Die ‚TRAINs auf dem Weg in die Remise
Abschlusstalk zwischen Erik R. Andara und Tobias Reckermann – Teil 2
ERA: Lieber Herr Mordio gibt einen guten Einblick, denke ich, ja, wenn man es als große Metapher nimmt, steckt da sehr viel Ehrlichkeit und Offenheit drinnen. Der Schlüssel ist die Geschichte selbst. Teilweise war es wie Tagebuch schreiben, das hat mir damals sehr geholfen.
Meine persönlichen schriftstellerischen Misserfolge? Oh, die sind mannigfaltig. Ich sag Dir aber vorher, was meine Erfolge sind: Ich habe mir in den sieben Jahren unserer gemeinsamen Reise eine feine, überaus treue aber auch kritische Leserschaft aufbauen dürfen. Leser*innen, die dafür sorgen, dass meine Geschichten tatsächlich auch gelesen und erlebt werden. Die dafür sorgen, dass ich meine Bücher ohne Bedenken veröffentlichen kann, weil ich weiß, dass sie sich auf jeden Fall selbst tragen und mir die Energie geben werden, weiterzumachen. Ich kann gar nicht sagen, wie wertvoll das ist und wie dankbar ich dafür bin.
Mein größter Misserfolg könnte allerdings sein, dass mir die Zeit ausgeht. Das klingt jetzt irgendwie seltsam, denn ich bin “erst” 47. Aber alle, die Kunst schaffen, wissen vielleicht, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass es Momentum braucht. Momentum und Hoffnung. Du gehst da aus Liebe zur Sache rein und glaubst anfangs, Deine Energie wäre unerschöpflich. Unsterblich. Das ist gut so, das treibt Dich voran, das lässt Dich arbeiten. Diese absolute und inhärente Selbstüberschätzung von beginnenden Kunstschaffenden ist sowas wie der schöpferische Urknall. Du glaubst, das wird ewig so weitergehen, kein Hindernis kann Dich aufhalten, Du wirst immer besser werden, Deine Schaffenskraft kennt keine Grenzen. Und dann irgendwann rennst Du zwangsläufig das erste Mal gegen eine so massive Wand, dass Du sie nicht überwinden kannst, zumindest nicht sofort und nicht alleine dadurch, dass Du stur weiter arbeitest. Du musst ruhen, musst in Dich gegen, musst die Sollbruchstellen (the flaws by human design, würde ich sie gerne nennen) in Dir entdecken, um sie enger zu verschnüren, zu verleimen und zu verkitten, damit sie haltbarer werden, und dann einen neuen Anlauf nehmen. Du wirst das schaffen – wenn Dir das Kunstschaffen wirklich wichtig ist, wirst Du das schaffen. Aber Du wirst danach nicht mehr der*die gleiche Kunstschaffende sein. Du wirst vorsichtiger geworden sein, Du wirst nicht mehr dieselbe Energie mitbringen, die Entropie wird sich in Dein Kunstschaffen eingeschlichen haben. Du musst lernen, damit zu arbeiten, das Wissen um Fehler und Schwächen zu utilisieren. Sie auszublenden hat nämlich nur dann Sinn, wenn Du das ganze nicht um des Werkes, sondern um des Profits willens machst. Und da sind wir auch schon bei meinen eigenen Ansprüchen und vielleicht auch bei meinem größten Fehler, meiner größten Sollbruchstelle in dem ganzen Gewese und Gebinde. Und nachdem wir uns heute zu dieser besonderen Abschlussrunde getroffen haben, werde ich einen gewissen Seelenstriptease vollziehen, und ihn Dir benennen: mein Werk ist mir wichtig, wichtiger als alles andere in meinem Leben (Melvin, mein Hund, und mein Leben als Leser sind die einzigen Tatsachen, die da mitziehen können, das ist sozusagen meine heilige Trinität, zu der ich tagtäglich bete), ABER (großgeschrieben), ich BRAUCHE das Geld, das sich im günstigsten Falle damit verdienen lässt. Ich brauche das Geld, das mein Werk einbringen kann, um mir die Zeit zu kaufen, die ich brauche, um mein Werk voranzutreiben, um die Energie zu kompensieren, die mir die massiven Widerstände, auf die ich in den letzten Jahren gestoßen bin und auf die wir hier sicher auch noch zu sprechen kommen, zu überwinden. Wenn das Geld zum Leben woanders herkommen muss, ist das wie ein ständiger Bremsklotz, der auf Anschlag mitläuft und meine Fortbewegung immens erschwert, um bei dem Bild zu bleiben. Ein Bremsklotz, der meine Energie rapide aufbraucht. Ich bin gleichzeitig aber nicht bereit, mein Werk un-suchender zu gestalten. Ich möchte weiter probieren, ich möchte zeitgerechte Literatur schreiben, ich möchte mich in meinen Geschichten selbst und meine Umgebung in meinen Geschichten suchen. Ich möchte, einen Spiegel schaffen, der mein Inneres nach außen projiziert, der meiner WOKEn Grundeinstellung gerecht wird, das in der Lage ist sogar Menschen, die sich über PEAK-WOKENESS lustig machen, einen Spiegel vorzuhalten und zu sehen: Das ist nicht alles dumm, was da geschieht, das kann erlebt, gesehen und gefühlt werden. Das kann verstanden werden. Das ist mein hehrer Anspruch. Müssen wir uns hier auch darüber unterhalten, was für mich PEAK-WOKENESS bedeutet? Vielleicht in einem Satz: Alle Menschen sind gleich. Alle Menschen vereinen ihre Kräfte gleichberechtigt darauf, dass irgendwann, wenn es uns als Spezies nicht mehr gibt, eine Geschichte über uns erzählt werden kann, die in den Hauptzügen hoffnungsvoll klingt. Vielleicht stellenweise traurig, voller kleiner Fehler, vielleicht manchmal zum Kopfschütteln, vielleicht hier und da zum Fürchten, aber im Großen und Ganzen hoffnungsvoll. Wir müssen als Spezies und Zivilisation gemeinsam und gleichberechtigt einen Haupterzählstrang schaffen, der so gelesen werden kann und muss. Wir müssen WACH bleiben, um alles, was dem im Wege steht, gemeinsam überwinden zu können.
So, ich bin wieder mal massiv ausgeschert, sorry. Wo war ich? Ach ja: Das ist mein Hauptanspruch an mich. Nicht aufgeben. Nicht aufzuhören, in diesem WACHEN Geiste Geschichten zu schreiben. Darin immer besser zu werden.
Als ich in den NIGHTTRAIN gestiegen bin, hatte ich noch soviel Energie, dass ich es als unbedingt erreichbar gesehen habe, dass ich dachte, ich komme dorthin (sorry, wenn ich hier nur über mich schreibe, ich hatte die gleiche Hoffnung sehr wohl auch für alle meine Mitreisenden, das muss ich hier explizit erwähnen). Heute nicht mehr so sehr. Ich habe Angst, dass mich die Zukunft mit Haut und Haar und Seele frisst. An etlichen Tagen ist das lähmend. Ich stelle mich hier hin und sage: Ich werde immer weiterschreiben. Aber irgendwo in mir ist eine eng in Ketten und Gafferband gelegte Sollbruchstelle, die sich dessen gar nicht so sicher ist. DAS ist mein größter Widerstand. DAS ist mein größter Anspruch an mich selbst: weiterzumachen, aber auch davon leben zu können, um diesen vermaledeiten Bremsklotz loszuwerden. Und genau in diesem Sinne werde ich weitermachen, solange ich an den wichtigen Stellen ganz bin.
Aber wollen wir uns den Widerständen zuwenden? Ich glaube, dass das eine wichtige Sache ist. Lass uns über die Widerstände sprechen, die unsere Fahrt ausgebremst haben. Kannst Du die für Dich und allgemein den TRAIN benennen, Tobias? Also abgesehen von den persönlichen Schieflagen, die wir gerade besprochen haben.

TR: Oh ja, die Zukunft wird uns wohl bis auf die Knochen abnagen, so viel steht so gut wie fest. In diesem Zusammenhang sehen unsere Widerstände fast unbedeutend aus, also die, die uns entgegenstehen und uns bremsen, aber erst recht auch unser eigener Widerstand gegen diese. Das ist ein Problem. Bei näherem Hinsehen besteht unser größter Bremsklotz natürlich ganz einfach in der Gesellschaftsordnung, in der wir leben, in der Kunst in einen Bereich abgeschoben ist, wo sie sozusagen per se entweder auf dem Markt erfolgreich oder unbedeutend ist. Das ist der Kapitalismus, dessen größter Trick eben der ist, Menschen zu entmachten und von Wirkung quasi kategorisch auszuschließen, wenn sie sich seinen Regeln nicht unterwerfen wollen. Was wir – als Schriftsteller*innen und Herausgeber*innen – dagegen tun können, ist gelinde gesagt wenig. Es ist eine Frage des Als-Ob, wenn Du mich fragst. Es geht darum, so zu tun, als ob das eigene Tun von Bedeutung wäre, und wenn es das nicht ist, dann ist man nur einer Fiktion aufgesessen, was uns als Fiktionaut*innen weder wundern noch entmutigen sollte. Allerdings ist es sehr leicht, selbst den Glauben daran zu verlieren. Ich möchte es gar nicht so sehr als eine Frage nach dem Erfolg der eigenen Arbeit formulieren, sondern eher als eine Frage nach der Wirkung. Kann man etwas bewirken? Wo ist der Impact? Wo ist die Resonanz? Du kannst Dich glücklich schätzen, dass Du Resonanz bekommst, Erik. Das ist wirklich nicht jedem vergönnt. Die Crux liegt wohl darin, dass man, wenn man die Resonanz nicht spürt und den Glauben an die Bedeutsamkeit des eigenen Tuns verliert, auch die Wirkung, die vielleicht vorhanden ist, gar nicht sehen kann. Mir geht es aktuell so, dass ich sie nicht sehe, und auf absehbare Zeit erscheint es mir gerade sinnvoller, z.B. politische Arbeit zu machen, mich zu vernetzen, damit ich nicht irgendwann allein dastehe, wenn es darauf ankommt. So viel haben die Umstände oder die Widerstände jedenfalls erreicht, dass mir der Wert des fiktionalen Schreibens zur Zeit entgleitet. Was soll ich sagen? Hätte ich vor zehn Jahren geglaubt, dass das einmal geschehen würde? Nein. Und trotzdem ist es jetzt so. Man kämpft da immer auch mit und gegen sich selbst. Und manchmal unterliegt man.
Aber ich sage Dir was, Erik, wenn alles unter einem ins Rutschen gerät, ist so eine Verunsicherung völlig normal. Und da befinden wir uns doch gerade, mitten in einer Lawine, oder, um ein anderes Bild zu bemühen, in einer Singularität. Der Punkt ist, dass wir nicht über den Moment hinausschauen können und es so aussieht, als ob der Kurs vorherbestimmt ist. Ohne recht zu verstehen, wie oder wann genau wir über den Ereignishorizont in diesen historischen Schlamassel geraten sind, oder was wir hätten tun können, um das zu verhindern, versuchen wir nur noch, uns an irgendetwas Festes zu klammern. Aber vielleicht bietet Fantastik genau hier einen Ausweg? Ich verrate Dir jetzt ein offenes Geheimnis: Die Gleise der ‘TRAINS liegen schon immer einen Schritt seitwärts des Hauptwegs, abseits, randwärts, dort, wo sich der Nebel befindet. Und wenn die große Straße versperrt ist, finden wir so vielleicht einen Weg um die Blockade herum.
Erst einmal ist das nur eine Hoffnung, aber vielleicht siehst Du dafür Anzeichen in der Genrelandschaft, oder speziell in der deutschsprachigen? Das Stichwort Progressive Fantastik ist ja schon gefallen … Was gibt es noch? Was ist mit Solar Punk, oder Climate Fiction? Und sind wir wirklich auf dem oben genannten Peak unseres Wachseins oder schon darüber hinweg? Verliert Fantastik jetzt das progressive Moment, das sie in den letzten einhundert Jahren mit aufgebaut hat und sinkt in sich zurück oder geht da noch etwas?
ERA: Ich sehe Antworten darauf, ja, allerdings leider wenige in der deutschsprachigen Genrelandschaft. Hier gilt es eher tunlichst, Phantastik (die mit PH) und Politisches zu trennen. “Zeitloses” zu schreiben, weil da sei ja quasi in den Archetypen eh schon alles gesagt. Vorwiegend in der deutschsprachigen Schauerliteratur wurde mir das öfter als Argument entgegengebracht und man hat mich dabei fühlen gemacht wie der nach trockenem Papier riechende Vampir von vor 150 Jahren, dem man das Kruzifix entgegenhält. Und ich sage, das ist doch völlig widersinnig, Wir leben jetzt und hier, wir haben Verantwortungen als Künstler*innen der Gesellschaft gegenüber. Und sei es nur als Chronisten. Archetypen gibt es ja, grundlegende Plotstrukturen gibt es, ja, aber zu behaupten, sie würden durch Zeitgerechtes (Zeitenexklusives? Zeitenbetontes?) gemindert, ist, als würde man sagen, die Menschheit sei vorvorgestern bereits am besten und bewundernswertesten gewesen, und man solle nur nicht an Grundlegendem rühren. Weil alles, was danach kommt, sei minderer Qualität. Und man verstehe mich hier nicht falsch: Vieles von dem, was wir ausprobieren und durchexerzieren und suchen, wird für nachfolgende Generationen völlig uninteressant sein. Wird sich vielleicht auch in der literarischen Qualität als unvertretbar erweisen. Wird sich eventuell in 100, in 50, wahrscheinlich schon in 20 Jahren ebenso angestaubt lesen wie für uns jene Bücher unserer Kindheit, in denen wir uns selbst vergeblich in einer schon lange verstorbenen und verblichenen Moderne gesucht haben. Es ist die Kombination von Beidem, das für mich die Dinge wichtig macht. Allgemeingültiges und Zeitgemäßes, das unsere Reise nachzeichnet. Da sehe ich im deutschsprachigen Raum wenig Tiefreichendes und Abseitiges und in die schwer erreichbaren Winkel Blickendes davon. Also in der Fantastik. In der Belletristik sehe ich da sehr Vieles, das mich aufhorchen und mein Herz als Leser höher schlagen lässt.
Es gibt ja diesen kruden Sager, dass Genre eine Erfindung des Buchhandels sei, um Bücher besser in Regale stellen und vermarkten zu können. Und diese strenge Trennung, die wir im deutschsprachigen Raum zwischen Fantastik (Phhhhh) und Nichtfantastischem erleben, wird nicht überall so zelebriert. Aber ich will dieses große Schisma gar nicht neu aufkochen. Du und ich und unsere Kollegìnnen und Leser*innen wissen sowieso genügend darum, für uns ist das ermüdender Alltag. Worauf ich allerdings hinaus will ist: Solar Punk, Climate Fiction, Diversity Horror oder wie immer man es auch nennen möchte, also das, was man da extra draufscheiben und als “Genre” kennzeichnen muss, das sollte eigentlich Grundvoraussetzung sein. Das sollte das Merkmal sein, das unser Fantastischen Geschichten antreibt. Jetzt und hier, den Blick nach vorne gerichtet. Nicht: Oh, alles, was heute passiert, das muss die Qualität mindern. Nur nicht zuviel Menschliches, nur keinen Zeitgeist, keine Politik, keine Religion. Leute?! Ich als Leser möchte ein Buch aufschlagen und überrascht werden. Klar, ich möchte natürlich auch Bekanntes sehen, mich wiederfinden, meine Welt wiederfinden, aber auch das soll sich neu anfühlen, unbekannt, aufregend, herausfordernd. Politik besteht aus Geschichten! Religion besteht aus Geschichten! Geschichten halten unsere Welt zusammen, Geschichten haben Macht und Wirkung. Immer und überall. Je eher sie in unseren Leben, an nachvollziehbaren Ängsten und Hoffnungen angedockt sind, desto mehr gehören sie zu uns, desto mehr ist es unsere gemeinsame Stimme, die ins Morgen ruft: Das sind wir, das haben wir erlebt und für euch niedergeschrieben, so denken wir, damit ihr morgen darauf aufbauen, weiterdenken, reflektieren, vielleicht auch verwerfen und euch weiter ausprobieren könnt. Und ja, dazu gehört auch, wie ich aus meinem Heute Vergangenes sehe, damit Du morgen erkennen kannst, wie Gegenwart und Zurückliegendes sich zu etwas Neuem verbindet. Denn Geschichten formen nicht nur Zukunft, sondern auch Vergangenheit. Es ist ein ewiger Kreislauf. Es wäre purer Irrsinn, den zu stoppen, indem man das treibende Moment nimmt, das Gegenwart heißt. Wir würden Vergangenheit und Zukunft im Narrativ zu einer bloß parallel laufenden Linie schrumpfen lassen, die nirgendwo beginnt, nirgendwo enden und uns niemals berühren wird.
So, wo war ich (wieder mal), ach ja: Fantastik hierzulande und woanders. Genreliteratur, das funktioniert in den englischsprachigen Bereichen unserer Welt (auch in anderen, aber ich kann nur über die Sprachen sprechen, in denen ich mit tieferem Verständnis rezipieren und konsumieren kann) besser als bei uns VIEL besser. So gut, dass heutzutage der Großteil an fantastischer Literatur, den ich lese und der mein Werk somit auch automatisch beeinflusst, aus dem englischsprachigen Raum kommt. Und das ist es auch, was ich am/im TRAIN so wunderbar gefunden habe, diese Geisteshaltung, dieses Zugänglichmachen, dieses “Herüberholen” – nämlich nicht nur der Autor*innen in Übersetzung, sondern auch des Fiktionalismus als Geisteshaltung, als Kunstfundament einer*s Geschichtenerzählers*in, die man transatlantisch (beileibe nicht nur) findet. Die Amalgamierung, die vielleicht auch einfach nur in einer Nichtexistenz von künstlich gezogenen Grenzen zwischen literarischen Inhalten besteht. Das war es, was ich im heiß brennenden Ofen gefunden habe, als ich damals zugestiegen bin, daran glaube ich noch heute, und das sehe ich auch als hohen Verdienst des TRAINs an.
Und man verstehe mich nicht falsch, bei uns gibt es etliche wunderbar-diverse, nach vorne schauende Autor*innen in der Fantastik. Leider habe ich es durch all die hinter mir liegenden Jahr erlebt, dass die Menge derer, die das anders sehen, größer … scheint …. ist?. In meinem Erleben zumindest ist es so. Und damit meine ich nicht, dass die Fantastik im deutschsprachigen Raum kein Miteinander oder kein solidarischer Ort sei. Aber die wichtigen, die brennenden, die schwierigen, die grenzeinreißenden, die nach morgen schauenden Themen erlebe ich viel zu oft als Zierrat und weniger als tragende Säulen und fest eingegossene Teile des Fundaments. Nicht als Selbstverständlichkeit, die es sein müsste.
Also wie tun? Du hast oben geschrieben, dass Dein/unser Selbstanspruch nicht immer erfüllt werden konnte. Dass am Ende die propagierte Diversität im schaffenden Organ/Triebwerk/Kollektiv zu wünschen übrig ließ. Bremst uns das? Und was muss sich verändern? Ist Fiktion weniger wichtig als realpolitische Vernetzung angesichts der bedrohlichen Zeiten, die bereits begonnen haben? Motten wir den TRAIN und unsere Geschichten deswegen ein, weil unsere Wirksamkeit damit/dadurch/darin beschränkt ist (Diese Frage stellt sich mir ebenso und insbesondere für meine Geschichten)? Widmen wir uns widerstandsfähigeren Mitteln? Vorübergehend? Für immer? Wie schaut das aus, mit dem Geschichtenerzählen und dem Schreiben morgen, wo vielleicht unsere schlimmsten Befürchtungen politisch und gesellschaftlich zur Tatsache geworden sein könnten?
Sprechen wir jetzt darüber? Oder müssen wir uns da geschlagen geben, weil wir die Antworten entweder nicht wissen oder nicht hören wollen?
TR: Da sprichst Du einige sehr wichtige Dinge aus, Erik. Volle Packung. Lass mich mal ein paar Atemzüge lang nachdenken und meine Gedanken sammeln …
Was Du oben über die ‘TRAINS sagst … danke dafür. Du weißt ja, wo sich der Name WHITETRAIN herleitet? Eine höchst ambivalente Geschichte. Von den 60ern bis in die 80er Jahre gab es in den USA Züge, die White Trains genannt wurden. Sie transportierten Nuklearwaffen und waren eines der Hauptziele von Protesten durch die Anti-Atomwaffen- und Friedensbewegung. So ein Bisschen wie die Castortransporte zwischen Frankreich und Deutschland, nur eben mit Massenvernichtungswaffen. Auf der anderen Seite gab es spätestens seit den 80ern in ultranationalistischen Kreisen in den USA diesen Mythos um schwarze Helikopter am Himmel. Heute würden rechte Verschwörungsgläubige es so ausdrücken, dass der von ihnen behauptete “Deep State” damit die “wahren Patrioten” überwache und terrorisiere. Der Gedanke, dass es schon während der Nixon-Regierung und später zur Zeit Reagans in den USA Konzentrationslager gegeben habe, lag auch Teilen der US-amerikanischen Linken nah, und es gibt Thematisierungen davon in Werken von Thomas Pynchon bis Grant Morrison. Nun, was den WHITETRAIN betrifft, ich habe mir erhofft, ihn als ein Zeichen für hoffnungsvolles Schaffen zu etablieren, ohne dabei die harsche Realität oder damit verbundene Ängste totzuschweigen, und so wie Du es oben schreibst, ist der Gedanke zumindest bei dir aufgegangen. Aber das nur nebenbei. Der Punkt ist, wie Du schreibst: Politik besteht aus Geschichten. Ich würde hinzufügen, dass das ganze Leben aus Geschichten besteht. Nicht zuletzt aus den Geschichten, die wir Biographien nennen, also dem, was wir anderen über uns, aber auch uns selbst immer wieder erzählen, wer wir sind, warum wir getan haben und tun, was wir tun. Wir plausibilisieren, rechtfertigen, identifizieren uns durch unsere Geschichten, grenzen uns ab und setzen uns Maßstäbe und Ziele – oder erklären uns selbst, warum wir unsere Werte und Ziele hintanstellen und zu einfachen und kurzfristigen Lösungen greifen. Warum wir nicht anderes können, als wir uns einreden zu sein.
Ich denke, dass in den vergangenen Jahrzehnten rechte und reaktionäre Erzählungen auf dem Vormarsch sind, wenn es darum geht, die Wirklichkeit zu erklären. Wie vor hundert Jahren den Futurismus hast Du da heute den Akzelerationismus von Nick Land und Konsorten, oder große Teile des Transhumanismus, den TESCREALism des Silicon Valley – die ganze sogenannte Dunkle Aufklärung, der Leute wie Musk und Milei die Stange halten. Wenn in dem Interview Musks mit Alice Weidel von der Besiedlung des Sonnensystems geschwärmt wird, ist das ein direkter Anschluss an das Neu-Schwabenland der Nazis, an Reichsflugscheiben und die Fantasien vom Vril und dem ganzen Quatsch, den ein Teil der extremen Rechten seit hundert Jahren vor sich hin fantasiert. Das Zeug hat längst Eingang in den größeren Pool der Popkultur gefunden und es bestimmt unsere Gegenwart mit, ganz egal wie abgehoben es ist. Wie Du auch schreibst, verändern Geschichten nicht nur die Zukunft und die Gegenwart, sondern wirken auch in die Vergangenheit, oder verändern unsere Sicht darauf. Wenn Faschisten heute daran arbeiten, etwa die deutsche Nazivergangenheit oder den Kolonialismus umzudeuten, geschieht genau das: Die Vergangenheit wird einer dunklen Aufklärung, also einer Verdunkelung unterzogen und umgeschrieben. Die sich als die Besiegten haben sehen müssen, versuchen sich zu Siegern zu erklären – und sie haben zunehmend Erfolg damit. Du siehst also, es geht hier um etwas. Bis in die Popkultur und ja, bis in die Genres hinein, findet ein Kräftemessen statt, ein Kampf, wenn Du so willst. Und ich denke, als Schriftsteller*innen und Herausgeber*innen ist es unsere Aufgabe, hier Widerstand zu leisten. Wir brauchen andere Geschichten, ganz dringend. Auch Geschichten über normale “kleine” Leute, wie Philip K. Dick sie erzählt hat. China Miéville hatte ich erwähnt, Adam Neville oder Joel Lane fallen mir ein. Auch diese schreiben über einfache Menschen, die sich krassen Herausforderungen gegenüber sehen, schier übermächtigen Bedingungen, in denen sie irgendwie zurechtkommen müssen, aber auch noch ihren Prinzipien treu bleiben wollen. Die Menschenwürde verteidigen, gegen Unrecht und Ungerechtigkeit einstehen. Utopie wagen.
In unserer Zeit und Gegenwart? Oder um Deinen Gedanken von oben aufzugreifen: damit unsere Gegenwart nicht verschwindet. Ich weiß nicht, ob Geschichten zu erzählen, wie wir es tun, dazu ausreicht. Allerdings haben wir heute schon eine ganz andere Repräsentanz von Werken, die aus anderen als dem westlichen Kulturkreis stammen, aus dem asiatischen und afrikanischen Raum etwa, und die dringend nötige andere Sichtweisen und oft ein anderes Problembewusstsein in den großen Diskurs einfließen lassen. Auch afroamerikanische Fiction und Fantastik sind lauter und durchdringender geworden, sowie Genrebeiträge von Menschen mit anderer als der lange für “normal” erklärten Hetero-Orientierung und Cis-Identifikation. Und dann fällt mir noch ein, dass ich das Schreiben immer als eine Art inneres Exil empfunden habe. Zumindest der reine Akt des Schreibens ist doch zumeist ein einsamer, bei dem man sich ganz allein mit sich und dem Text beschäftigt. Egal wie sich die nähere und mittelfristige Zukunft unserer Gegenwart gestaltet, aus dem Exil heraus – sei es ein inneres oder ein echtes, körperliches Exil – können wir als Schriftsteller*innen und Herausgeber*innen immer noch eine Menge tun. Wir sollten dabei auch nicht den Spaß vergessen, den man in einem Handgemenge mit Ideen haben kann. Du siehst mich zwinkern, Erik. Es ist noch nicht vorbei! Und äh … falls das hier jemand lesen sollte: keine Angst, ich bin mir sicher, dass Erik weiterhin einfach wunderbar lesbare Geschichten schreiben wird und sich nicht zum Agitator wandelt. Außerdem hast Du, Erik, auch schon Dein Nachtwerk begonnen. Wie geht es bei Dir weiter?
ERA: Wie es bei mir weitergeht? Nun, Leser*innen, die mir folgen, haben vielleicht in den letzten ein, zwei Jahren bemerkt, dass ich mich in einer gewissen Phase des tief Atemholens befinde. Dass es ruhiger geworden ist um meine Geschichten. Würde ich mir selbst einen Euphemismus vorwerfen, dann würde ich anführen, dass man es auch als Liegen und an die Decke starren, um dem Spiel von Licht und Schatten zuzusehen bezeichnen könnte. Sei’s drum. Ich schreibe weiterhin Geschichten, ich suche weiterhin nach Neuem, vorwiegend in mir dieser Tage, und nur zwischendurch am Keyboard. Ich habe in den letzten beiden Jahren wahrscheinlich mehr aus meinen Manuskripten gelöscht, als ich geschrieben habe. Aber auch das wird vorbeigehen. Nach 25 Jahren Kunstschaffen weiß ich das. Nicht, dass es sich nicht trotzdem mitunter als ewig fortwährend anfühlen kann. Aber ich habe Pläne. Zuerst noch ein letztes Buch im Nighttrain, meine vorläufige Abschiedsvorstellung sozusagen, meine letzte Station auf diesem Gleis. Die Geschichtensammlung “Niemand erfüllt deine Wünsche” scheint dafür beinahe fast prophetisch zu sein und ich bezeichne sie gerne auch als meine vielleicht letzte Sammlung, weil ich mich umfassend den Langformen zuzuwenden plane. Dass mir zukünftig nicht doch wieder Kurzgeschichten auskommen, das kann ich nicht versprechen. Derzeit fühlt es sich allerdings nicht so an, als würde es mich dorthin ziehen. Ich bin mit meinem Schwafelkopf und meiner taktiererischen Erzählerei wohl eher in der Romanlänge beheimatet. Dafür wird es auch meine bisher längste Sammlung mit zehn Geschichten (wobei der Schwerpunkt dabei auf Novellenlänge liegt), die auch meinen Schaffensraum auf dem NIGHTTRAIN einrahmen werden und zusätzlich vier brandneue Geschichten umfasst. Geplant ist es, dass das Buch noch heuer kommt. Aber wer weiß, was mein an die Decke Starren zu fabrizieren plant, wie sehr mich die Räder der realen Welt gefangen zu halten planen. Wir werden sehen.
Und dann, dann ist es Zeit fürs Nachtwerk, mein eigenes Imprint, das mit einem Episodenroman in echter Subskriptionsvariante starten wird. Darin habe ich mir nicht weniger vorgenommen, als vier große Klassiker der Phantastik (Die Verwandlung, Die Weiden, Der Sandmann und Der schwarze Kater) in die Moderne zu holen. Ähnlich wie ich es bei Hinaus durch die zweite Tür gemacht habe, aber … aber anders. Ernsthafter, moderner, zeitgeistiger, und ja, politischer. In dem Sinne, in dem du oben die Wassermarker vorgegeben hast: Wer sind wir in diesem Zeitalter? Woher kommen wir, wohin gehen wir. Und was davon verstehen wir überhaupt in diesem ganzen uns umgebenden Chaos, dem wir so dringend Ordnung zuschreiben wollen? Es wird von ganz normalen Menschen handeln, Menschen, die vielleicht Schwierigkeiten haben, sich anzupassen, die widerspenstig und vielleicht sogar widerständig sind und dabei an die vorgegebenen Grenzen ihres Menschseins stoßen. Ich habe das schon im Kopf, also wo sich die einzelnen Stationen abspielen werden. Das Spannende daran wird sein, inwiefern ich diese Klassiker in die Moderne holen kann, ohne sie schlicht zu kopieren, aber auch ohne ihren Kern zu zerstören und unkenntlich zu machen. Das wird eine große Narrativmetamorphose, vor der ich mich schon ein bisschen fürchte. Mein Mount Everest, den zu bewingen ich mich selbst genötigt fühle, weil ich hinter dem schroffen, alles überragenden Felsmassiv hoffentlich wieder den weiten Himmel sehen werde.
Und dann sitze ich gerade daran, mein erstes Buch in den englischen Sprachraum zu bringen. Aber darüber möchte ich noch nicht zuviel verraten oder sprechen, weil das befindet sich noch in den ersten Zügen und wird an ganz viel Hoffnung gehängt werden. Nicht, dass dem Ballon die heiße Luft ausgeht, ehe er weit genug kommt. Vielleicht muss ich doch noch einmal hinten nach und ihn neu aufpusten. Wäre nicht so unwahrscheinlich, wie man denkt.
Und Du, Tobias? Wie geht’s bei Dir weiter? Was wird Dein literarischer Himmel sein, den Du in der Zukunft zu sehen hoffst? Denn dass es das von deiner Seite aus gewesen sein könnte, daran will ich nicht glauben …
TR: Das sind doch alles sehr schöne Vorhaben – inklusive des an die Decke Starrens. Auch das gehört ganz wesentlich zur Schriftstellerei dazu. In meinen fünfzehn und mehr Jahren, in denen ich mich mit dem Schreiben stark identifiziert habe, hat es mindestens drei Phasen gegeben, in denen ich über längere Zeit – Monate bis Jahre – nichts Richtiges fertig bekommen habe. In der dritten dieser Phasen befinde ich mich derzeit. Seit einem Jahr ist einfach nichts mehr fertig geworden, nichts überhaupt so geworden, dass ich damit zufrieden gewesen wäre. So ein Zustand ist beunruhigend, wenn nicht sogar beängstigend, aber ich kann mir sagen, dass sich zumindest bisher darauf immer eine nur umso intensivere und fruchtbarere Zeit angeschlossen hat. Tatsächlich ging es dann immer auch auf einem neuen Qualitätsniveau weiter, also ist nicht alle Hoffnung verloren. Derzeit schreibe ich mich satz- und absatzweise durch etwas, das vielleicht noch zu einem Teil meiner Novellensammlung Letzte Berichte werden kann. Mal sehen, wie sich das entwickelt … Darüber hinaus habe ich aber keine Pläne, weder für das Schreiben selbst, noch für eine Herausgeberschaft. Vielleicht ist meine Zeit als Schriftsteller auch einfach vorbei.
Worauf ich mich freue: David Rix von Eibonvale Press hat ein Chapbook mit Übersetzungen einiger meiner Weird Storys in Vorbereitung. Ich glaube zwar nicht, dass dieses Buch einen Durchbruch auf das englischsprachige Genrefeld einleiten wird – dazu bin ich in meinen Einschätzungen inzwischen zu realistisch geworden, aber nach langen Jahren, in denen diese und andere Übersetzungen durch Amy Turner entstanden sind, wird die Veröffentlichung zumindest eine gewisse Genugtuung darstellen. Eine Sache, die mich unruhig macht, ja sogar regelrecht unzufrieden, ist, wenn längst erledigte Arbeit an einem Text oder an einem größeren Projekt einfach nur liegen bleibt und nirgendwo hinführt. Ja, deshalb ist es mir wohl lieber, die Gleise zu sperren, als sie nur brachliegen zu lassen. Auch ein Buch muss irgendwann einmal zu einem Ende kommen, sodass sich beidseits die Deckel schließen. Was immer danach noch kommen mag, wird Teil von etwas Neuem sein.

ERA: Dann, lieber Tobias, wird es wohl Zeit, in die vorläufige Endstation einzufahren. Noch sind wir nicht ganz da, noch brennt ein bisschen das Licht und noch wird es die eine oder andere Geschichte auf diesem Gleis geben. Bis dahin … vergesst den WHITETRAIN nicht, so wie der WHITETRAIN auch euch niemals vergessen wird. Wir sehen uns auf der anderen Seite …
TR: Lieber Erik, mich hat das hier sehr gefreut – die Gelegenheit, noch einmal die Gedanken zu sortieren. Vor allem freut mich aber, dass es bei Dir weitergeht und dass Dir unser kleines Wagnis WHITETRAIN zu Strecke verholfen hat. Wie hören, sehen, lesen uns sowieso noch, und für die Leserschaft: Bücher sind geduldig. Die meisten aus unserem Programm bleiben ja weiterhin lieferbar. Zwinker Zwinker.
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