Auszug aus Das neue Meer von Erik R. Andara
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„Schau, er ist immer noch da oben, wie um uns zu verspotten“, höre ich plötzlich Roland neben mir. Ich blicke hoch, und tatsächlich: Da ist er. Marduk, der Weltenwal, der sich ewig Windende. Er zieht seine Runden über die Insel, als wäre nichts geschehen.
„So eine Sauerei, wenn man bedenkt, dass …“, Roland führt den Satz nicht zu Ende.
„Wenn man was bedenkt?“, frage ich ihn. Irgendetwas an seinem Tonfall macht mich wütend. Aber als ich mich ihm zuwende, sehe ich, dass Roland gar nicht bei mir ist. Stattdessen entdecke ich dort, wo seine Stimme ihren Ursprung findet, bloß einen Haufen blanker Knochen. Der menschliche Schädel, der obenauf thront, schenkt mir ein breites, selbstgefälliges Grinsen, ebenso wie es Roland zweifellos getan hätte, wenn er nun in Fleisch und Blut neben mir säße.
„Was ist passiert? Wo sind die anderen“, frage ich den Knochenhaufen. Der Wind fährt hindurch, schenkt mir zur Antwort hämisches Lachen.
„Komm schon. Willst du mir jetzt wirklich erzählen, du kannst dich an nichts erinnern?“
Ich erspare mir die Antwort darauf. Ich weiß, dass mit Roland nicht zu diskutieren ist, wenn er erst einmal diesen Ton anschlägt. Mühsam erhebe ich mich aus dem feuchten Uferkies, löse mit spitzen Fingern den klammen Jeansstoff von meinen Oberschenkeln. Ich blicke auf den See hinaus und entdecke, dass er inzwischen zum Meer angewachsen ist. Es muss passiert sein, während ich geschlafen habe. Nirgendwo ist eine weitere Küste auszumachen, außer jener, an der ich mich selbst befinde und mit ratlosen Blicken den wässrigen Horizont nach Anhaltspunkten absuche. Aber da draußen ist nichts mehr. Nichts außer Marduk, der über uns kreist, und dem blaugrünen Schimmer, den der Weltenriss irgendwo im Norden absondert und damit das nächtliche Firmament erhellt.
„Und jetzt, oh großer Führer? Was jetzt?“
„Lass mich nachdenken“, zische ich dem Knochenhaufen zu, der vielleicht wirklich einmal Roland gewesen ist, mich vielleicht aber auch einfach an der Nase herumführt. Dinge dieser Art sind nicht mehr so klar zu unterscheiden, seitdem sich der Weltenriss geöffnet und unsere Sinne mit all den neuen Möglichkeiten geflutet hat. Leben bedeutet dieser Tage nicht zwingend dasselbe wie vor der Zeit des Schimmers. Genau davor sind wir ja auch geflohen.
Wir sind zu fünft: zwei Künstlerinnen und drei Künstler, die mit der rasanten Veränderung der Welt nicht mehr Schritt halten konnten und Asyl in den Alpen suchten. Abgeschieden von der Außenwelt wollten wir hier unser eigenes Tempo finden, unseren eigenen Zugang zu dem, wozu Leben geworden war, seitdem die Menschheit Botschaften von jenseits des Risses empfing. Wir hatten soviele Fragen, die uns niemand beantworten konnte, wenn nicht wir selbst es taten. Aber sogar hier hat uns der Wahnsinn schließlich aufgestöbert; das aberwitzige Panorama, das sich mir hier nun erschließt, lässt sich nur so erklären.
„Wo sind die anderen?“, frage ich Roland. Der Schädel grinst sein breites Grinsen. Ich entdecke ein silbernes Funkeln an seiner Schläfe. Als ich mich neugierig vorbeuge, um nachzusehen, woher es rührt, wird mir unversehens so schwindlig, dass ich abermals im Sand lande. Dieses Mal auf Händen und Knien. Es dauert einige Augenblicke, ehe ich wieder in scharfen Bildern sehe. Direkt vor mir der Schädel, der vielleicht Roland ist, vielleicht aber auch nicht, darauf das silberne Funkeln: kleine, durchscheinende Spinnentiere, die geschäftig über den Knochenhaufen wuseln, um ihn mit ihrem Netz zu bedecken. Mein Herz klopft hart in den Schläfen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht jeden Moment übergeben muss.
„Du siehst nicht so gut aus, wenn ich ehrlich sein darf. Vielleicht solltest du erst einmal kürzer treten. Du warst in deinem Suff gestern ja nicht mehr zu bremsen. Und was du mit Kathrin abgezogen hast, war auch nicht unbedingt die feine Englische. Vielleicht suchst du sie später, um dich bei ihr zu entschuldigen. Nur ein kleiner Rat unter Freunden … falls wir das überhaupt noch sind.“
„Was?“, frage ich. „Freunde?“
„Ja, genau das.“
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