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Lieber Herr Mordio – Leseprobe

„Lieber Herr Mordio – eine Kolportage“ von Tobias Reckermann und Erik R. Andara erscheint Ende August 2020. Zur -> Vorbestellung stehen noch einzelne Exemplare zur Verfügung.

Leseprobe:

Wien, 11. Oktober 2019

Lieber Herr Mordio,

Im Pleistozän gab es keine Giraffen, es gab ja auch keine Bäume, um sie zu ernähren, es gab noch nicht einmal gereckte Hälse, um sie anhand dieser zu erkennen; man trug die Köpfe tief damals, versuchte, nicht aufzufallen, nicht zur leicht auszumachenden Beute zu werden; ebenso wie heute. Aber Schakale, die gab es bereits, auch wenn sie andere Namen trugen und sich damals wie heute in den Steppen versteckten. Die Steppen sind immer noch da draußen, ebenso wie die Schakale. Nur heute wollen sie uns glauben machen, sie seien zu Wölfen herangewachsen. Nachtwölfe, mit langen Zähnen, die unsere Seelen saufen wollen. Damit wir uns vor ihnen im Licht unserer Häuser, unserer Dörfern, hinter den Mauern unserer Städte verstecken. Und wer weiß, vielleicht sind sie das inzwischen wirklich: Wölfe. Sie sind von Anbeginn mit der Menschheit gereist, wissen, wie wir ticken. Sind stets getarnt und daher nur schwer zu erkennen. Es darf uns trotzdem nicht davon abhalten, durchs hohe Gras zu streifen. Auch wenn wir dabei unseren Verstand riskieren.

Ich wende mich heute an Sie, in der Hoffnung, Sie für eines meiner Manuskripte interessieren zu können. Im Anhang finden sie eine Leseprobe, ein Exposé und eine kurze Biographie meiner schriftstellerischen Karriere, die zugegebenermaßen zwar schon einige Jährchen andauert, aber noch nicht so richtig abheben wollte (nur damit ich hier kein falsches Bild zeichne). Nachdem ich im Vorfeld so frei war, einige Recherchen über Ihren Verlag anzustellen, bin ich rasch zu der Überzeugung gekommen, dass Sie die richtige Person, das richtige Verlagshaus für die Geschichte sind, die ich zu erzählen habe. Aus Ihrer Netzpräsenz und den Büchern, die ich bisher aus ihrem Programm lesen durfte (ich habe ihre beiden letzten Anthologien „Next Weird“ und „Nachtschatten“ georderter, und war hellauf begeistert davon), bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass sie vermutlich meine Behauptung verstehen, die Geschichte, die ich Ihnen hiermit anbiete, fahre mindestens genauso weit ins offene Gewässer hinaus, wie ihr übriges Programm es tut. Wahrscheinlich sogar weiter, aber das müssen Sie für sich selbst entscheiden. Was ich damit meine, wird Ihnen ganz schnell klar werden, wenn Sie die Zeit aufbringen, einen kurzen Blick ins Manuskript zu werfen. Nur um eines gleich klarzustellen, ehe Missverständnisse aufkommen: Es ist nicht Arroganz, die mich treibt, nicht der Glaube, dass ich Ihnen ein geniales Machwerk anzubieten habe oder dass ich ein schriftstellerisches Ausnahmetalent sei (das zu beurteilen stünde mir ohnedies nicht zu; außerdem halte ich persönlich nicht viel von Talenthierarchien, die den Ausblick auf das zu Erzählende verstellen). Es geht mir wirklich bloß um die Geschichte, die – und damit lehne ich mich jetzt einmal aus dem Fenster, in der Hoffnung, nicht zu viel zu schwafeln und mich so im Vorfeld bereits um ihr Interesse zu bringen – nicht nur eine Geschichte ist, sondern eher eine Warnung. Wovor? Lesen Sie die Geschichte, falls Sie das interessiert, mehr möchte ich an dieser Stelle nicht darüber verraten.

In der Hoffnung, bald von Ihnen Antwort zu erhalten, verbleibe ich hochachtungsvoll und mit lieben Grüßen,

Erik R. Andara

P.S.: Hat das funktioniert? Hab ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit? Ich hoffe es. Aber ohne Scherz: Lesen Sie die Textprobe. Achten Sie auf die Schakale. Wenn Sie unterdessen ihr Knurren hören, sind sie ausgemacht worden, dann befinden Sie sich in direkter Gefahr. Welches Jahr schreiben Sie? Wir hier haben 2019 – zwar nicht immer, aber noch oft genug, um hoffen zu dürfen, Sie auf diesem Wege zu erreichen. Ich muss vorsichtig sein, muss mich erst vergewissern, wie viel sie bereits von den Vorgängen wissen, ehe ich mehr dazu sage. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Man wird eben misstrauisch über die Jahre. Wenn Sie der sind, der ich hoffe, dass Sie sind, wissen Sie ohnedies, wie viele fette Spinnen im Netz zwischen hier und dort auf willfährige, leichte Beute lauern.


Darmstadt, 11.10.2019 (wenn ich mich nicht irre)

Lieber Herr Andara,

ich habe ihre Leseprobe und das Exposé gelesen. Ich will ihnen nicht süßreden und einfach nur sagen, dass mir beides gefallen hat. Sie sehen Dinge, die nicht jeder sieht. Und das ist wohl die Aufgabe eines Schriftstellers: Dinge zu beschreiben, die andere nicht sehen oder begreifen, oder beschreiben können.

Peter Mordio ist übrigens auch Schriftsteller. Nun, vielleicht nicht richtig ein Schriftsteller, aber er sagte mir einmal, dass er immer das Gefühl habe, schreiben zu müssen, selbst dann, wenn er nichts zu schreiben wisse. Dass ihm dieses Gefühl so sehr zu schaffen mache, dass er vom Nichtschreiben unglücklich werde, oder vielleicht nur im Schreiben einen Weg in die Zufriedenheit finden könne.

Es wundert Sie sicher, dass ich Ihnen schreibe, und nicht er selbst. Mein guter Freund Mordio hat mir für den Fall des Eintretens spezieller Umstände Zugang zu seinen Accounts gewährt und mich zum Stellvertreter in seinen Angelegenheiten gemacht. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass seine Verlagsgeschäfte ruhen, ich Ihnen daher kein Heim für Ihr Buch bieten kann, doch Ihnen nur eine einfache Absage für Ihr Anliegen zu schreiben, und mich nicht auf den poetischen Inhalt Ihres Briefs zu beziehen, erschiene mir grob und entspräche auch nicht Mordios Art des Umgangs mit hoffnungsvollen Künstlern wie Ihnen.

Sie sprechen in starken Metaphern – gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre Nennung von Schakalen, Wölfen und Spinnen auf einen metaphorischen Sinn abzielt? – und deuten auf „Vorgänge“ hin, sprechen sogar eine Warnung aus, wenn auch ohne offen zu sagen, wovor.

Ich sollte Sie an dieser Stelle – schon allein aus Datenschutzgründen – darauf hinweisen, dass diese Korrespondenz aller Wahrscheinlichkeit nach überwacht wird, und Sie und ich, in dem wir uns auf diesem Weg austauschen, ein womöglich erhebliches Risiko eingehen. Das Knurren der Schakale ist in der Tat nicht zu überhören!

Ich meines Teils bin bereit, dieses Risiko zu tragen. Aber sind Sie es auch?

Ich lese Ihnen im Folgenden einen Eintrag aus dem Journal meines Freunds Mordio, der bald nachdem der Kasper an die Macht kam verschwunden ist.

Wir – damit meine ich Mordios Freunde – nehmen an, dass das eine mit dem anderen zu tun hat, denn seit der Machtergreifung sind viele verschwunden – sind entweder abgetaucht oder beseitigt worden – und Mordio, oder Dashiell, wie er sich in seinem Journal nennt, gelingt es vielleicht noch am besten von uns, aus den gegenwärtigen „Vorgängen“ einen Sinn zu ziehen, so abgleisig und verrückt dieser auch scheinen mag.

Da Teile seines Journals einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, könnte auch die Neue Freiheit von ihr Kenntnis erhalten haben, und die NF würde Mordios Worte zwar nicht verstanden, aber Gefahr in ihnen gesehen haben, womit das Schicksal meines Freunds in ihren Augen besiegelt gewesen wäre.

Mordio schreibt, um dies dem folgenden Auszug des Journals erklärend vorweg zu setzen, von sich selbst zuweilen in der Dritten Person, dann auch wieder als Du oder Ich, oder taucht in seinen Worten unter, sodass es an manchen Stellen schwerfällt, ihm durch die Ungeraden und Irrwege seiner Berichte (oder Fantasien) zu folgen. Trotzdem, dessen sei sich sein Leser bewusst, folgt man vom Anfang bis zum Ende immer nur ihm.

Ebenso erscheint sein Journal fragmentiert und oft sogar widersprüchlich, und doch folgt er gerade darin einer inneren Logik.

Das Rauschen im Blick: Etwas mit den Augen veranlasste ihn dazu, sich Sorgen zu machen, und etwas mit dem Kopf verhinderte, dass er sich darum kümmerte. Anstatt einen Arzt aufzusuchen, wälzte Dashiell Gedanken über Möglichkeiten – die schlimmsten, von Syphilis über Demenz bis zu Tumoren hinter der Stirn, allgemein Nervenkrankheiten und hochansteckende Seuchen. Dabei zog er sich die entsprechenden Anzeichen aus den Fingern und überließ seiner Vorstellungskraft noch das letzte Terrain seines an sich klaren Verstands.

Bis er jemandem davon erzählte, vergingen einige Wochen voller wild wuchernder Ängste. „Es ist wie ein Rauschen“, sagte er zu Raymond, als sie gemeinsam ein Bier tranken, in der Suffering-Bar in Holystone, und fügte nach einem Augenblick hinzu: „Schwarzweiß, wie früher im Fernsehen, wenn kein Programm lief, nachts nach zwei Uhr.“

Dieser Raymond bin ich. Raymond ist nicht mein wirklicher Name, und unser Gespräch fand auch nicht an einem Ort namens Suffering-Bar in Holystone statt, doch Dashiell/Mordio äußerte sich mir gegenüber fast im selben Wortlaut. Der Eintrag allerdings bricht an dieser Stelle ab und ich kann den Fortgang des Gesprächs nur sinngemäß zusammenfassen: Zum einen glaubte Mordio halb an eine physiologische Ursache seines Sehleidens, zum andern an eine psychologische, doch zum dritten fragte er sich, ob die tiefere Ursache des Phänomens nicht eine gesellschaftliche oder darüber hinaus gar eine ontologische sei.

Mordio befand sich in einem seltsamen und auch für mich verstörenden Zustand der Ungewissheit. Sein Bart war mehr als nur drei Tage alt und seine Kleidung sprach von Vernachlässigung. Mordios Blick wanderte beständig und verlor immer wieder seinen Fokus, als ob ihm ein Schneetreiben oder körniger Nebel in die Augen dringe. Er wirkte im wahrsten Sinn wie in Auflösung begriffen. Nach einer neuerlichen Abschweifung seines Blicks flüsterte er kaum noch hörbar: „Die Existenz tickt wie eine Bombe“.

„Vorgänge“, sagen Sie? Lieber Herr Andara, möglicherweise reden wir ganz aneinander vorbei, vielleicht ist alles, was sie schreiben, reine Poesie und als solche nicht wörtlich zu nehmen, doch falls Ihnen an dem Phänomen, das Mordio beschreibt, irgendetwas die Seele berührt, und ich mich demnach doch nicht ganz täusche, sind Ihre „Vorgänge“ und Ihre Warnung aus derselben Luft gegriffen, wie Mordios schlimme Befürchtungen.

Es bleibt mir nun nichts weiter, als Ihnen für die Suche nach einem geeigneten Verlag viel Glück zu wünschen, jedoch zum Schluss eine Frage: Gab es im Pleistozän nicht bereits Bäume?

Herzliche Grüße

TR