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Der Schneematsch schlürft gierig an meinen Schuhen. Spätestens wenn ich den Heimweg in völlig durchnässten Socken antreten muss, werde ich es wohl bitter bereuen, mich vorhin aus reiner Bequemlichkeit gegen die Stiefel entschieden zu haben. Dabei ist es eigentlich die letzten Tage klirrend kalt gewesen. Bis heute Mittag schien Weiße Weihnachten noch beschlossene Sache zu sein. Aber der jäh einsetzende Föhnsturm hat dieses idyllische Versprechen innerhalb nur weniger Stunden und rechtzeitig vor dem Heiligen Abend mindestens ebenso radikal dahinschmelzen lassen, wie der Klimawandel das jahrtausendealte Packeis in der Antarktis. Und genau so komme ich mir auch vor, während ich den weiten Weg zur Tankstelle angetreten habe: wie das mumifizierte Überbleibsel aus einer fremden Epoche, das, nach seinem ewigen Schlaf unter Millionen Tonnen Eis, unvorhergesehen vom trockenen Saharawind freigeschaufelt wird. Meine Kopfschmerzen bringen mich beinahe um. Dem pisswarmen Wind habe ich einen der schlimmsten Migräneanfälle der letzten Jahre zu verdanken. Die ganze Welt vibriert auf der niedrigen Frequenz eines bedrohlichen Brummens. Und rundherum zittern die verwaschenen Auren der aufgepeitschten Straßenbeleuchtung völlig verängstigt im Takt. So als könnten sie jeden Augenblick einfach implodieren und mich dabei mit in die Dunkelheit saugen. Wenn ich diesen Zustand nicht schon seit vielen Jahren kennen würde, hätte ich vor lauter Schiss ziemlich die Hosen voll.
Die Straßen sind leergefegt. Die ganze Stadt hat sich in ihre Wohnungen zurückgezogen um sich der alljährlichen Illusion von Frieden und Harmonie hinzugeben. Aber mir ist das nicht vergönnt. Mir reißen stattdessen streitsüchtige Böen alle paar Meter die Kapuze vom Schädel, während ich durch knöchelhohen Dreck staksen muss, nur um zum Fest etwas anderes in den Magen zu bekommen als abgelaufenen Milch und eingetrocknete Käsescheiben. Mehr gibt der Kühlschrank bei mir zuhause nämlich nicht her. Wenn Alexandra vielleicht rechtzeitig auf die Idee gekommen wäre, mir mitzuteilen, dass sie es heute doch nicht mehr von ihrer Dienstreise nachhause schafft – wie wir eigentlich vereinbart hatten – wäre ich vielleicht sogar noch zum Einkaufen gekommen. Aber wer bin ich schon, um so etwas von ihr erwarten zu dürfen. Ich bin ja nur der lästige Lebensgefährte. Ex – verbessere ich mich schnell selber. Nach dem, was sie wieder einmal abgezogen hat, ist es endgültig zwischen uns gelaufen. Und dieses Mal kann mich keine ihrer theatralischen Entschuldigungs-Inszenierungen dazu bringen, mich doch wieder umzuentscheiden. Dieses Mal nicht.
Der orange glimmende Strahlenkranz um die Tankstelle hat etwas Friedvolles. Auf den letzten paar Metern durch den feindseligen Wind, der mich ohne Unterlass mit stechendem Streusplit und Morast bewirft, kommt mir das geduckte Gebäude am Straßenrand wie der Stall vor, auf den Joseph und Maria an einem trostlosen Abend wie diesem zugesteuert sein müssen. Solange ich mich nicht auf das unheilvolle Wabern am Rand konzentriere, ist alles gut.
Als ich unter das knarzende Blechdach trete, beruhigt sich die die brodelnde Atmosphäre um mich herum. Ein paar Meter weiter in die Tankstelle hinein, hat sich auch das nervöse Herumgezerre an meiner Kleidung endlich gelegt. Die Säulen, die den Überbau der Zapfsäulen tragen, scheinen irgendwie in der Lage zu sein, den Wind zu brechen. Der erste Eindruck hat also nicht getrogen. Ich befinde mich hier im Auge des Sturms. Sogar das unterschwellige Grollen der Welt wird unter der niedrighängenden Decke der Tankstelle leiser. Ich überlege, mir zur Feier des Tages gleich noch eine Kopfschmerztablette reinzupfeifen. Wenn ich Glück habe, wirkt sie bereits, wenn ich mich dann gleich wieder auf den beschwerlichen Weg zurück mache. Als ich aber entdecke, dass mich das dunkelhaarige Mädchen hinter der Theke des Tankstellenshops bereits misstrauisch durch die Fensterfront ins Visier genommen hat, verschiebe ich es auf später. Vielleicht irgendwo zwischen den Regalen, wo ich hoffentlich einen unbeobachteteren Moment als ausgerechnet diesen finde.
Ich trete ein. Festliches Gedudel aus dem Radio empfängt mich. Aber das Mädchen hinter der Kassa denkt anscheinend nicht einmal im Traum daran, mich zu begrüßen. Was eigentlich in Ordnung geht für mich. Ich bin sowieso nicht in der Stimmung, Aufmerksamkeit zu heucheln. Ich verkrümle mich zwischen die Regale. Das Neonlicht im Tankstellenshop schmerzt in den Augen. Wenn ich Sonnenbrillen einstecken hätte, würde ich sie aufsetzen und der Kleinen hinter dem Tresen damit endlich einen legitimen Grund bieten, mich dermaßen dämlich anzuglotzen. Stattdessen versuche ich, meine Lider so weit als möglich zusammenzukneifen. Das schränkt zwar mein Sichtfeld drastisch ein, und alles rund um mich wird unscharf, aber der positive Effekt besteht darin, dass sich die züngelnden Ränder vorübergehend beruhigen. Nur das warnende Brummen bleibt. Ich fühle es mehr als ich es höre. Wie träge modulierter Obertongesang tibetischer Mönche, der mir in sämtliche Knochen kriecht und allmählich meinen gesamten Körper in Schwingung versetzt. Dabei handelt es sich um die stetig mahnende Stimme der Welt, wie ich in bessergelaunten Momenten schon behauptet habe. Aber dies ist keiner davon.
Wahllos greife ich nach einer der aufgereihten Verpackungen. Aus meinen zusammengekniffenen Augen betrachtet, sind es lediglich bunte Kleckse, die sofort hektisch zu knistern beginnen, als ich mir einen davon schnappe. Den orange-gelben Farben nach zu urteilen, handelt es sich dabei um Kartoffelchips. Unter Nadelstichen öffne ich kurz meine Lider und stelle fest, dass ich recht behalten soll – es sind tatsächlich Kartoffelchips. Aber die verdammte Neonbeleuchtung zerstört das harmonische Auge-des-Sturms-Gefühl noch im selben Moment. So geht das nicht. Ich brauche dringend eine Tablette, bevor ich weiter einkaufe.
Ich stelle die Packung Chips zurück und blicke mich nach einer Stelle im Shop um, die mir etwas mehr Privatsphäre bieten könnte. Was sich unter den eingeschränkten Sichtverhältnissen als gar nicht einfach herausstellt. Aber den Teufel werde ich tun und meine Lider noch einmal aufreißen, nur damit mir das Neonlicht genüsslich unter die Augäpfel löffeln und sie mir aus den Höhlen kratzen kann. Die Regalreihen reichen mir gerade einmal bis zur Brust. Sind also nicht unbedingt dafür geeignet, mir Deckung zu bieten. Wenn ich mir hier, so wie ich mich gerade aufführe und dreinschaue, eine Tablette einwerfe, erscheine ich sicher endgültig wie ein Psychopath auf Drogen. Nicht, dass es mir momentan besonders wichtig wäre, wie ich rüberkomme, aber das Mädchen hinter der Kassa wirkt alles andere als entspannt. Besser gesagt kann ich ihr Gesicht eigentlich gar nicht mehr richtig erkennen. Es ist momentan nur ein fahler Fleck mit zwei dunklen, zerfransten Löchern statt Augen. Aber das, was ich von ihrer Körperhaltung feststellen kann, spricht Bände. Verkrampft stützt sie sich am Verkaufspult auf und lässt mich keine Sekunde aus den Augen. So, wie ich das einschätze, ist sie glatt in der Lage und ruft präventiv die Polizei, sobald ich ihr auch nur den Hauch eines Anlasses dafür biete.
„Toilette?“, frage ich sie und versuche, mich dabei des umgänglichsten Tonfalls zu bedienen, dessen ich mich ermächtigen kann. Was gar nicht einfach ist, angesichts dieses beschissensten aller Weihnachten, die ich jemals feiern durfte. Mit meinen zusammengekniffenen Augen muss ich dabei wie ein ausgesprochener Vollidiot rüberkommen. Aber wenn ich großes Glück habe, denkt sie vielleicht nur, ich habe zu fest am Joint gezogen. Ich deute auf den dunklen, quadratischen Fleck an der Seitenwand. Meiner Einschätzung nach muss es da entlang zur WC-Anlage gehen. Dort kann ich mir hoffentlich endlich unbeobachtet eine – mittlerweile dringend benötigte – Tablette reinpfeifen. Das Brummen der Welt drückt mir inzwischen so fest auf Schläfen und auf die Brust, dass es sich beinahe anfühlt wie Herzrhythmusstörungen. Und das alarmierende Zittern der Ränder hat es sogar geschafft, sich in mein überaus eingeschränktes Blickfeld einzuschleichen. Schuld sind der verdammte Stress und das Neonlicht. Und nicht zu vergessen: Alexandra. Nichts mehr mit Auge des Sturms. Nichts mit friedlichem Fest.
„Ja. Aber dort können Sie jetzt nicht rein.“
„Warum nicht?“, verlange ich wie aus der Pistole geschossen zu wissen. Wer glaubt die dumme Göre eigentlich, dass sie ist? Ich bin zahlender Kunde. Ich bin hier der König.
„Ich kaufe ihnen schon was ab, keine Sorge. Ich muss nur vorher kurz aufs Klo.“
Ich versuche, mich trotz allem weiter höflich zu geben. Auch wenn es mir unter diesen Umstanden gar nicht leicht fällt.
„Wenn Sie wollen, können Sie das Klo hinter dem Haus benutzen. Hier ist der Schlüssel.“
Ich höre ein metallisches Glockenläuten, das für einen Augenblick sogar das Brummen der Welt leiser werden lässt. Wahrscheinlich der Schlüssel, von dem sie gerade gesprochen hat. Das Klo hinter dem Haus hat sie gesagt. Ohne Neonlicht. Also hoffentlich. Klingt doch ganz gut. Ich nehme dann dort eine meiner Tabletten, warte ein paar Minuten, und wenn sich die Kopfschmerzen wieder auf einem halbwegs erträglichen Niveau eingependelt haben, komme ich in den Shop zurück und kaufe hier die halben Regale leer. Ich habe nämlich mittlerweile ziemlichen Hunger, wie mich mein störrisch knurrender Magen wissen lässt.
„Na dann. Immer her damit.“
Ungelenk manövriere ich um die Regale herum, um zum Tresen zu gelangen. Gebe dabei gut acht, nichts herunterzustoßen oder umzureißen. Was bei meiner eingeschränkten Sicht und dem bebenden Boden gar nicht so einfach ist. Aber ich schaffe es irgendwie, ohne mich völlig zum Clown zu machen. Hoffe ich zumindest. Sicher sein kann ich mir dabei natürlich nicht.
Vor der Kassa angelangt, sehe ich mich mit folgendem Problem konfrontiert: ich werde ohne halbwegs funktionierender Tiefenwahrnehmung niemals in der Lage sein, den Schlüssel entgegenzunehmen, den mir die Bedienung immer noch entgegenstreckt. Ich muss meine Augen öffnen. Zumindest ein kleines Stück. Nicht zu lange drüber nachdenken – einfach tun. Das Neonlicht hakt sich gleich beim ersten, verstohlenen Probe-Zwinkern unter meine Wimpern und versucht, meine Lider weiter aufzuzwingen als ich ihnen zugestehen will. Aber die nächste Umgebung wird schlagartig schärfer. Direkt vor mir baumelt ein rostiger Schlüssel. Er ist um einiges größer als angenommen. Beinahe so lang wie der halbe Unterarm der Kleinen. Und es hängen seltsame gravierte Glöckchen an seiner Reite. Rundherum zerbricht noch im selben Moment, als ich meine Hand nach dem Schlüssel ausstrecke, die Welt in kleine, scharfe Splitter. Das Antlitz des Mädchens hinter der Kassa erhebt sich über die Scherbenlandschaft wie ein angeschwollener Mond. Ihre stark geschminkten Augen sind auch von Nahem betrachtet nicht mehr als ausgefranste, schwarze Löcher, die mich gierig aus dem Hintergrund anzulocken versuchen. Ich widerstehe. Sehe ihr nicht direkt ins Gesicht, sondern konzentriere mich voll und ganz auf den Schlüssel. So schwer es mir auch fällt. Ich grapsche eilig danach, um die schneidenden Lichtscherben so schnell als möglich wieder aussperren zu können. Noch bevor sie bleibenden Schaden anzurichten vermögen. Eine Sekunde lang berühren sich unsere Hände. Was ich dabei unter meinen Fingerspitzen ertaste ist kalt und rau – wie Mondgestein. Fühlt sich überhaupt nicht an wie menschliche Haut. Ich ziehe meine Hand rasch wieder zurück. Das überraschende Gewicht daran verrät mir, dass ich es tatsächlich irgendwie geschafft haben muss, den Schlüssel entgegenzunehmen. Darauf gewettet hätte ich ja nicht unbedingt.
„Danke.“, fluche ich. Der ganze Tankstellenshop schwankt. Ich fühle mich wie ein Besoffener, während ich nach draußen torkle. Der Schlüssel in meiner Hand ist schwer. Ich frage mich, wie die Kleine ihn mir so lockerlässig entgegenstrecken konnte. Lasse den Gedanken aber gleich wieder fallen. Der Weg hinaus erfordert nämlich meine gesamte Konzentration. Die Glöckchen am Schlüssel bimmeln bei jedem Schritt, den ich tue. Stimmiger Zimbelgesang zum mahnenden Brummen der Welt. Sie weisen mir den Weg ins Freie. Zumindest fühlt es sich für mich so an.
Erst als das Schnaufen der Schiebetüren mich erlöst hat, bleibe ich kurz stehen. Endlich wage ich es, meinen verkniffenen Blick etwas zu lockern und stelle erleichtert fest, dass die Scherbenwelt vorerst verschwunden scheint. Vor mir liegt wieder – in trügerischem Frieden, wie ich ja mittlerweile erfahren musste – die dämmrig beleuchtete Zapfsäulenanlage. Aber über die Straße heult nach wie vor der Sturm und die Welt zittert immer noch bedrohlich an den Rändern. Alles wie gehabt. Es ist höchste Zeit für meine Kopfschmerztablette, damit ich endlich den Einkauf erledigen und mich nach Hause verziehen kann. Dort werde ich dann in meinem abgedunkelten Wohnzimmer Weihnachten feiern und dabei die ganze Welt verdammen, wenn mir danach ist – Alexandra ganz im Speziellen.
Das Klo befände sich hinter dem Gebäude, hat das Mädchen gesagt. Also irgendwo da vorn um die Ecke. Ich setze mich in Bewegung und vermeide es dabei, durch die Fensterfront in den Shop zu glotzen. Erstens um das quälende Neonlicht zu vermeiden und zweitens, weil ich mir sicher bin, dass mich die Kleine hinter dem Tresen immer noch beobachtet. Bei der Erinnerung daran, wie fremd sich ihre Hand angefühlt hat, stehen mir alle Nackenhaare zu Berge. Das alarmierende Brummen der Welt wird augenblicklich lauter. Das Beben an den Rändern stärker. Ich rüge mich selbst, nicht so gottverdammt paranoid zu sein und biege um die Ecke. Die Glöckchen am Schlüssel klimpern dabei ohne Unterlass. Irgendwie mag ich das Geräusch inzwischen.
Die Rückseite der Tankstelle ist unbeleuchtet. Das finde ich auf Anhieb gut. Es dämpft ein bisschen das Zittern, das heute unaufhörlich versucht, in die Mitte zu drängen. Ich brauche kurz, bevor sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Ich genieße jeden lindernden Augenblick davon. Bald schon erkenne ich, was vor mir liegt: zu meinen Füßen führt ein schmaler Pfad aus Waschbetonplatten direkt an der Mauer entlang. Und gleich daneben gähnt eine tiefe, mit Schneematsch gefüllte Mulde. Die weiß getünchte Rückwand der Tankstelle glimmt gespenstisch im indirekten Licht der Straßenlaternen, das um die Hauskanten kriecht. Über den hellen Verputz fließen verwirrendende, dunkle Muster. Zuerst glaube ich, es seien Kletterpflanzen. Erst als ich es genauer in Augenschein nehme, erkenne ich, dass es sich dabei offenbar um aufgesogenen Schlamm vom Untergrund handelt. Meine Fingerspitzen werden feucht, als ich neugierig einen der armdicken Stränge entlangwische. Das allgegenwärtige Brummen lässt die Muster tanzen und zu einem hypnotischen Dschungel wachsen. Im Dämmerlicht wirken sie fast wie vernunftbegabte, florale Lebewesen aus einer anderen Welt.
Ich gehe einige Meter an der Wand entlang. Versuche mich nicht von dem Reigen neben mir ablenken zu lassen und halte dabei Ausschau nach dem Außen-WC. Aber nirgends entdecke ich eine Spur davon. Und eigentlich brauche ich es ja auch nicht, wie mir schnell klar wird. Die ganze Übung hier dient ja lediglich dazu, endlich meine Tablette unbeobachtet schlucken zu können. Wenn ich so drüber nachdenke, was für ein Theater ich hier eigentlich veranstalte, nur um eine Tablette zu nehmen, dann schäme ich mich irgendwie dafür. Die Scheiß-Migräne wird mich irgendwann noch um den Verstand bringen. Meine Würde hat sie mich ja sowieso bereits vor längerer Zeit gekostet. Aber jetzt, wo ich einmal hier bin, ist es auch schon egal.
Ich grabe mit der Hand in die Jackentasche und ziehe den Tabletten-Blister heraus. Zumindest habe ich vor meinem Aufbruch noch genug Weitsicht bewiesen, ihn einzustecken. Wenn ich es schon nicht auf die Reihe bekommen habe, meine Stiefel anzuziehen, dann wenigstens das. Inzwischen spüre ich bereits deutlich, wie die Nässe unaufhaltbar durch die Socken quillt. Als ich eine Tablette durch die Folie drücken möchte, bemerke ich, dass das so nichts werden kann. Nicht mit nur einer einzelnen Hand zur Verfügung. Nicht mit dem schweren Schlüssel in der anderen. Ich werde ihn wohl oder übel ablegen muss. Als ich mich gerade bücken und genau das tun will, fällt mein Blick erneut auf die tanzenden Muster an der Wand – und auf ein Schlüsselloch, um das sie sich ranken. Ich könnte schwören, dass es sich eben noch nicht dort befunden hat. In Wahrheit ist es aber viel zu groß, um übersehen zu werden. So groß, dass der Bart des schweren Schlüssels, der von meiner Rechten baumelt, durchaus darin Platz finden könnte. Weil es mir einfacher scheint, als mich auf dem beengten Waschbetonplattenweg mühevoll zu bücken, um ihn abzulegen, stecke ich den Schlüssel also in das Schloss. Und siehe da: er passt tatsächlich, als wäre er eigens dafür gemacht.
Die Schlammspuren rundherum stehen plötzlich still. Ich drehe den Schlüssel herum, damit er von selber hält und ich meine Hand wegnehmen kann. Die Glöckchen bimmeln ganz aufgeregt. Dann drücke ich eine Tablette aus dem Blister und versenke sie in meinem Mund. Endlich. Ich schlucke sie gierig hinunter.
Donner zerbricht die Nacht. Das Brummen schwillt zum ohrenzerfetzenden Brüllen an. Das Zittern zerbricht endgültig die Welt und deren einzelnen, scharfkantigen Teile werden noch im selben Moment vom Orkan hinweggefegt. Es bleibt nur die Wand und die Senke vor meinen Füßen. Die Glöckchen klirren ekstatisch. Der gesamte Untergrund bebt. Ich kann mich nicht halten. Ich stürze und rutsche wehrlos den Abhang hinab. Lande in der Mulde. Sie ist warm. Instinktiv versuche ich mich aufzurappeln. Aber der Boden ist viel zu glitschig um Halt zu finden. Immer wieder falle ich hin. Irgendwann ist das Brüllen der Welt so laut, die Stöße des Bebens so stark, dass ich nichts anderes mehr tun kann, als vor der Vibration zu kapitulieren. Schicksalsergeben bleibe ich liegen. Versuche meinen Kopf möglichst in eine Position zu bringen, in der mich der blubbernde Morast nicht erstickt. Ich habe keine Angst. Das ist das Seltsame an der Sache. Obwohl rundherum nur noch Chaos regiert. Aber die gesamte Welt übernimmt sowieso bereits das Schreien für mich. Es wäre sinnlos da zusätzlich noch miteinzustimmen. Und die Glöckchen beruhigen mich irgendwie. Ich breite meine Arme aus wie Schwingen. Treibe am Rücken auf den Vibrationen dahin und blicke gen Himmel. Irgendwann vor kurzem muss die Wolkendecke unbemerkt aufgerissen sein und nun strahlt ein großer, fahler Stern auf mich herab. Genau auf mich. Ich weiß nicht warum, aber im schnellen Pulsieren seines bleichen Lichts erkenne ich das emsige Klirren der Schlüsselglöckchen wieder. Der Stern er… fällt er? Sehe ich einen Schweif? Es ist…ein Komet? Sein Licht, es wird heller. Und immer heller. Blendet mich. Aber ohne zu schmerzen. Nicht wie das Neonlicht. Heilsamer. Ich bade darin. Ich finde…mich…ich finde…Frieden. Und dann…
…muss ich wohl doch die Besinnung verloren haben. Mein nächster, bewusster Gedanke dreht sich bereits um die Nässe, die mir mittlerweile in jede Pore kriecht. Es ist wieder dunkel. Der Schneematsch, in dem ich mich suhle, stinkt aufdringlich nach Benzin. Das Beben scheint vorbei. Die Wolkendecke über mir wieder geschlossen. Das mahnende Brummen der Welt verklungen, ohne dass ich mitbekommen hätte, wann genau das passiert sein soll. Nur noch die Glöckchen klingeln irgendwo über mir leise im Wind. Die Tablette scheint zu wirken. Mir wird klar, dass ich langsam aufstehen sollte.
Ich brauche ganze vier Anläufe, bevor ich am Rand der Mulde genügend Halt finde, um mich daraus befreien zu können. Es ist ein hartes Stück Arbeit, mich zurück auf den schmalen Weg zu wuchten. Das Erste, was mir dort auffällt ist, dass die Pflanzenmuster an der Wand spurlos verschwunden sind. Gemeinsam mit dem Schlüsselloch und dem dazugehörigen Schlüssel. Irgendwie wundert mich das nicht. Trotzdem könnte ich nach wie vor schwören, dass ich noch immer die Glöckchen leise bimmeln höre. Ich bin über und über mit Schlamm bedeckt. Und der starke Wind sorgt schnell dafür, dass mir kalt wird. Ich beeile mich, zurück auf die Vorderseite der Tankstelle zu kommen. Als ich zurück um die Ecke biege, sehe ich, dass die Kleine aus dem Shop gerade dabei ist, einen der Kübel an der Zapfsäule, die eigentlich zum Scheibenputzen gedacht sind, an ihren Mund zu heben. Dann trinkt sie mit gierigen Schlucken daraus. Wasser rinnt ihr in Strömen über die Brust hinab. Es scheint sie nicht weiter zu stören. Irgendwo klingeln immer noch Glöckchen.
Verwirrt wende ich mich ab und drehe mich zum Shop um. Ich stehe so, dass ich aus meiner Position aus hinter den Tresen sehen kann. Dort kauert dieselbe Bedienung und starrt mir völlig verängstigt entgegen. Es wirkt fast so, als würde sie sich vor jemandem oder etwas verstecken. Am ehesten noch vor sich selbst. Als sie bemerkt, dass ich sie ansehe, legt sie flehentlich einen Zeigefinger auf ihre Lippen. „Bitte verrate mich nicht.“ In der Reflektion der spiegelnden Fensterfront entdecke ich, dass die Bedienung hinter mir, also eigentlich genau dieselbe Kleine, die ich zeitgleich wimmernd hinter dem Tresen kauern sehe, den Kübel leergetrunken zu haben scheint. Sie setzt ihn ab und bewegt sich dann langsam in meine Richtung. Aber ich schenke ihr keine Beachtung mehr. Ich habe etwas anders im Inneren des Shops entdeckt, dass mich völlig entsetzt und meine ganze Aufmerksamkeit fordert. Jemand kommt nämlich da drinnen gerade aus dem Klo. Ich selbst. Ich kann mich dabei beobachten, wie ich im Inneren des Shops zielstrebig auf das Regal mit den Kartoffelchips zugehe und mir eine der Packungen kralle. Ich reiße sie auf und stopfe mir gierig eine handvoll davon in den Mund. Mein Magen knurrt laut. Hingebungsvoll kauend blicke ich auf und entdecke mich, wie ich fassungslos ins Innere des Shops glotze. Dann winke ich mir durch die Fensterfront zu. Mein Mund verzerrt sich zu der Parodie eines Lächelns. Statt in Augen starre ich nur in schwarze, ausgefranste Löcher. Mondgestein. Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Diesmal hat mich das mahnende Brummen nicht gewarnt. Dieses Mal nicht. Es hat mich schließlich verlassen. Wahrscheinlich weil ich es nicht genügend geachtet habe. Ich hätte die letzte Tablette nicht nehmen sollen. Selbst durch den dicken Stoff meiner Jacke hindurch kann ich spüren, wie kalt die Hand auf meiner Schulter ist. Und fremd. Irgendwo klingeln Glöckchen.