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Mehr als nur phantastisch ‐ im Dialog mit Frank Duwald und Michael Perkampus (Teil1)

ERA: Ja, es gibt sie – die Leute, die ihr Leben in Büchern zählen und nicht in Jahren. Aber auch hierbei fallen gute und schlechte an. Und natürlich jegliche Koloratur dazwischen. Denn das Leben spielt sich – ebenso wenig wie gute Literatur – nicht in Ausschließlichkeit ab. Nicht in Weiß und Schwarz, nicht in Gut und Böse. Durch alle Zeiten war die Bemessungsgrundlage für ansprechende Kunst immer die Realität. Auch wenn sie bloß zur Abstraktion herangezogen wurde, stellte sie doch stets den Sockel zur Verfügung, auf der sich alle musealen Errungenschaften präsentierten müssen. So sie sich denn überhaupt präsentieren wollen. Aber wer bewertet sie dann, wenn sie erst einmal auf ihrem Podest stehen? Und nach welchen Kriterien? Warum feiern – und zwar gar nicht so selten – Bücher Erfolge (um zum Ursprungsgedanken zurückzukehren), denen im selben Atemzug vielerorts jeglicher künstlerische Mehrwert abgesprochen wird. Und warum verstauben gleichzeitig Veröffentlichungen in den Regalen, denen höchste Brillanz attestiert wurde?

Um diese brennenden Fragen zu erörtern, hat der NightTrain heute unterwegs gehalten, um zwei Passagiere zusteigen zu lassen, die zu jener vorhin beschriebenen Spezies gehören – zu den Individuen, die ihr Leben voll und ganz der Literatur gewidmet haben. Und zwar mit dem Schwerpunkt Phantastik.

Da wäre zu einem Frank Duwald: Herausgeber, Literaturkritiker, Journalist, Schriftsteller und Betreiber von „dandelion/Abseitige Literatur“, einer jener Institutionen im deutschsprachigen Raum, um die man auf der Suche nach anspruchsvoller phantastischer Literatur einfach nicht herumkommt.

Und zum anderen findet sich Michael Perkampus heute zum Gespräch ein – ein wahrer Tausendsassa der Phantastik: Schriftsteller, Herausgeber, Musiker, Poet, Sprachphilosoph und Betreiber des „Phantastikon“ – eine Plattform, die sich mit mannigfaltigen und qualitativ hochwertigen Inhalten voll und ganz der phantastischen Literatur verschrieben hat.

Lieber Frank, lieber Michael, willkommen in jenem Waggon des NightTrains, der sich dem Dialog widmet. Es ist mir eine besondere Freude, unser heutiges Thema mit zwei so bibliophilen Menschen wie Euch bestreiten zu dürfen. Von Euch beiden weiß ich ja, dass ihr ganz konkrete Vorstellungen von guter Phantastik habt. Und ich freue mich umso mehr, weil ich ebenso weiß, dass ihr Euch zwar in vielen Ansichten überschneidet, aber auch in einigen Punkten konträrer Auffassung seid. Das verspricht ein überaus produktives, spannendes Gespräch zu werden. Darum will ich gar nicht mehr lange fackeln und gleich meine Eingangsfrage stellen: welche Kriterien müssen Geschichten für Euch auf jeden Fall erfüllen, um das Prädikat „gelungen“ zu verdienen. Und was wollt ihr auf keinen Fall darin vorfinden?

 

MP: Lieber Erik, da machst du gleich zu Beginn einige Fässer auf mit einer „absoluten“ Frage. Ich selbst halte mich, um ehrlich zu sein, für absolut nicht repräsentativ in meinem Leseverhalten. Das bringt aber auch den Vorteil mit sich, dass ich ein kritisches Verständnis gegenüber der Literatur als solcher habe, die mir vielleicht verloren ginge, wenn ich mich auch nur ansatzweise beschränken würde. Ich kann es in seltenen Fällen sogar ertragen, wenn Literatur einen pseudorealistischen Hintergrund hat, dann nämlich, wenn der Autor durchblicken lässt, dass er „Realität“ für eine gefährliche und wahnsinnige Erfindung hält. Ich will aber noch etwas erläutern, bevor ich auf meine eigene Wahrnehmung und Vorliebe komme:
Die Bezeichnung „gut“ halte ich – ästhetisch gesehen – für problematisch, denn das ist Geschmackssache. Ich selbst plädiere für „wertvoll“, denn das bezeichnet ein kritisches Element, das in der Phantastik ganz allgemein fehlt. Es ist schon in Ordnung, dass es dem Leser überlassen bleibt, was er schlussendlich für würdig hält, aber es fehlt eine kritische Auseinandersetzung, weil sich diejenigen, die Kritik intellektuell leisten könnten, die Hände nicht schmutzig machen wollen. Fantasy oder Phantastik – das könnte ihrem Ruf schaden, zumindest in unseren Breitengraden. Wenn die Masse der Leser aber sich selbst überlassen bleibt, dann führt das unweigerlich dazu, dass sich das allgemeine Niveau nur noch nach Verkaufszahlen richtet, und damit wird das Wertvolle übersehen.
Ein anderer Punkt sind die unterschiedlichen Paradigmen. Als Howard seinen Conan schrieb und Leiber seinen Fafhrd, als die Gothic Novel ihren kurzen Siegeszug hatte usw. waren sowohl das Lesepublikum als auch die Autoren von anderen Dingen eingenommen als das heute der Fall ist. Man musste sich da nicht mit der Allmacht der Medien herumschlagen. Heute beugt die Literatur das Haupt ganz selbstverständlich vor dem Film. Ich liebe den Film, gar keine Frage, aber Literatur und Film vertragen sich nicht, sie sprechen eine andere Sprache.
Und Literatur befindet sich gerade deshalb in der Krise, weil es eine Inflation derselben gibt. Um den Kreis aber zu schließen: das hat auch etwas Gutes, denn durch das Anstürmen der Phantastik wird sie auch gehört, und wenn es eine kritische Lese gibt, wird auch die Masse das Wertvolle nicht verschlucken können. Vielleicht ist das ja sogar unsere Aufgabe, wenn wir hier miteinander sprechen.

Ich würde deine Frage fast spontan beantworten wollen: Politik möchte ich nicht vorfinden, muss dann aber innehalten, weil gerade viele fantastische Erzählungen und Romane aus Lateinamerika nahezu immer ein politisches Element enthalten, um nicht zu sagen: ohne die meist doch prekären politischen Situationen, die da mitschwingen, gäbe es diese reichhaltige Phantastik dort möglicherweise gar nicht.

 

ERA: Ich muss ja zugeben, dass ich absichtlich das äußerst subjektive ‚gut‘ hier fürs Paradigma angeführt habe. Es klingt unverbindlich, oder? Etwas ist ‚gut‘. Das lässt die Türen für Diskussionen offen. „Wertvoll“ ist natürlich auch eine sehr schöne Bezeichnung. Bei Politik in der Phantastik muss ich persönlich ja immer automatisch an José Saramago denken, den ich sehr hoch schätze. In seinen überzeichneten und hochmoralischen ‚was wäre wenn‘ Szenarien schafft er es treffsicher, die Lücken in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Ich denke, gerade für diese Aufgabe ist die Phantastik ein überaus scharfes Werkzeug. Ihr kam ja vor allem in repressiven Staatstrukturen oft die Rolle eines großen, kritischen Rundumschlags zu, ohne gleich den Kopf dafür hinhalten zu müssen. Weil man ja über alles den täuschend fantasievollen Tarnmantel frei erfundener Geschichten legen kann. Auch die Russen haben das zur Perfektion gebracht, wie ich finde. Deren ironisch-melancholischen Untertöne habe ich auch immer sehr gemocht. Wie ganz aktuell zum Beispiel bei Vladimir Sorokin.

MP: Aber im Grunde ist es das: Politik interessiert mich nicht. Mich interessieren existentielle, psychologische und philosophische Fragen in der Phantastik, die Essenz des Seins und die Konnotation mit dem Traum.

 

FD: Mein Problem ist, dass mir so viele Dinge in einer „guten“ oder „wertvollen“ phantastischen Erzählung wichtig sind, dass es kaum die Chance gibt, sie alle in einer einzigen Geschichte vereint zu finden. Deshalb bewerte ich für mich persönlich eine Geschichte schon als gut, wenn sie wenigstens einige dieser Elemente enthält. Wenn aber im Gegenzug gar nichts davon in einem phantastischen Werk enthalten ist, gibt es wirklich keine Chance, dass ich es lese. Ich weiß natürlich, dass das furchtbar einengt, aber ich habe so viel Zeug gelesen, weil es in irgendeinem Kanon steht, es mir aber keinesfalls gefallen hat, so dass ich mir inzwischen den Luxus erlaube, nur noch Sachen zu lesen, die wenigstens einen Teil meines Muss-Katalogs mit sich bringen.
Eine phantastische Geschichte muss für mich erst einmal den Kriterien standhalten, die jegliche Art von guter erzählender Literatur auszeichnet. Und das sind für mich guter Schreibstil und lebendige Charaktere. Stimmt eins von beiden schon nicht, ist für mich bereits Schluss. Speziell in der phantastischen Literatur liebe ich es, wenn es ganz langsam und belanglos beginnt. Das Phantastische, Unheimliche, Übernatürliche oder wie man es auch nennen will, ist für mich nur überzeugend im Kontext des Normalen, Alltäglichen. Werden die phantastischen Akzente zu stark und eher zum Selbstzweck gesetzt, haben sie für mich lediglich die Wirkung des alljährlichen Silvesterfeuerwerks: Naja, ganz toll, bis zum nächsten Jahr.
Wenn eine Geschichte behutsam und realistisch beginnt und sich irgendwann das Unheimliche hinein schleicht, dann bin ich dabei. Wenn dies ein Autor geschickt macht und es zum Ende hin nicht versaut, rangiert die Geschichte schon mal recht hoch bei mir.
Glücklich machen kann man mich mit einem stimmungsvollen Setting: Alte Häuser, die Landseite, Seen, Efeu und so weiter. Um es zusammenfassend zu sagen: Ich persönlich liebe es, wenn eine phantastische Geschichte sich im Bereich der – wie ich es nenne – atmosphärischen Phantastik bewegt.
Ein Autor, der all diese Komponenten im höchsten mir bekannten Maße zusammenbringt, ist T. E. D. Klein. Bereits seine erste Erzählung „The Events at Poroth Farm“ bringt das alles mit sich und noch etwas, was kaum jemand in dem Metier beherrscht: Humor. Seine bekanntesten und besten Geschichten zeichnen sich außerdem auch noch wie nebenbei durch die großen Fragen des Lebens aus. Mehr kann man in meinen Augen kaum aus dem Genre herausholen. Was ich schade finde, ist, dass all die von mir genannten Charakteristika in moderner Phantastik nicht mehr sehr gefragt zu sein scheint.

Was bei mir gar nicht geht in einer phantastischen Geschichte? Ich gehe mit Michael: Politik. Zumindest „explizite“ Politik. Ich hasse es, wenn sich Autoren an große jeweils aktuelle politische Themen krallen wie Trump, Brexit, Rechtspopulismus usw. usf. Das sind zwar die Autoren, die die Literaturpreise gewinnen, aber mich widert es trotzdem an. Wenn ein politisches Grundthema mit der Umgebung der Geschichte verwurzelt ist, ist aber OK für mich.

 

ERA: Ich gehe da vollkommen konform mit Dir, wenn Du sagst, es ist wichtig, dass eine Geschichte Atmosphäre hat. Prägnante, realistische Figuren, dichte, stimmungsvolle Prosa und überlegte Handlungsstränge – das macht auch für mich wertvolle Literatur aus. Egal, ob sie jetzt phantastische Inhalte mitbringt oder nicht. Ich denke, im Handwerk sollte das für die Autorinnen und Autoren nicht allzu viel Unterschied machen. Wo wir uns jetzt aber deutlich unterscheiden, ist der Grad der Phantastik. Denn ich mag sie auch, wenn sie auf volle Breitseite gefahren wird, so wie es etwa die Fantasy oder auch New Weird oft und gerne macht. Und trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Figuren selbst in ihren Motivationen realistisch und geerdet wissen will, um sie verstehen zu können. Ich denke, dass diese spezielle Art von Realismus ein wichtiger Ankerpunkt in der Phantastik ist. Ein gesicherter Ablegeplatz für die Leser und Leserinnen, die einem unterwegs nicht verloren gehen sollen. Ich habe ja vor kurzem erst die amerikanische Weird Fiction für mich entdeckt, die diesen, meinen Ansprüchen an die phantastische Literatur mehr als nur gerecht wird – diese oft sogar noch übertrifft. Laird Barron, Phillip Fracassi, Paul Tremblay, der von Dir genannte T.E. D. Klein (der ja leider viel zu wenig geschrieben hat), Kathe Koja – um nur einige von ihnen zu nennen. Trotz ihrer großen Klasse wird kaum etwas von ihnen übersetzt, sind ihre Werke nur einem erlesenen Kreis im deutschsprachigen Raum zugänglich. Auch der von Dir, Frank, so hochgeschätze John Crowley findet in den neuen Zeiten mit seinem phantastischen Werk keinen Weg mehr in die Übersetzung. Woran denkt Ihr, dass das liegt? Ich meine der Markt und das Interesse dafür müssten doch eigentlich vorhanden sein, oder?

 

MP: Oh Nein, das täuscht. Sobald Literatur – ganz allgemein – eine gewisse Leseerfahrung erfordert, eine Bereitschaft, sich grundsätzlich mit Fragen unserer Existenz oder Psychologie auseinanderzusetzen, und sich dann noch einer Sprache bedient, die mehr ist als der übliche Selfpublisher-Ton (man möge mir verzeihen; ich habe nichts gegen Selfpublishing, aber es gibt diesen gleichgeschalteten Ton der Unsprache nun einmal hauptsächlich dort), dann reduziert das die Interessenten schon einmal deutlich. Das ist aber nichts Neues. Wir vergessen dabei oft, dass Lesen vor noch hundert Jahren eines Sache des gebildeten Bürgers war, ob er nun subversiv (wie der französische Surrealismus oder unser literarischer Expressionismus – beides späte Strömungen der europäischen Romantik, wo ja alles seinen Ursprung hat, was mit unserer Vorstellung von Phantastik zu tun hat) oder „angepasst“ las. Heute erleben wir auch hier einen Paradigmenwechsel. Es gibt die Literatur für jene, die früher ein Buch nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Und jeder scheint sich für einen Schriftsteller zu halten. Ich finde es durchaus gut, dass heute jeder seiner Kreativität Raum geben kann, aber es verzerrt die literarische Debatte erheblich. Da bin ich wieder bei meiner oben erwähnten Instanz eines kritischen Publikums. In der Phantastik haben wir das nicht. Zondergeld, Rottensteiner, Scheck (um nur einige zu nennen) haben eine Lücke hinterlassen. Es ist ein Vorteil, dass Phantastik heute ganz allgemein besser wahrgenommen wird, es ist aber eben ein Nachteil, dass die Bücherflut nicht mehr kritisch gesichtet werden kann, und dadurch auch hier nur noch das schnelle Geld Einzug hält. Tödlich für jede Kunst! Unsere Verlage gehen da lieber auf Nummer Sicher, nehmen ihren Kulturauftrag nicht mehr an, der noch in den 60ern lautete: 9 Bücher gut verkaufen, um 1 entlegenes, aber wertvolles Buch zu subventionieren. Die wertvolle Literatur kommt dann auch nicht von Konzernen, sondern fast ausnahmslos von Kleinverlegern, die ihrer Leidenschaft Ausdruck verliehen. Und mit den Übersetzungen verhält es sich nicht anders. Der deutschsprachige Markt funktioniert völlig anders als der amerikanische oder der englische. Um ehrlich zu sein, sehe ich mich voller Entsetzen bei uns um.

 

ERA: Aber was denkst Du, dass bei den Amerikanern anders läuft, beziehungsweise aktuell gelaufen ist? Ansonsten haben sie ja bis jetzt nicht unbedingt den Ruf einer großen Kulturnation genossen. Nur in den modernen Strömungen aller Kunstrichtungen scheinen sie plötzlich die Nase voran zu haben oder zumindest kräftig mitzumischen. Aber warum? Sprechen wir einmal nur über die phantastische Literatur: macht es da alleine die Masse? Also dass es prozentuell gar nicht mehr Leute gibt, die sich dafür interessieren, sondern die Menschen, die Englisch sprechen und lesen, einfach insgesamt eine größere Summe ausmachen, und die angesprochenen Bücher somit aus einem größeren Markt schöpfen können? Oder ist es noch etwas anderes? Zu den übrigen, von Dir angesprochenen Punkten, würde ich dann natürlich auch noch gleich kommen.

 

MP: Um nicht ganz ausschweifend zu werden, denke ich, dass sich die Amerikaner von Poe weg in einem Kontinuum bewegten. Wir hingegen hatten einen riesigen Bruch durch den zweiten Weltkrieg. Bis dahin waren wir – denken wir an den Orchideengarten – durchaus linear in unserer phantastischen Entwicklung. Bis heute wirft man der Romantik ja vor, ein Wegbereiter der NS-Zeit gewesen zu sein, zumindest theoretisch. Und dass die Phantasten um Ewers und Strobel ja auch tatsächlich krude Ideen vertraten, hat uns natürlich den Rest gegeben. Die andere ungute Entwicklung ist die der Trennung zwischen angeblicher Hoch- und Trivialliteratur. Bei uns neigt man noch immer zu diesem wirklich grenzdebilen Klischee und hält – meiner Meinung nach aus Angst und Unkenntnis – daran fest.

 

ERA: Halt diesen Gedanken bezüglich Hoch- und Trivialliteratur kurz fest, Michael. Auf den möchte ich gleich noch näher eingehen. Was denkst du über das Thema der Amerikanischen Phantastik im deutschsprachigen Raum, Frank?

 

FD: Ich sehe es genauso wie Michael. Diese ganzen einflussreichen Persönlichkeiten im deutschen Verlagswesen fehlen einfach. Aber neben Kirde, Rottensteiner etc. hatte auch Wolfgang Jeschke einen riesigen Einfluss auf die Szene. Er war zwar nie direkt in Sachen Horror unterwegs, aber er hat Unmengen von phantastischen Romanen ins Heyne-SF/F-Programm geschmuggelt. Das ging von den Romanen Christopher Priests, Iain Banks bis hin sogar zu Michael Siefener. Alles Grenztitel, die nirgendwo hinpassten, für Mainstream zu unkonventionell, für SF/F eigentlich mit zu wenigen phantastischen Inhalten. Wie verdanken ihm da wirklich viel.
Aber, wie Michael sagte, der Nachwuchs fehlt. Ich könnte spontan keinen deutschen Herausgeber nennen, der ein ähnliches Charisma und das entsprechende Fachwissen hätte, da wirklich etwas zu reißen.
Wenn ich mir die Programme der großen Verlage anschaue, sind da Unmengen von Werken mit künstlerischem Anspruch, die kaum jemand lesen wird. Sie werden trotzdem gebracht. Für anspruchsvolle Phantastik gibt es aber einfach keine einflussreichen Fürsprecher mehr.
Die Folge ist die schon seit vielen Jahren anhaltende Ausweichlösung, dass höchstens noch Kleinverlage Experimente wagen.

 

ERA: Die Aufteilung in Hoch- und Trivialliteratur, das ist ja ein Problem, mit dem die Phantastik hierzulande immer wieder zu kämpfen hat. Purer Eskapismus, Unterhaltungsliteratur ohne künstlerischen Mehrwert – Vorurteile, mit denen Geschichten, die sich nicht an einen strikten Realismus halten, oft genug konfrontiert sehen. Je höher der Grad der Verfremdung, desto wahrscheinlicher das Dilemma, ins unliebsame, unbeachtete Eck des reinen Zeitvertreibs geschoben zu werden. Dabei liebäugeln ja eigentlich auch zahlreiche anerkannte Literaten oft genug mit phantastischen Elementen. Michel Houellebecq mit seinem Buch ‚Möglichkeit einer Insel‘ fällt mir dazu ad hoc ein. Ein Buch, das nicht bei allen beliebt ist, weil sehr kontrovers, aber zweifellos ein Stück Hochliteratur, egal welche moralischen Verfehlungen man dem Werk auch vorwerfen möchte. Ich für meinen Teil liebe es ja. Aber mein ausgeprägter Hang zu Houellebcqs umfassenden literarischen Manifest gehört nicht hierher, in dieses Gespräch. Stattdessen möchte ich zurückkehren zum eigentlichen Thema: was müsste Eurer Meinung nach passieren, um der deutschsprachigen Phantastik die Rückkehr aus dem verpönten Schund in die Liga der anerkannten Hochliteratur zu ermöglichen und ihr Ansehen als wertvolle literarische Gattung wiederzubeleben? Welchen Teil müssten heimische Verlage dazu beitragen? Was könnten Autorinnen und Autoren dafür tun. Und fallen Euch aktuelle Schriftsteller oder Schriftstellerinnen ein, die ohnedies bereits auf dem richtigen Weg sind, um das Ansehen dieser Literatur-Sparte wieder ins richtige Licht zu rücken? Was macht zum Beispiel ein Daniel Kehlmann richtig, dem man diese Anerkennung ja zweifellos angedeihen lässt. Oder warum gelingt es Thomas Glavinic, sich einen Platz als Literat zu erarbeiten, obwohl er etwa mit ‚Die Arbeit der Nacht‘ oder ‚Das geheime Leben der Wünsche‘ astreine phantastische Werke abgeliefert hat? Warum gelingt selbiges einer Karen Duve mit ‚Macht‘? Warum finden gerade die Werke dieser Autoren und Autorinnen ihren Weg in die prominentesten Regale der Belletristik-Auslage und andere, nicht minder wertvolle Talente, wie zum Beispiel Richard Lorenz oder Eddie M. Angerhuber, versumpfen irgendwo im dunkelsten Eck der Fantasy-Abteilung, ohne dass ihnen die verdiente Anerkennung, geschweige denn der angebrachte Absatz zuteil werden würde?

 

MP: Also, da wirbelst du einiges durcheinander. Halten wir doch schlicht fest: Es gibt kein gültiges Kriterium für Hochliteratur. Damit schiebt man nur Dinge von sich weg, die man nicht versteht und mit denen man sich auch nicht beschäftigen will. Außerdem sind es nicht nur einige Literaten, die sich der Phantastik bedienen, sondern es sind ausnahmslos ALLE Autoren von Rang, die das getan haben oder tun. Das Problem sehe ich auch hier im politischen Gepräge. Realismus ist quatsch, das ist ja ganz einfach nachzuvollziehen, selbst für jene, die nicht gerade blitzgescheit sind. Jedoch gibt man den Publizisten den Vorzug vor den Künstlern: das ist das Problem und es ist ein großes, ein absolutes Problem, denn dadurch bleibt über kurz oder lang das Sprachkunstwerk auf der Strecke, die Sprache überhaupt, es bleiben auch die großen Themen auf der Strecke. Niemand wird sich in hundert Jahren für einen Roman interessieren, der geschrieben ist wie ein Artikel im Spiegel. Das ist das eigentlich Triviale: Die sogenannte Gegenwartsliteratur, die die wirklichen menschlichen Themen zugunsten des Zeitgeschehens opfert. Selbstverständlich ist auch da nicht alles schlecht, aber es ist zumindest „über den Zeitpunkt hinaus“ als Kunstwerk belanglos oder bestenfalls zweitrangig. Warum es einigen Autoren wie Kehlmann gelingt, ist ganz einfach: sie wurden vom Literaturbetrieb gemästet und gezüchtet, außerdem hat sich gegenwärtig ein „wildern“ im phantastischen Bereich eingebürgert. Es kann niemandem entgehen, dass dort die entscheidenden Dinge vor sich gehen. Was allerdings daraus resultiert, ist wiederum unschön. Man nimmt zB. große Literaten wie David Mitchell (Kehlmann oder andere moderne deutsche Autoren zähle ich nämlich nicht dazu) und bespricht sie im Feuilleton voller berechtigtem Eifer, betont aber gleichzeitig, dass es sich hier um Literatur und nicht um Phantastik handle. Das geschieht immer wieder, als müsse man das Straßenkind erst Mal putzen, bevor man es an seinen eigenen Tisch setzt. Das ist nichts anderes als Kulturfaschismus, und was das betrifft, sind wir hierzulande noch immer ganz vorne mit dabei. Kafka Horror? Arno Schmit Science Fiction? Günther Grass Phantastik? Diese Leute würden sich bei dieser Etikettierung übergeben. Aber ich sage auch folgendes: gut so. Wollen wir wirklich dort landen, wo sich diese selbstgefälligen Banden tummeln? Unsere Literatur ist die bestverkaufte, wichtigste und beliebteste überhaupt. Was uns fehlt sind Debatten, wie ich oben ja schon sagte, wir überlassen alles der Masse, und das sieht nach außen hin natürlich nicht gerade gut aus. Richard Lorenz und Angerhuber fallen gerade deshalb unter den Tisch, weil die Masse nichts damit anfangen kann und weil niemand da ist, der ihr das als wichtig in den Hals schiebt.

 

ERA: Siehst Du einen Weg, wie Kleinverlage mit geringen finanziellen Ressourcen das bewerkstelligen könnten: eine breitenwirksame Debatte bezüglich Phantastischer Literatur als essentielle Kunstform loszutreten?

 

MP: Um ehrlich zu sein, sehe ich das nicht. Und ich sage auch wieso: betrachtet man unsere kleine Phantastik-Szene, dann gibt es zu viel Pluralismus. Vielfalt meine ich damit nicht, die ist in ihrer Grenzenlosigkeit gut und wichtig, ich meine, dass jeder sein eigenes Süppchen kochen will, dass es kaum eine nennenswerte Bewegung gibt. Man ist faul geworden und zufrieden und hat verlernt, Energien zusammenzutragen. So nimmt man sich gegenwärtig mehr als man sich gibt. Eine Änderung ist da nicht in Sicht, ich habe ja in drei Jahren Phantastikon selbst schon einiges erlebt und wollte nicht selten hinschmeißen.

 

ERA: Aber aus Deiner Antwort glaube ich trotzdem heraushören zu können, dass deiner Meinung nach ein Zusammenschluss der Phantastik-Szene, die Du derzeit als eher zersplittert beschreibst, ein gangbarer Weg wäre? Rein theoretisch: wie könnte sich der gestalten, um die gewünschte Wirkung zu entfalten?

 

MP: Ich kann das nur anhand meiner eigenen Vorstellung beschreiben, die ich hegte, als ich mit dem Phantastikon ans Netz ging. Ich wollte ja nie der Administrator einer Seite sein, sondern an meinen Essays und Aufsätzen arbeiten. Ich hätte mich also gerne als Schreiber zur Verfügung gestellt, aber mich wollte wohl keiner haben. Also habe ich das mit der Karin zusammen gemacht und mir überlegt, dass ja irgendwann, wenn die Qualität stimmt, Autoren und Rezensenten ihre Texte anbieten würden, damit wir irgendwann auch in Print gehen könnten. Das war mein erster Denkfehler. Ich musste (und muss noch) allem hinterher rennen, wenn ich etwas haben will. Und so beantwortet sich auch deine Frage: es müsste eine Plattform geben, die viele mitgestalten wollen, um das Feld nicht den bezahlten Seiten zu überlassen. Auch dass es Tausend Blogs gibt, ist schön, bringt uns aber nicht weiter. Es gibt da den Zauberspiegel, mit dem wir vor zwei Jahren fast fusioniert wären, aber das ist eine völlig andere Kategorie. Aber du siehst selbst: ich wäre mit einer anderen Seite zusammen gegangen, um etwas zu erreichen. Solange es an Visionen mangelt, wird sich nichts ändern. Ich kann nicht alles alleine machen…

Ich sollte noch erwähnen, dass wir ja jetzt so weit sind, dass wir mit der Miskatonic Avenue in Druck gehen und vielleicht damit auch eine Reihe lancieren. Allerdings gibt es da bereits die ersten Schwierigkeiten und wir werden wohl noch einmal auf Verlagssuche gehen, bevor uns gar nichts anderes mehr übrig bleibt und wir es schließlich selbst veröffentlichen. Daneben wollen wir Autoren auf unseren Youtube-Channel portraitieren, beginnen aber mit einem Bericht über die MarburgCon. Ob das alles etwas nutzt, ist fraglich, aber es ist zumindest ein Zeichen.

 

ERA: Das nenne ich doch auf alle Fälle einen ehrgeizigen Anfang. Darüber würde ich mich später gerne noch weiter unterhalten. Aber vorher interessiert mich noch, was Du über die angesprochene Teilung in Hoch- und Trivialliteratur denkst, Frank – wobei man die Phantastik im allgemeinen Literaturbetrieb hierzulande nur allzu gern zur Zweiteren pauschalisiert. Worin besteht Deiner Meinung nach die hauptsächliche Problematik, die es aufzubrechen gilt, wenn man ein neues Bewusstsein fürs Genre schaffen möchte?

 

FD: Das ist ein wirklich komplexes Thema, das kaum zu greifen ist. Die Trennung zwischen Unterhaltungs- und Hochliteratur ist ja eine Sache, die vom Feuilleton erfunden und von den Verlagen aufgegriffen wurde. Ich glaube, so etwas können gerade wir als Liebhaber anspruchsvoller aber auch abseitiger Literatur aus unserem Gedächtnis streichen.
Für mich persönlich gibt es nur eine Unterscheidung: die zwischen guter und schlechter Literatur. Ich liebe es, wie es das sehr tolerante US-Magazin „Locus“ handhabt. Ohne Arroganz schreiben sie in ihren Monatsauflistungen immer „literary horror novel“. Da weiß ich immer sofort, dass es sich nicht um einen typischen Genre-Roman handelt, sondern um einen irgendwie anders gearteten Roman mit verstärktem Blick auf Stil und Klischeelosigkeit. Das sind für mich auch die wichtigsten Merkmale, um zwischen „hoch“ und „tief“ zu unterscheiden. Alles andere, was uns so eingetrichtert wird, ist wirtschaftliche Manipulation, hervorgebracht von denen, die mehr verkaufen wollen (die Verlage) und denen, die eine Existenzberechtigung brauchen (das Feuilleton).
Interessant sind natürlich die Ausreißer, die Michael beschreibt. Seit Margaret Atwood mit erhobener Nase Science Fiction schreibt, haben derartige „literarische“ Genre-Romane ein ganz anderes Ansehen. In der SF hat das, insbesondere mit Dystopien, heute recht gute Erfolgschancen, insbesondere, wenn aktuelle Themen wie Klimakatastrophen, Überwachung etc. erfolgsbewusst eingefügt werden. Leider ist mir kein Beispiel bekannt, in dem ein namhafter Liebling des Feuilletons plötzlich einen übernatürlichen Horror-Roman geschrieben hat. Ich vermute auch, dass es nur schwer überzeugend möglich ist, einen Horror-Roman mit der Erfolgsformel „aktuelles Weltgeschehen“ aufzupimpen. Da liegt die SF einfach näher dran, weil deren Themen immer schneller Realität werden. Insofern sehe ich die Horror-Literatur als spekulatives Genre deutlich benachteiligt. Es ist meiner Meinung nach, wie auch Michael schon erwähnte, eher geeignet, das menschliche Miteinander zu erkunden (also die Kernthemen Liebe, Sex und Tod), was im 19. Jahrhundert eine große Sache war, aber heutzutage nur noch Beiwerk ist.
Ich sehe deshalb nur drei Möglichkeiten, wie die Weird Fiction wieder ins allgemeine Leser-Gespräch zu bringen ist.
Möglichkeit eins wäre, dass wie oben gesagt, ein wirklich renommierter Autor plötzlich einen Horror-Roman schreibt und damit zum Darling der Medien wird.
Möglichkeit zwei wäre, dass ein Großverlag eine großangelegte Marktattacke mit Horror macht. Dass so etwas grundsätzlich funktionieren kann, zeigt Fischer Tor, die plötzlich innerhalb von Monaten zu einer wahren SF/Fantasy-Macht wurden. Neben dem kommerziellen Gegurke haben sie inzwischen das Know-how und die Manipulationskraft, den Lesern auch anspruchsvolle Titel unterzujubeln, wie die Neuübersetzungen von Ursula K. Le Guin, für die sich Jahrzehnte niemand interessierte. Dass diese Möglichkeit 2 irgendwann kommen könnte, ist natürlich pure Träumerei. Wenn überhaupt, dann vielleicht im Sog von Möglichkeit eins.
Möglichkeit drei wäre dann das Sumpfgebiet, in dem wir uns bewegen, die Kleinverlag-Szene. Auf Basis des Fachwissens einiger Leute können hier traumhafte Projekte entstehen, die aber in meinen Augen niemals größere Dimensionen (sprich Verkaufszahlen) erreichen werden. Allerdings gibt es durchaus Beispiele, dass so etwas stattliche Dimensionen annehmen kann. Als Beispiel mag hier Golkonda dienen, die es wirklich geschafft haben, ohne großartigen Schund eine echte Marke zu werden (allerdings mit einem Mischprogramm aus SF/F/H). Dazu gehören dann aber auch geniale Entscheidungen wie die Lovecraft-Titel, die dem Verlag sicherlich einen großen Schub gegeben haben. Die andere Himmelsrichtung ist dann beispielsweise der Festa Verlag, dessen Verleger von anspruchsvollen Werken träumt, die er aber nur realisieren kann, wenn er den Markt mit z.T. übelstem Schund das Maul stopft.
Um zu einem Fazit zu kommen, bin ich persönlich der Meinung, dass der einzige realistische Weg zur Steigerung des Ansehens der Horror-Literatur ein Spezialisierter Kleinverlag wäre, der ein Geschick für die Auswahl der Titel hat (bei aller Qualität sollte alles auf jeden Fall gut lesbar und nicht zu artifiziell sein), bei gleichzeitigem Aufbau eines Zugnamens wie Lovecraft bei Golkonda. Damit könnte man nach meiner Erfahrung tatsächlich eine kleine aber maßgebliche Bastion des anspruchsvollen Horrors aufbauen. Ich fürchte aber, dass hier nur Geduld und Weiterkämpfen zum Ziel führen wird. Die Miskatonic Avenue könnte definitiv so ein Projekt werden.

…Fortsetzung des Gesprächs folgt in Teil 2, erscheint am Samstag, 10.2.