-Bahn Station traf sie der Regen wie ein nasser Schlag ins Genick. Cosmin hörte Stefan vor sich fluchen, dann begannen sie alle gemeinsam zu laufen, quer über den schmalen Grünstreifen und an der Apotheke vorbei, und hielten erst an der überdachten Treppe zum Turm wieder an.

„Scheisswetter, Bruder.“ Stefan schlug die Kapuze zurück und schüttelte sich den Regen von den Schultern.

„Ist es hier?“, fragte Cosmin und inspizierte Stefan dabei genauer. Der trug einen übergroßen mitternachtsschwarzen Sweater von Karl Kani, Calvin Klein Baggy Jeans und ein Paar nagelneu aussehender schneeweißer Vintage-Nikes; Geldsorgen schienen seinen ehemaligen Jugendfreund zurzeit nicht zu plagen.

„Wirst‘ schon seh’n, wennma da sin‘“, knurrte Radu und wandte sich dann den Treppen zu, um mit dem Aufstieg zu beginnen. Stefan wischte sich den Regen von der Stirn, zuckte dann bloß neuerlich mit den Achseln und bedeutete Cosmin, mit ihnen zu kommen.

Sie nahmen den schmalen, leicht nach Urin und verschütteter Orangenlimonade riechenden Treppenaufgang bis ganz noch oben, wo sie unter dem Vordach des Turms herauskamen.

Cosmin musste daran denken, wie lange er hier wohl schon nicht mehr unterwegs gewesen war, als Stefan ihn von vorne fragte: „Tut gut, wieder in der alten Hood zu sein, oder? Wie lange warst du jetzt nicht mehr hier, Mimo?“, ganz so, als hätte er seine Gedanken gelesen.

„Weiß nicht. Jahre.“

„Hab‘ echt gedacht, dich hier öfter aufschlagen zu sehen, als du damals mit deinem Alten weggezogen bist. Tja, so kann man sich täuschen.“

Cosmin trat am oberen Ende der Treppe auf den Arkadengang unter dem Wohnturm hinaus und wandte sich Stefan zu. Der Kommentar hatte bissig geklungen und machte ihm Sorgen. War das ein Vorwurf gewesen, den er da eben von seinem Jugendfreund gehört hatte? Über ihnen klickerte eine defekte Neonröhre in unregelmäßigen Abständen an und aus und warf undurchschaubare Lichtspiele auf das sardonisch lächelnde Gesicht seines Jugendfreunds.

„Jetzt komm schon, ich verarsch‘ dich doch nur. Hast du etwa alles verlernt, was ich dir damals beigebracht habe? Einmal Schöpfwerk, immer Schöpfwerk. Brothers for life, stimmt’s nicht?“

„Was is‘? Knutscht ihr jetzt dann, oda wie seh‘ i‘ das?“, schnarrte Radu, sprang dann ansatzlos hoch und versetzte der defekten Neonröhre einen scheppernden Schlag, sodass sie nun ganz ausging und der Gangabschnitt auf zwei Meter im Dunkel lag. Neben ihnen trommelte der Regen auf die Waschbetonplatten, irgendwoher aus den oberen Stockwerken hörte man ein Kind kreischen, dann brüllte ein Mann. Das Kind verstummte, die Neonröhre erstrahlte wieder und blieb diesmal auch an, tauchte den Abschnitt des Arkadengangs, in dem sie standen, in weißblaues Licht.

„Komm, wir gehen weiter“, sagte Stefan, legte seinen Arm um Cosmins Schultern und zog ihn voran. Cosmin widerstand dem Impuls, unter Stefans Arm hervorzuschlüpfen und einen Schritt zur Seite zu weichen. Etwas an der Berührung fühlte sich ganz und gar nicht freundschaftlich an. Unwillkürlich fragte sich Cosmin, ob er Stefan auch immer noch so gut kannte, wie er gedacht hatte. Fünf Jahre waren eine lange Zeit, und sie waren nicht mehr die Kinder, die sie damals gewesen waren, als sie sich ein Leben hier geteilt hatten. Stefan signalisierte ihm mit überkreuztem Zeige- und Mittelfinger, dass sie immer noch Freunde waren. Du und ich gegen die Welt, dieses Zeichen hatten sie sich damals im Ballkäfig, im Park und in der Schule immer gegenseitig gezeigt, wenn es ernst wurde. Wenn klar war, dass sie zusammenhalten mussten – dass es jetzt darauf ankam: gemeinsam gewinnen oder gemeinsam untergehen. Hier, im feuchtwarmen sommerlichen Arkadengang des Schöpfwerks, einem Ort, der ihm in der Jugend soviel bedeutet hatte und an dem er sich nun fühlte wie ein Eindringling, ein Fremder, der hier nichts zu suchen hatte, wirkte die Geste auf Cosmin seltsam deplatziert und erzwungen.

„Sorry“, sagte er zu Stefan. „Ich hätte echt öfter kommen sollen, dich und die anderen echt öfter hier besuchen sollen. Aber die Schule, der Herzinfarkt von Babai … Ich hab den Überblick verloren. Ganz ehrlich. War nicht leicht. Tut mir leid, Stefan, wirklich. Vor allem und speziell, was da mit Mia abgegangen ist. Ich hab‘ davon gehört. Wollte dich anrufen. Aber … keine Entschuldigung, Bruder. Ich hab’s vergeigt. Schlicht und ergreifend.“

Cosmin sah etwas in Stefans Augen aufblitzen. Im harten Neonlicht war für ihn schwer zu erkennen, ob es sich dabei um Rührung oder doch eher Zorn handelte.

„Ey, ia Luschen, kommt ia dann, oder wa‘? Gliese wartet. Und ich möcht‘ nicht dea sein, dea ihm verklickern muss, warumma nich‘ pünktlich sin‘“, klang Radus Stimme hohl den Gang herab. Er war inzwischen am Eingang des Hochhauses angekommen und hatte sich  zu ihnen umgedreht.

„Na komm, gehen wir. Wir können nachher noch immer reden.“ Stefan wandte sich ab und folgte Radu zum Eingang des Hochhauses. Cosmin spürte, wie sich etwas in seiner Mitte verkrampfte. So hatte er sich das alles nicht vorgestellt, auch wenn er gewusst hatte, dass es unter Umständen nicht einfach werden würde, hierher zurückzukehren und Stefan zu treffen – und das nicht etwa, weil er ihn treffen wollte, sondern weil er es musste, weil er etwas von ihm brauchte, das er ohne ihn nicht bekommen konnte. Und Stefan wusste das, zweifellos. Trotzdem hatte er „Geht klar, Bruder. Was immer du brauchst. Du weißt, ich bin da für dich“, per Instanachricht geantwortet, als Cosmin ihn gefragt hatte, ob er ihn mit dem Player im obersten Stockwerk des Turms zusammenbringen könnte, der gerüchteweise die Tabletten vertickte, die einen vorübergehend so schlau machen könnten, dass man jede Prüfung bestand. Cosmin wusste ja noch nicht einmal, ob es diesen Typen oder diese Wunderpillen wirklich gab oder ob es purer Unsinn war, den er da über sonst eigentlich sehr zuverlässige Quellen auf TikTok aufgeschnappt hatte. Aber so oder so, entweder es gab diesen Typen und seine Zauberpillen wirklich und er kam an sie ran, oder er konnte sich seinen Schulabschluss und den darauf folgenden Zugang zur Hochschule abschminken. Niemals würde er Mathematik und Physik bestehen. Niemals. Danach könnte er schauen, wie er sich und seinen seit dem Herzinfarkt depressiven und arbeitsunfähigen Vater mit einem der schlechtbezahlten Jobs durchbekam, die ihm ohne Matura und höhere Ausbildung offenstanden. Cosmin bezweifelte, dass eine Karriere als Systemgastronomiefachkraft bei McDonalds, bei dem wenigstens ein halbes Dutzend seiner Freunde aus Ermangelung anderer Lehrstellen im letzten Jahr untergekommen waren, die dringend anstehenden Therapiekosten seines Vaters finanzieren würde.

„Hey, Stefan!“, rief er seinem ehemaligen Freund nach, von dem er hoffte, dass der ihn immer noch so sehr mochte, dass er ihn hier nicht eiskalt in die Falle führte … wie auch immer die aussehen mochte. Stefan drehte sich um. Inzwischen war der Regen schwächer geworden und leichter Wind war aufgekommen, der angenehm kühl durch den Säulengang strich. Cosmin hob seine linke Hand und überkreuzte Zeige- und Mittelfinger. Und in diesem Moment meinte er es so: Du und ich, gegen die Welt. Cosmin würde Stefan vertrauen; egal, was da vor ihnen lag, er würde auf ihn zählen. Und wenn es dann doch anders kommen würde … nun, zumindest hätte er sich dann nichts mehr vorzuwerfen. Sie würden hoch zu diesem Gliese gehen, es so schnell wie möglich hinter sich bringen und er würde Stefan dann fragen, ob sie nicht noch quatschen wollten. Hinten, im Großpark, falls die Bänke dann wieder trocken genug wären; oder in einem der nebenan liegenden Hauseingänge, wie sie es als Kinder immer getan hatten. Über alles reden. Alles. Auch wenn es weh täte. Weil sie Freunde waren – Brüder fürs Leben.

„Es tut mir leid“, flüsterte Cosmin, und Stefan nickte. Dann bedeutete Stefan ihm, sich jetzt endlich zu beeilen.

„Das glaub‘ ich ja alles nich‘. Mit welch‘n Spacken zieh‘ ich hia eigentlich rum?“, hörten sie Radu neben der Tür voran fluchen; dann drückte der große Junge einen der obersten Klingelknöpfe und fischte sein Handy aus der Jackentasche – ein uraltes LG mit komplett zerkratztem Bildschirm, wie Cosmin im Nähertreten erkannte.

Ein Knistern erklang durch die Gegensprechanlage, jemand war in der Leitung. Das Rauschen aus dem Lautsprecher wurde rasch lauter, höher, bis es zu einem so eindringlichen Quieken anschwoll, dass Cosmin und Stefan sich die Ohren zuhielten.

„Ihr Luschen“, glaubte Cosmin, Radus Lippen ablesen zu können, dessen linker Mundwinkel war wieder zu einem Zähnefletschen hochgezogen. Die Finger des hochgewachsen Jungen huschten über den Bildschirm des Smartphones und öffneten schließlich eine App, die Cosmin noch niemals zuvor gesehen hatte. Inzwischen war das eindringliche Kreischen aus der Gegensprechanlage so laut geworden, dass die Hände über den Ohren so gut wie nichts mehr brachten. Cosmin spürte den fordernden Ton in seinen Schläfen vibrieren, in seinem Kiefer, seinen Backenzähnen. Als wäre der gesamte Hochhausturm ein einziger gigantischer Lautsprecher, der sie mit einer so gewaltigen Rückkoppelung überzog, dass er spüren konnte, wie sie ihn rückwärts schob. Fort von dem Haus, fort vom Schöpfwerk, zurück in die U-Bahn und wieder nach Hause, in ihre Wohnung, wo sein kranker Vater sich auf dem Sofa mit glasigen Augen irgendeinen Müll aus dem Kabel reinzog. Irgendeine Castingshow, die seine kauernde Silhouette mit ihrer Stumpfheit in der Dunkelheit des Wohnzimmers mit leuchtenden Farben übergoss. Cosmin hasste es, nach Hause zu kommen  und seinen Vater wie eine Mumie dort liegend vorzufinden, mit leeren Augen vom Flatscreen bestrahlt, kaum fähig, auf die Fragen zu antworten, die Cosmin ihm zu seinem Tag stellte – gierig danach, dass sein Vater ihn zurückfragte, wie denn sein Tag so gewesen sei. Wo er gewesen sei, was er erlebt habe und … Und welche Sorgen ihn quälten. Etwas musste sich ändern! Die Dinge konnten nicht so bleiben, wie sie waren. Cosmin konnte das nicht länger aushalten. Hinter der nicht bestandenen Matura lag der Abgrund, er konnte ihn näherkommen fühlen. Drum war er hier, es lag in seiner Hand. Nur in seiner, in niemandes sonst.

Radu presste sein Handy an die Gegensprechanlage und das hochfrequente Grollen des Hauses verstummte so jäh, dass Cosmin und Stefan einen Schritt vorwärts taumelten. Radu giggelte – im nächsten Moment hielt sich der große Junge den Bauch und lachte sie offen aus. Stefan zeigte ihm den Mittelfinger; Cosmin brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln, tat es seinem Freund aber dann gleich. Es behagte ihm gar nicht, dass ihn Radu so offensichtlich als den Schwächeren betrachtete. Aus dieser Position aus wurde man schnell zum Opfer, zur Beute, wie er aus Erfahrung wusste. Ein leises Summen erklang, jemand betätigte den Öffner. Radu drückte hastig die Eingangstür auf und bedeutete ihnen mit dem Handy in der Hand, endlich in die Gänge zu kommen. Immer noch trug er das Zähneblecken im Gesicht. Cosmin war gar nicht wohl dabei, Stefan und Radu in das Zwielicht hinein zu folgen. Aber was sonst sollte er tun? Wenn er schon einmal hier war, konnte er es genauso gut durchziehen. Jetzt oder nie. Rien ne va plus, wie sein Vater früher immer zu sagen gepflegt hatte, ehe er zu dem schweigsamen Mann im Deckenkokon geworden war, der nun auf ihrem Sofa vor sich hin vegetierte. Vor dem Tod seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, vor dem Herzinfarkt, als die Welt noch in Ordnung schien. Cosmin hatte ihn einmal gefragt, was das überhaupt heißen sollte: Rien ne va plus. Nichts geht mehr, hatte sein Vater geantwortet. Das sagen die Croupiers im Casino dann, wenn sie dir verdeutlichen wollen, dass der Zug abgefahren ist, Dass die Chips am Tisch nicht mehr dir gehören und du warten musst, ob du sie jemals wieder siehst. Das Rad dreht sich derweilen und entscheidet. Es liegt dann nicht mehr in deiner Hand, Cosmin, sondern nur mehr am Glück. Bis dorthin kannst du dein eigenes Schicksal entscheiden: setzen, nicht setzen, viel setzen, alles setzen, klug setzen, dumm setzen, heimgehen, dableiben. Du entscheidest. Aber danach, danach ist eigentlich alles bereits geschehen, auch wenn du noch darauf wartest, wo die Kugel liegenbleibt.

Rien ne va plus, nichts geht mehr.

Hinter Cosmin fiel die Tür des Hochhauses leise ins Schloss, und das Plätschern des Regens blieb draußen zurück. Hier drinnen war es dunkel und still wie in einem Keller. Es roch süß, nach einem zitronehaltigen Energydrink, saurem Wein und nasser Zeitung. Die einzigen Lichtquellen waren der mattweiß glimmende Rufknopf des Fahrstuhls und das Handydisplay in Radus Hand, aus dessen fahlem Schein ihm der hochgewachsene Junge nun wölfisch zugrinste.

„Was’n mit dem Scheißlicht hier herinnen los?“, hörte Cosmin Stefans Stimme neben sich fragen. Der Strahl der Handytaschenlampe, die der gleich darauf aktivierte, blendete Cosmin so sehr, dass er seinen Kopf abwenden musste. Dabei entdeckte er einen Schriftzug an der Wand: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir extraterrestrisch fremd“– Der Prophet der Letzten Dinge, hatte jemand in verschnörkelten dunkelblauen Lettern über die teilweise aufgebrochenen Postkästen getaggt.

„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Stefan.

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