Die ‚TRAINs auf dem Weg in die Remise
Abschlusstalk zwischen Erik R. Andara und Tobias Reckermann – Teil 1
ERA: Das Ende einer Reise? Ein Zwischenstopp? Schwer zu sagen. Klar ist, dass ich von draußen zugerufen bekommen habe, dass wir bald in eine Station einlaufen werden; eine Station, die wir wohl länger nicht verlassen werden. Könnte es sein? Könnte es sein, dass dies das Ende ist? Ich weigere mich noch, daran zu glauben. Aber was bedeutet das dieser Tage schon? Ich weigere mich, so viel von dem zu glauben, was um mich herum geschieht und trotzdem geschieht es. Also habe ich mich dazu entschlossen, Rückschau zu halten. Mir ganz bewusst diese besondere Reise anzusehen, die immerhin bereits sieben Jahre währt. Die vielleicht voran noch weiterführt, aber hier und jetzt wird der Zug wohl erst einmal stehen bleiben und … und dann?
Es kommt mir wie gestern vor, als ich neben den Gleisen auf Tobias gewartet habe – freudig, zuversichtlich, hoffnungsvoll. Aber was davon ist geblieben? Für mich selbst ist es gerade schwer, das zu be- und zu ergreifen, das Rauschen der Welt ist zu laut, die Realität hämmert mit ihren Fäusten unablässig auf mein Dach und zwingt mich, alle paar Minuten hinauszusehen, hinauszugehen und herauszufinden, ob uns wohl gleich der Himmel auf den Schädel fällt.
Die Fiktion, ja, die Fiktion ist noch da und treu und unablässig und ich verkrieche mich so oft wie möglich in ihr, baue mir Trutzburgen daraus, sehe ihr nach und entgegen und weiß, dass sie immer da sein wird für mich, mir immer ein Heim bieten wird. Aber darum geht es hier nicht. Noch nicht.
Zeit, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren, einen Anfang für dieses Gespräch zu finden; denn ein Gespräch soll es werden. Zeit, mich auf diese Reise zu konzentrieren, die möglicherweise endet, sicher aber jetzt einmal stillstehen wird.
Tobias, die letzten acht Jahre – für dich war es ja länger noch, viel länger –, lass uns mit dem Guten beginnen, was waren die Höhepunkte dieser Zugfahrt für Dich?

TR: Tja nun, Erik, es stimmt, gegen Ende des Jahres läuft das Gleis aus, zumindest werden bis dahin alle laufenden Projekte abgeschlossen sein und ich habe vor, auf absehbare Zeit keine neuen anzufangen. Fünfzehn Jahre sind es dann für mich, die ich unter dem Label WHITETRAIN fahre. Eine lange Zeit. Dass Du selbst schon die Hälfte davon mit an Bord bist … wow! Ich kann mich gut daran erinnern, wie Du dazu gestoßen bist, und da Du so entgegenkommend zuerst nach Höhepunkten fragst – anstatt nach Tiefschlägen, von denen es natürlich auch welche gab -, ich denke, dass 2018, als wir gemeinsam das Imprint NIGHTTRAIN gegründet und Deinen Leuchtturm veröffentlicht haben, auch das Jahr des größten Anschubs war. Vor allem die Arbeit an der Anthologie NIGHTTRAIN: Next Weird und deren Veröffentlichung im Herbst 2018 würde ich unter all den Erfolgen auf der Fahrt nach wie vor als den Höhepunkt bezeichnen. Ich hatte daran zusammen mit Christian Eschenfelder als Übersetzer wirklich einfach großartiger Storys zeitgenössischer Weird Fiction von Autoren wie Scott Nicolay und Laird Barron das Gefühl, an genau dem kreativen Ort zu sein, an dem ich sein wollte. Nach wie vor ist das ein großes Geschenk, und die Arbeit an dem Buch hat mich selbst auch in meiner Entwicklung als Schriftsteller wie als Herausgeber weiter gebracht. Neben Deiner Storysammlung Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel ist Next Weird dann auch noch das im Verkauf erfolgreichste Buch aus dem ‚TRAIN-Regal geworden, was zwar gewiss nicht bedeutet, dass es sich finanziell in irgendeiner Weise ausgezahlt hätte, aber doch, dass es einige Verbreitung gefunden hat. Obwohl das Buch inzwischen nicht mehr lieferbar ist, denke ich auch, dass es immer noch einen Standard für Qualität setzt, und, was die Präsenz eben zeitgenössischer Weird Fiction in deutschsprachiger Übersetzung angeht, auch noch immer als wichtige Station gelten kann. Wir waren damit damals ziemlich alleingestellt, heute nicht mehr, und allein das ist, wenn auch nicht allein auf uns zurückzuführen, ein echter Erfolg.
Darüber hinaus waren natürlich auch die Anthologie NIGHTTRAIN: Nachtschatten und die Titel der Reihe WHITETRAIN Underground Höhepunkte, insofern, als sie die Strecke in Fahrtrichtung Weird Fiction et al. mit für das Genre wichtigen Namen ausgebaut haben. Für mich persönlich kann auch und vor allem die Bereitschaft einer*eines jeden Beitragenden von Texten, Illustrationen oder redaktioneller Mitarbeit, sich an der Sache der ‘TRAINS zu beteiligen, als eine lange Reihe von Höhepunkten mitzählen. Das dürfen wir nämlich nicht vergessen: ohne die Bereitschaft vieler Dutzend kreativer Menschen wären WHITETRAIN und NIGHTTRAIN nichts, und die Zustimmung jeder*jedes Einzelnen, die eigene Arbeit zur Veröffentlichung in fremde Hände zu legen, setzt schließlich Hoffnung und auch ein großes Vertrauen voraus, das ich, wie ich hoffe, nie ernstlich enttäuscht habe.
ERA: Wenn es nach mir geht, kann ich nur bestätigen, dass ihr etwas Bahnbrechendes (sic!) geleistet habt. Und wenn ich ihr sage, dann meine ich vor allem: Du! Und all die wunderbaren Kolleg*innen, die Du um Dich geschart hast. Für mich selbst ist der WHITETRAIN jetzt lange Zeit ein sicherer Hafen gewesen, eine Heimat, in der ich mich wohl und zugehörig gefühlt habe. Ich blicke dem, was danach kommen wird, nicht nur hoffnungsvoll entgegen, muss ich Dir ehrlich sagen. Die Fantastik hat es nicht leicht im deutschsprachigen Raum. Am erfolgversprechendsten wirkt es oft noch, Fantastik zu schreiben und so zu tun, als sei es etwas Anderes: Thriller, Krimi, Gegenwartsliteratur, am besten in Übersetzung. Einer der größten und einflussreichsten deutschsprachigen Horrorverleger behauptet ja sogar, dass Deutsche einfach keinen Horror schreiben könnten. Was soll man dem nur entgegensetzen? Du hast von Tiefschlägen gesprochen. Für mich ist das Programm der TRAINS ja ein einziger Höhepunkt, aber ich weiß natürlich sehr genau, worauf Du hinaus möchtest. Und ich denke, das ist ganz viel mit markt- und geschmackspolitischen Gegebenheiten im hiesigen Buchhandel verknüpft. Aber natürlich nicht nur. Auch mit dem hiesigen Leser*innengeschmack? Was denkst Du? Was sind für Dich so Dinge, die richtig schief gelaufen sind, die immer noch schief laufen, wo der Zug vielleicht sogar ins Wanken gekommen ist? Und wie fügt es sich in das große Ganze? Ich weiß, das ist ein komplexes Thema (vielleicht auch gar nicht so sehr, vielleicht eher einfach breit und niederdrückend), aber lass es uns einmal anreißen und schauen, wohin es uns bringt.
TR: Ja, lass uns ruhig zu den Leichen im Kohletender kommen, haha! Wobei ich diesbezüglich beruhigen kann. Etwas richtig Schlimmes ist in den ganzen Jahren nicht geschehen. Natürlich ist es frustrierend, wenn manche Bücher, in die man selbst viel Arbeit gesteckt hat, und in die Autor*innen ihr kreatives Herzblut haben fließen lassen, nicht verkauft und/oder rezensiert werden. Wenn es um Bücher geht, sind Verkaufszahlen und Rezensionen nunmal die Wege, auf denen man Reichweite und Erfolg von Projekten messen muss, und in den letzten paar Jahren hat beides leider ziemlich abgenommen, wodurch sich die Frage aufdrängt, ob das ’TRAIN-Programm wirklich noch von Belang ist. Dann gibt es ein paar Aspekte, die sich über die fünfzehn Jahre Fahrtzeit der ‚TRAINS eher ernüchternd dargestellt haben, aber das würde jetzt eine differenzierte Erklärung dazu verlangen, mit welchem Anspruch die ‚TRAINS an den Start gegangen sind, und wieso Anspruch und Wirklichkeit da auseinander gehen. Ich würde zusammenfassend sagen, dass dieses ganze Großprojekt WHITETRAIN/NIGHTTRAIN sozusagen lustvoll gescheitert ist. Scheitern ist aber eine ehrenwerte Sache. Es bedeutet immerhin, dass man etwas versucht hat, oder? Abschließend wäre zu erwähnen, dass es immerhin zwei Wünsche gibt, die nicht in Erfüllung gegangen sind. Zum einen hätte ich wirklich gerne ein Gedicht des verstorbenen Schriftstellers Lucius Shepard mit dem Titel White Trains in Übersetzung gebracht. Zum anderen hätte die Anthologie NIGHTTRAIN: Nachtschatten, ein Tribute an Thomas Ligotti, mit einem Beitrag von Ligotti selbst in Übersetzung gekrönt werden sollen. In beiden Fällen hat die Wirklichkeit leider nicht mitgespielt.
ERA: Aber woran liegt’s? Du sprichst von dem Anspruch, mit dem Du und auch ich an den Start gegangen sind, worin genau bestand der? Vielleicht müssen wir darüber sprechen. Geschichten können ja nicht im luftleeren Raum existieren, sondern brauchen immer Rezipient*innen, oder im Fall von geschriebenen Geschichten eben konkret Leser*innen. Ich muss zugeben, dass ich bis heute überrascht bin, dass das nicht selbstverständlich ist. Die Kunstdefinition ist in diesem Falle so klar für mich, nur so/eindeutig auslegbar, wenn man sich erst eine Zeit lang damit beschäftigt hat. Muss also der Anspruch als Geschichtenschreiber an sich selbst sein, soviele Leser*innen wie möglich zu erreichen oder muss das Hauptaugenmerk darin liegen, zu schauen, wie tief kann ich meine Wurzeln vergraben, damit meine Geschichte in den Köpfen meiner Leser*innen zu etwas Eigenem erwachsen kann? Ich spreche dabei gar nicht über Qualität vor Breitenwirksamkeit, sondern eher über den Mut, Neues oder besser gesagt Relevantes (Aktuelles?) zu versuchen. Ich weiß ja von Dir, dass Du Dein Ohr kontinuierlich auf der Schiene, vor allem des Angloraums gelegt hast, in dem, was die Fantastik angeht, natürlich auch nicht alles eitel Sonnenschein ist, aber in dem in den letzten dreißig Jahren Neues entstanden ist. In dem neue Autor*innen zwar oft noch mit altbekannten Größen verglichen werden, aber wo auch aktiv neue Stimmen der Fantastik gefördert werden. Den deutschsprachigen Raum erlebe ich im Großen und Ganzen zumindest nicht so. Klar, die Kleinverlagsszene ist hier auch aktiv, es gibt Strömungen wie die Progressive Fantastik, die sich den Begriff DEI auf die Fahnen geschrieben haben (Diversity, Equity and Inclusion, ich verwende hier absichtlich die englischsprachige Begrifflichkeit, weil ich sie in der Fantastik dort als viel definierter und gegenwärtiger, aber auch kampfbereiter erlebe), aber sehr viele Kleinverlage, die sich das auch hier aktiv zu forcieren und darauf zu pochen trauen, fallen mir dabei nicht ein. Und dabei verwende ich noch immer nicht den pösen, pösen Begriff Woke, den die Konservative und Rechtsextreme in den letzten Jahren als so abwertend geframed haben, dass er uns weggenommen und zum Unbegriff – leider auch viel zu oft in meiner an sich liberalen Fantastikblase – gestempelt wurde. Ich kriege immer noch Herzklopfen, wenn ich damit konfrontiert bin, dass eigentlich kluge und liebe und politisch versierte Menschen diesen Begriff im Sinne der Rechten gelesen haben wollen. Und genau das viel zu oft sehr laut, emotional und unreflektiert in der Öffentlichkeit vertreten. Aber, naja, damit muss ich wohl selbst damit zurechtkommen, und sorry, ich bin massiv vom Thema ausgeschert. Ich bin mir außerdem sicher, dass wir bald auch schon zu politischen und gesellschaftlichen Aspekten kommen. Sie sind ja auch der Elefant im Raum, wenn man mich fragt; also in JEDEM Raum inzwischen, nicht nur hier und in unserer Blase. Aber wo war ich? Ach ja: was war denn der Anspruch der TRAINS? Ich kann Dir dabei sagen, was meiner war: Ich wollte die wunderbaren Geschichten, die ich lese, und die so viel in mir ausgelöst haben, zu meinen eigenen machen, sie weiterspinnen. Ich wollte dabei aber auch immer meiner Zeit und meiner künstlerischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, in der ich lebe, treu bleiben: Ich wollte (und will immer noch) mitgestalten, mitsprechen, den demokratischen Gedanken mit in die Zukunft tragen. Ich will KÜNSTLER sein, klar und einfach Und für mich kann eine zukunftsträchtige Gesellschaft, eine deutlich vernehmbare und hörenswerte künstlerische Stimme nur DEI sein, nur divers, gleichberechtigend und inklusiv sein. Was meinst Du?
TR: Ok, Erik, Du willst es also wissen. Ich hatte, wie Du vielleicht gemerkt hast, versucht, mich darum zu drücken, weil es gar nicht so einfach ist, das in ein paar handliche Worte zu fassen. Der Anspruch. Wir sollten das Unmögliche wagen, mutig sein. Auf der WHITETRAIN-Website hat das Label einen Untertitel: angewandte Fantastik und radikaler Fiktionalismus. Das hört sich vielleicht abgehoben an, vielleicht auch unverständlich, aber es bedeutet für mich einfach folgendes: Es gibt keine klare Grenze zwischen Realität und Fiktion, und Fantastik ist der natürlichste Ausdruck dieser Unschärfe. Im Umkehrschluss ist Fantastik wie jedes andere Mittel des Ausdrucks menschlichen Denkens und Fühlens auch direkt auf das, was wir als Realität begreifen, anwendbar. Ein praktisches Beispiel dafür ist Utopie als Weg zur Veränderung sozialer Wirklichkeit, oder Science Fiction, die immer wieder zu einer progressiven Entwicklung nicht nur technologischer sondern auch sozialer Gegebenheiten beigetragen hat. Ich bin Schriftsteller, und WHITETRAIN ist zu einem guten Teil eben auch mein eigenes Schreiben, mein Anspruch an mein Schreiben, den ich auch auf meine Tätigkeit als Herausgeber ausgedehnt habe. WHITETRAIN ist zu mindestens gleichem Anteil von früherer Fantastik inspiriert wie von Punk und DIY (Do it Yourself), politisch engagiertem OldSchool-HipHop und Beat-Literatur, von Surrealismus und Situationismus und einer ganzen Reihe weiterer Bewegungen, die zwischen Kunst und Gesellschaft keine harte Grenze gelten lassen wollten. Du fragtest danach, ob wir eher das größtmögliche Publikum ansprechen oder den tiefsten Ausdruck suchen sollten. Wären wir Politiker*innen, müsste die Antwort wohl Ersteres sein, aber das sind wir nicht. Wir sind Schriftsteller*innen, und als solche haben wir ein viel größeres Repertoire zu bieten. Es gibt so viele Modi des Schreibens, darunter ist das reine Geschichtenerzählen nur einer. Wir haben alle Genres als Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung, und die Wahl obendrauf, uns über die Grenzen des Generischen überhaupt hinweg zu setzen.
In meinem Schreiben und als Herausgeber habe ich immer nach dem Überschreiten und Auflösen solcher Grenzen gestrebt, und nach der gegenseitigen Durchdringung scheinbar so unterschiedlicher Lebensbereiche wie dem Schreiben, dem Denken, dem gesellschaftlichen Engagement und dem künstlerischen Ausdruck. Ist der Anspruch zu hoch? Mit Sicherheit. Und genau darin liegt der Spaß dabei. Noch einmal: Wir sollten mutig sein und das Unmögliche wagen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Schreiben möglich ist, dass sich die Grenzen von Genres als Ausdrucksmittel zu Nutze machen kann, um etwa einer Geschichte eine Gestalt zu geben, ohne sich von den Restriktionen eines Genres binden zu lassen, ohne auf dessen Stereotypen und Klischees zu verfallen. Ein Schreiben, das beides ist: Fantastik und Wirklichkeit in einem. Oder zumindest relevant in jeder sozialen und persönlichen Hinsicht. Und es gibt Schriftsteller*innen, die das vormachen. Im sogenannten Mainstream, zum Teil in der Science Fiction, wo man das vielleicht noch mit einigem Recht erwarten kann, aber auch dort, wo wir, Erik, uns hauptsächlich aufhalten: in der Weird Fiction. Nimm China Mieville oder Jeff VanderMeer als Beispiel, oder Scott Nicolay. Da hat das Genre seine Grenzen überschritten, ohne seine Gestalt aufzugeben. Im deutschsprachigen Bereich sollte so etwas auch möglich sein. Allerdings fällt mir da nicht viel an Beispielen ein. Du hast es irgendwann im vergangenen Winter mal auf den Punkt gebracht, als Du sagtest, die deutschsprachige Fantastik käme Dir vor, als sei sie sich selbst damit genüge, Unterhaltung zu sein, und lese sich für Dich zum größten Teil wie Jugendliteratur. An beidem ist ja nichts Falsches. Ich mag Unterhaltung, und als Jugendlicher brauchte ich Jugendliteratur. Aber warum sollten wir uns in diesem Anspruch genügen? Wir können mehr, und nach meinem Verständnis dient es zur Förderung der Fantastik, ihre Relevanz für alle Bereiche des persönlichen und sozialen Lebens zu erhöhen.
Woran bin ich gescheitert? Ich denke, das lässt sich in drei Aspekte einordnen. WHITETRAIN ist kein Verlag, vielmehr war es von Anfang an als Kollektiv gedacht, und es sollte immer inklusiv sein. “Ein Titel für Aufnahmebereitschaft und Freundschaft”, wie die Dortmunder HipHop-Gruppe Too Strong es einmal für ihre Silo Nation formuliert hat, “ein Zug ohne Fahrschein, Du musst einfach nur einsteigen”, und eine Einladung zu gemeinsamem kreativen Schaffen. Über die Jahre hinweg hat sich aber herausgestellt, dass Kollektiv insofern zu viel gesagt ist, als es zwar immer Mitschaffende gegeben hat – Du, Erik, oder David Staege als Illustrator, die großartige Ina Elbracht als Schriftstellerin wie auch als Lektorin, sowohl Christian Eschenfelder als auch Martin Ruf als Schriftsteller und Übersetzer, und Felix Woitkowski, seid fester Bestandteil des Kollektivs und ein wesentlicher Grund dafür, dass die ‘TRAINS so viel Strecke gemacht haben -, aber wie es im kreativen Bereich oft ist, hat sich trotzdem bei mir das Gros an Arbeit und Entscheidungen gesammelt. Meine Vorstellung davon, was WHITETRAIN ist, ist zu dominant geblieben, um hier von einer Verantwortungsebene zu sprechen. Und meine eigene Vision und meine Fähigkeiten reichen nur so weit. Ich habe schon 2019 gespürt, dass mir die Kraft ausgeht, um noch viel weiter zu kommen. Ich gehe ja auch wie ihr alle noch einer Lohnarbeit nach, die allein schon den größten Teil meiner Energie beansprucht. Das ‘Train-Ding ist mir zu viel geworden. Und in meinem Schreiben bin ich an Grenzen gestoßen, die ich nie akzeptieren wollte. Irgendwo hier draußen, wohin ich vordringen konnte, haben mich die Grenzen meines Ausdrucksvermögens und meiner Vorstellungskraft doch eingeholt. Ich bin sozusagen auf den Erdboden meiner eigenen Klischees und Stereotypen zurückgefallen, habe die Fluchtgeschwindigkeit zur Überwindung meiner eigenen Schwerkraft nicht erreicht. Gleichfalls glaube ich, dass Weird Fiction als Genre ebenso seine Grenzen gefunden hat, zumindest vorläufig. Diese noch einmal zu erweitern, wird anderen obliegen, die nach uns kommen. Und hier ist der dritte Aspekt: WHITETRAIN sollte inklusiv sein und im besten Sinne divers. Tatsächlich ist es das nicht. WHITETRAIN hat gerade einmal eine Handvoll weiblicher oder LGBTQ+-Schriftsteller*innen und nur vereinzelt Menschen mit entweder einem Migrationshintergrund oder gar überhaupt keiner Verbindung zum westlichen Kulturraum usw. für eine Mitwirkung erreichen können, und ich glaube auch nicht, dass wir solche besonders als Leser*innen ansprechen konnten. Irgendwie sind wir in der Komfortzone weißer, hauptsächlich männlicher Fantasten hängen geblieben. Und das bedeutet, dass wir uns viel zu wenig Herausforderungen unserer eigenen unhinterfragten Gewissheiten ausgesetzt sehen, um an dieser Stelle noch weiterzukommen.
Ich erinnere mich an eine Leser*innenmeinung zu einem im vergangenen Jahr erschienenen Buch unseres Teams Feuerernte. Der*die Leser*in, kritisierte, dass in einzelnen Beiträgen des Novellenkreises gegendert wurde, mit den Worten: “Das brauch ich in einer Geschichte einfach nicht und es reisst mich aus der Geschichte in die wirre aktuelle Zeit.“ Na ja, wenn Du mich fragst, ist unsere “wirre aktuelle Zeit” doch genau der Stoff, aus dem unsere besten Geschichten gemacht sind. Auch was die oben beschriebene gegenseitige Durchdringung von Fantastik und Wirklichkeit betrifft, sind wir doch mit unseren politischen Werken Lieber Herr Mordio und Lieber Herr Andara zumindest recht weit gekommen. Was meinst Du, Erik?
Und nachdem ich jetzt so viel über meine eigenen Vorstellungen geredet habe: Wo siehst Du Dich mit Deinem Schreiben? Wo siehst Du Deine Erfolge und Misserfolge? Und was hat Dir die Fahrt mit den ‚TRAINS überhaupt gebracht? Aber vor allem: wie geht es weiter?

Fortsetzung in: Gleis X – Teil 2 folgt in wenigen Tagen