In ihrer Finsternis ruhen
von Erik R. Andara
Als sie endlich zur Tür raus sind, stelle ich als erstes die Klimaanlage ab und öffne die Fenster. Draußen ist es immer noch viel zu warm, aber inzwischen weht eine sachte Brise. Die Prinzessin im Turmzimmer, so fühle ich mich hier manchmal: weggesperrt und alleingelassen. Ich weiß auch nicht, woran das liegt, aber irgendwie gefällt mir dieser Gedanke.
Die Dämmerung ist beinahe vollzogen, nur an der äußersten Kante der Stadt blutet die versunkene Sonne noch ein wenig in den Himmel; rundherum das Knacken der allmählich abkühlenden Dächer, träge erwacht das Nachtleben zwischen den Gebäuden, atmet im Rhythmus des mechanisch schnaufenden Respirators. Unnachgiebig pustet er Luft in den schmalen Körper am Bett. Begraben in den leuchtend weißen Laken arbeitet ein zerbrechlicher Brustkorb wie der eines Vogels, der auffliegen möchte: jener von Dorothea. Er hebt und senkt sich, hebt und senkt sich, völlig im Einklang mit dem psalmodierenden Rauschen der Straßen und dem periodischen Zirpen des Herzmonitors.
Ich setze mich aufs Fensterbrett, unter mir geht es neun Stockwerke tief abwärts. Ich schlucke eine der Fentanyl, die für den Notfall am Medikamentenwagen bereitstehen, für ein eventuelles Erwachen in Qual – nicht, dass irgendjemand wirklich glaubt, dass Dorothea sie jemals brauchen würde, sie ist viel zu weit draußen, um von dort noch zurückehren zu können; all ihre Ärzte bestätigen das.
Ich schwinge die Beine ins Freie, ich werde nicht springen, nein, nein, nein, das hatte ich niemals vor. Mir bleibt etwa eine halbe Stunde, bevor die Wirkung des Opioids einsetzt und damit auch der leichte Schwindel, der es zu gefährlich machen wird, hier weiterhin zu sitzen, den saugenden Abgrund unter den Füßen. Aber bis dahin habe ich Zeit, und ich plane, sie auf der Fensterbank zu verbringen. Ich sehne mich nach ein bisschen Freiheit, das kann mir wohl niemand verübeln. Die schwarzen Dächerkanten am Horizont verschlingen den letzten Hauch von Tageslicht, es glimmen nur noch die vielen bunten Facettenaugen der Stadt; ich senke die Lider, tue so, als ob ich wieder in El-Quseir wäre, den warmen Wind im Haar, vor mir das wogende Rote Meer und Ligeia an meiner Seite, ihren schweren, heißen Kopf an meiner Schulter. Ligeia?, frage ich sie zur Sicherheit ein weiteres Mal. Wie bei Poe? Ganz genau so!, antwortet sie, und flüstert mir dann freigiebig einige ihrer dunkelsten Geheimnisse ins Ohr; ich glaube ihr das Meiste davon, ich liebe sie – nicht nur dafür, aber auch.
Ligeia sagte von sich, eine Nachtreisende zu sein, eine Suchende, der es schwerfalle, lange an ein und demselben Fleck zu bleiben, weil sie so nur irgendwann von der Melancholie überrollt werden würde. Und das wolle sie nicht, in diesem Punkt sei sie ebenso schwach und zerbrechlich wie wir Menschen. Damals wusste ich sofort, wovon sie sprach, ich kannte dieses Gefühl, kenne es immer noch viel zu gut, um ihr zu widersprechen. An Ägyptens Küste war zuhause für mich bloß noch ein fernes Irgendwo, alleine der Gedanke daran erfüllte mich in dieser Nacht in El-Quseir mit schierer Todesangst. Und Ligeia kam aus noch viel größerer Entfernung angereist, wenn man ihr glauben mochte – und ja, das wollte ich, unbedingt! Sie kam hierher, nur um bei mir zu sein! Das rede ich mir am Fensterbrett wippend ebenso gerne ein, wie voriges Jahr noch am Roten Meer, und lausche dabei der anbrandenden Symphonie aus vollfunktionalem Krankenhauszimmer und mondsüchtig wogender Großstadt. Aber warum musste sie mich dann verlassen, kehrte schon nach wenigen süßen Stunden wissentlich an einen Ort zurück, an den ich ihr niemals folgen kann? Ich weiß es nicht, zwischen all den geraunten Erläuterungen über die verborgensten und verbotensten Schöpfungsmysterien hat sie niemals die Zeit gefunden, mir auch das zu verraten.
Plötzlich halte ich es nicht mehr aus, so viel vom Himmel zu sehen, und sei er auch noch so dunkel; ich krieche ins Zimmer zurück, torkle mit Tränen in den Augen zum Krankenbett und betrachte dort ungläubig den fragilen Körper Dorotheas. Sie hat nichts mit Ligeia gemein, außer vielleicht der Hautfarbe: so bleich, dass es fast schon durchscheinend wirkt; als könne sie jeden Augenblick verblassen, verschwimmen, ihre fadenscheinigen Konturen einfach aus der Welt hinauslaufen, ebenso wie jene von Ligeia es taten. In einem Moment hier, im nächsten bereits mit dem lauen, salzigen Wind auf den Ozean hinausgeweht – und nichts würde von ihr bleiben. Sie ist mittlerweile ja auch so abgemagert, dass sie kaum noch einen Abdruck auf der Matratze hinterlässt, wenn ich sie drei Mal am Tag bewege, um ein Wundliegen zu verhindern. Aber sonst teilen sie nichts, meine beiden Liebhaberinnen an den entgegengesetzten Enden der Welt. In Dorotheas Gesicht sind bloß zwei blutleere Striche, dort wo Ligeias Lippen sich rot und prall wölbten, ihr Haar ist trockenes Stroh, wo Ligeia dichte, rabenfederfarbene Wolle trug. Dorothea ist kleiner, unscheinbarer sogar noch als die zarte Gestalt, als die ich sie ohnedies in Erinnerung behielt. Sie war das erste Mädchen, das ich küsste, am Mädchenklo in der Oberstufe des Sankt-Agnes-Gymnasiums; mein Magen vor lauter Aufregung zur Faust geballt, mein Herz eine verräterische, wild um sich schlagende Buschtrommel, die so laut gegen meine Rippen hämmerte, dass ich befürchtete, es würde uns jeden Moment an die Gangaufsicht verraten. Aber nichts dergleichen geschah. Außer diesem ersten aufrührerischen Stakkato und dem anschließenden Gefühl ihrer spröden Lippen, die rau über die meinen reiben, ist mir in den Jahren dazwischen nichts von Dorothea in Erinnerung geblieben. Und jetzt – völlig unerwartet – bin ich wieder bei ihr, ist sie mein Rettungsanker in einer Welt, die mir völlig wahnsinnig erscheint, seitdem mir Ligeia verraten hat, von welch finsteren Spielen sie im Innersten zusammengehalten wird. Manchmal wünschte ich, ich wüsste es nicht, wünschte ich, meine dunkle Geliebte hätte es mir niemals verraten. Wie viel einfacher dann alles sein könnte!
Ich greife nach dem Plastikdispenser, klopfe eine zweite Fentanyl heraus und schlucke sie, dann gleich noch eine und noch eine; ich spüre, dass eine einzelne heute nicht reichen wird. Die Von Tremenbachers bleiben die ganze Nacht lang weg, zumindest haben sie mir das angekündigt, und es wäre das erste Mal, dass sie ihrer Ankündigung nicht entsprechen. Sie schlafen auswärts, sie reden zwar niemals darüber, aber ich vermute, dass diese langen Feste bei Freunden, auf denen sie regelmäßig verkehren, in Wahrheit Schlüsselpartys sind. Einmal habe ich eine der Einladungen am Küchentisch entdeckt: eine schlichte, weiße Karte aus edlem Papier, mit schwarzer Prägeschrift, auf der eine der nobelsten Adressen in Wien angeführt war. In Nichts verräterisch, aber trotzdem – sie kehren jedesmal aufgekratzt am nächsten Vormittag zurück, des Öfteren auch getrennt voneinander; in den sieben Monaten, die ich bereits hier angestellt bin, höre ich regelmäßig, wie sie an den Abenden danach miteinander schlafen. Sonst nie, nur nach ihren Nächten auswärts, das ist schon etwas verräterisch. Aber was geht mich das an? Nichts! Sie sind erwachsen, sie sollen zusehen, dass sie ihren Spaß haben, ich würde es an ihrer Stelle genauso tun. Angesichts des tragischen Schicksals ihrer Tochter haben sie jedes Bisschen Glück verdient, und sei es auch noch so flüchtig.
Ich spüre nun, wie mir das Glühen des Fentanyls langsam in den Magen kriecht. Erst die allmählich in mir hochsteigende Opiumwärme macht mir bewusst, wie leer ich zuvor war. Leerer als leer. Ligeia hätte verstanden, was ich damit meine.
Ich lege mich zu Dorothea aufs Bett, schmiege mich eng an ihre kühle Seite, meine Lippen gegen ihre Wangen gepresst, meine Augen geschlossen. Es ist das erste Mal, dass ich das tue, und es fühlt sich richtig an.
„Arme Dorothea, arme, arme Dorothea“, flüstere ich, und versuche ihre Wangen mit meinem Atem zu wärmen – ein hoffnungsloses Unterfangen.
…
Nähere Informationen zur Veröffentlichung folgen Ende März.