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H.P. Lovecraft: DIE SPOREN VON YUGGOTH 3/3

H.P. Lovecraft: Die Sporen von Yuggoth 

Übersetzt von Michael Perkampus

->Hörfassung, gelesen von Michael Perkampus

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Anmerkung des Übersetzers: Fungi from Yuggoth besteht aus 36 Sonetten, die Lovecraft zwischen dem 27. Dezember 1929 und dem 4. Januar 1930 verfasste. Ausgewählte Sonette wurden im Weird Tales Magazine veröffentlicht. Erstmals komplett erschien der Zyklus in Lovecrafts Sammlung “Beyond the Wall of Sleep”, die von August Darleth 1943 herausgegeben wurde, sowie 2001 in “The Ancient Track: The Complete Poetical Works of H. P. Lovecraft”. Die erste Publikation, die den Zyklus in der richtigen Reihenfolge brachte,  war “Fungi From Yuggoth & Other Poems”. Herausgegeben von Random House 1971.
Lovecraft wählte für seinen Zyklus eine Mischform aus Sonetten-Stilen. Bei genauerem Hinsehen ist es schwierig, wirklich von Sonetten zu sprechen. Als Übersetzer habe ich mich dafür entschieden, auf die Endreime zu verzichten, um die von Lovecraft intendierte Erzählform beibehalten zu können. Wie immer bei Gedichten kann es sich nur um eine Nachdichtung handeln.

 

XXV. Tsathoggua

„Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“, hörte ich
Ihn schreien, als ich mich in diese verrückten Gassen stürzte,
Die sich südlich des Flusses, wo die alten Jahrhunderte träumen,
In dunkle und verdrehte Labyrinthe teilen, alle ohne Ziel.
Er war eine verstohlene Erscheinung, gebückt und zerlumpt,
Und in einem Nu war er aus dem Blickfeld entschwunden,
Also grub ich mich weiter durch die Nacht,
Dorthin, wo sich die bösartig-zackigen Dachgaupen erheben.

Es gibt keinen Leitfaden, in dem verzeichnet steht, was hier lauert –
Doch nun hörte ich einen anderen Alten schreien: „Hüte dich vor
Dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“ Und als mich die Schwäche überkam,
Hielt ich inne, als ein dritter Graubart voller Angst krächzte:
„Hüte dich vor dem zerrütteten Glockenspiel der Kröte!“ Voller Entsetzen
Floh ich dann – bis plötzlich diese schwarze Spitze drohend vor mir ragte.

 

XXVI. Die Vertrauten

John Whateley lebte etwa eine Meile von der Stadt entfernt,
Dort oben, wo die Hügel anfingen, dichter zu werden;
Wenn man sah, wie er seinen Hof verkommen ließ,
Wollte und musste man an seinem Verstand zweifeln.
Er vergeudete seine Zeit mit einigen seltsamen Büchern,
Die er auf dem Dachboden seines Hauses gefunden hatte,
Bis sich merkwürdige Linien in sein Gesicht gruben,
Und sich alle darin einig waren, sein Aussehen als Abstoßend zu empfinden.

Als er mit diesem nächtlichen Heulen begann, beschlossen wir,
Ihn besser vor Schaden zu bewahren,
Also gingen drei Männer von der Stadtfarm in Aylesbury zu ihm –
Kamen aber zurück: allein und verängstigt und ohne ihn.
Sie hatten ihn im Gespräch mit zwei kauernden Dingern gefunden,
Die auf großen schwarzen Flügeln augenblicklich davon flogen.

 

XXVII. Der alte Leuchtturm

Von Leng kommend, wo Felsgipfel trostlos und kahl
Unter kalten Sternen krabbeln, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben,
Dort schießt in der Dämmerung ein einziger Lichtstrahl hervor,
Dessen ferne blaue Strahlen die Hirten im Gebet wimmern lassen.
Sie sagen (auch wenn es keiner hört), dass sein Ursprung
In einer Kammer aus Stein zu finden sei, ein Leuchtturm,
Wo der letzte der Älteren für sich alleine vegetiert
Und durch Trommelschläge mit dem Chaos spricht.

Das Ding, so flüstern sie, trägt eine seidene Maske
Von gelber Farbe, deren seltsame Linien ein Gesicht zu verbergen scheinen,
Das nicht von dieser Erde stammt, obwohl niemand zu fragen wagt,
Was das für Züge sind, die sich im Inneren offenbaren.
Viele haben in der Frühzeit des Menschen dieses Leuchten gesucht,
Aber niemand wird je erfahren, was sie wirklich fanden.

 

XXVIII. Erwartung

Ich kann nicht sagen, warum manche Dinge in mir
Ein Gefühl von unergründeten Wundern hervorrufen
Oder von einem Riss in der Wand des Horizonts,
Der sich zu Welten öffnet, in denen es nur Götter gibt.
Da ist eine atemlose, verschwommene Erwartung,
Wie die an riesige alten Prunkstücke, an die ich mich halbwegs erinnere,
Oder auf wilde Abenteuer, unkörperlich, ekstatisch
Und so ungebunden wie ein Tagtraum.

Das Rätsel liegt in Sonnenuntergängen und fremden Stadttürmen,
Alten Dörfern und Wäldern und Nebelschwaden,
In Südwinden, dem Meer, sanften Hügeln und beleuchteten Städten,
Alten Gärten, halbgehörten Liedern und dem Mondfeuer.
Aber obwohl jede dieser Verlockungen allein schon das Leben lebenswert macht,
Errät oder vermutet keiner, was sie zu geben bereit sind.

 

XXIX. Nostalgie

Einmal im Jahr, im Glühen des wehmütigen Herbstes,
Fliegen die Vögel über die Weite des Ozeans hinaus,
Sie rufen und plaudern in freudiger Erwartung,
Ein Land zu erreichen, das ihre verborgensten Erinnerungen kennt.
Große terrassenförmige Gärten, in denen helle Blüten stehen,
Und Reihen von Mangos, die jeden Geschmack veredeln,
Und Tempelhaine mit ineinander verschlungenen Bäumen
Auf kühlen Pfaden – all dies sind ihre vagen Träume.

Sie suchen über dem Meer nach Spuren des alten Ufers –
Nach der großen Stadt, weiß und mit mächtigen Türmen –
Aber nur leere Gewässer ziehen vor ihnen dahin,
So dass sie sich schließlich wieder abwenden.
Doch in den Tiefen versunken, wo sich außerweltliche Kraken drängen,
Vermissen die alten Türme ihren verlorenen, noch lebhaften Gesang.

 

XXX. Werdegang

Nie kann ich beeindruckt sein von den rohen, neuen Dingen,
Denn mein Bewusstsein begann in einer alten Stadt,
Wo sich von meinem Fenster aus die Dächer
Zu einem malerischen Hafen voller Träume neigten.
Straßen mit geschnitzten Portalen, in denen die Strahlen
Des Sonnenuntergangs alte Oberlichter und kleine Fensterscheiben fluteten,
Und Sakralbauten mit vergoldeten Türmen –
Das war das Schauspiel, das meine Kindheitsträume prägte.

Solche Schätze, übrig aus Zeiten der ersten tastenden Gärung,
Kommen nicht umhin, von schwächeren Geistern vergessen zu werden,
Die auf wechselnden Wegen und mit verworrenen Ansichten
Über die unveränderlichen Mauern von Erde und Himmel jagen.
Sie zerschneiden die Bande des Augenblicks und überlassen es mir,
Allein im Angesicht der Ewigkeit zu stehen.

 

XXXI. Der Bewohner

Es war schon alt, als Babylon noch jung;
Niemand weiß, wie lange es schon unter diesem Hügel ruhte,
Wo unsere tastenden Schaufeln schließlich seine Granitblöcke befreiten
Und uns wieder zur Ansicht brachten.
Es gab breite Gehsteige und Grundmauern,
Und zerbröckelnde Platten und Statuen, geschnitzt,
Um fantastische Wesen aus einer längst vergangenen Zeit zu ehren,
Weit hinter allem, was der Mensch erinnern kann.

Und dann sahen wir diese Steintreppen,
Die uns durch ein verschlossenes Tor aus Dolomit
Zu einem schwarzen Hafen der ewigen Nacht geleiteten,
Wo ältere Zeichen und Urgeheimnisse nur die Stirne runzeln.
Wir bahnten uns einen Weg – aber rannten in panischem Schrecken,
Als wir von unten dieses klumpige Stampfen vernahmen.

 

XXXII. Entfremdung

Sein fester Körper war nie weg gewesen,
Denn jeder Lichtstrahl fand ihn morgens wie gewohnt,
Doch sein Geist ging jede Nacht auf Reisen
Durch Klüfte und Welten, die weit entfernt des Gewöhnlichen lagen.
Er hatte Yaddith gesehen, und blieb bei Verstand,
Kam auch sicher aus Ghoor zurück, wo doch
In einer stillen Nacht aus dem gekrümmten Raum
Ein lockendes Pfeifen aus dem Nichts dahinter drang.

In dieser Nacht erwachte er als alter Mann,
Und erblickte nichts, das er kannte wie zuvor.
Dinge schwebten nebulös und undeutlich umher –
Trügerische phantomhafte Belanglosigkeiten eines größeren Plans.
Sein Volk und seine Freunde sind jetzt ein fremder Pulk,
Zu dem zu gehören er vergeblich sich müht.

 

XXXIII. Hafenpfeifen

Über alte Dächer und längst verfallene Türme hinweg
Singen die Hafenpfeifen die ganze Nacht hindurch;
Die Rachen fremder Häfen und Strände weit und weiß,
Und fabelhafte Meere, die mit dem Klang gemischter Chöre anbranden.
Jeder dem anderen gegenüber fremd und unbekannt,
Doch alle sind verbunden durch eine im Verborgenen wirkende Kraft,
Die aus den brütenden Klüften des Zodiakkurses
Ein mysteriöses kosmisches Summen verlauten lässt.

Durch schattenhafte Träume senden sie eine Wegbeschreibung
Zu noch schattigeren Formen und Andeutungen und Ansichten;
Echos von äußeren Leerräumen und subtile Hinweise
Auf Dinge, die sie selbst nicht zu beschreiben wissen.
Und stets unter dem Einfluss des Chorgesangs, leicht gedämpft,
Fangen wir einige Noten auf, die kein irdisches Schiff je von sich gab.

 

XXXIV. Rückeroberung

Der Weg führte durch eine dunkle, halb bewaldete Heide,
In der sich moosgraue Felsbrocken über das flache Land erhoben,
Und sonderbare Tropfen, beunruhigend und kalt,
Sprühten von den Klüften aus unsichtbaren Strömen unter uns nach oben.
Es gab weder Wind noch irgendeine Spur von Geräuschen
In den rätselhaften Sträuchern oder einem der fremdartigen Bäume,
Da war nichts zu erkennen, bis sich plötzlich,
Direkt vor mir, ein monströser Hügel zeigte.

Seine steilen Seiten ragten bis halb in den Himmel hinauf;
Mit Gras bewachsen und von einer bröckelnden Lava-Treppe durchbrochen,
Deren Stufen für menschliche Tritte zu groß waren,
Wand sie sich zu dieser schrecklichen Höhe hinauf.
Ich schrie – und wusste mit einem Mal, welcher Ur-Stern und welches Jahr
Mich aus der Traumsphäre der Menschen zurückgesaugt hatte!

 

XXXV. Abendstern

Ich sah es von jenem verborgenen, stillen Ort aus,
Wo der alte Wald die Aue fast umschließt.
Es strahlte durch die ganze Pracht des Sonnenuntergangs –
Anfangs spärlich, aber mit einem langsam aufhellenden Gesicht.
Die Nacht kam, und dieses einsame, bernsteinfarbene Leuchtfeuer
Pulsierte bei meinem Anblick wie nie zuvor;
Der Abendstern aber war durch Stille und Einsamkeit
Noch tausendmal gespenstischer geworden.

Er zeichnete seltsame Bilder in die bebenden Luft –
Unvollständige Erinnerungen, die meine Augen schon immer vor sich sahen –
Riesige Türme und Gärten; seltsame Meere und Himmel
Eines düsteren Lebens – ich konnte nie sagen, woher.
Aber nun wusste ich, dass dieses Strahlen durch die kosmische Kuppel
Aus meiner fernen, verlorenen Heimat nach mir rief.

 

XXXVI. Fortbestand

Es hält sich in bestimmten alten Dingen die Spur
Eines schummrigen Wesen – mehr als Form oder Gewicht;
Ein dünner Äther, unbestimmt,
Und doch mit allen Gesetzen von Zeit und Raum verbunden.
Ein zartes, verschleiertes Zeichen des Fortbestands,
Den der Blick von außen nie ganz erkennen kann;
Von verschlossenen Dimensionen, in denen Jahre vergangen sind
Und erreichbar nur für jene, die verborgene Schlüssel tragen.

Es bewegt mich am meisten, wenn schräge Sonnenstrahlen
Auf den alten Farmgebäuden glühen, die sich gegen einen Hügel drängen,
Und des Lebens Konturen sich darauf abzeichnen, wie es
Vor Jahrhunderten war, ein noch schwächerer Traum als der uns bekannte.
In diesem seltsamen Licht habe ich das Gefühl, dass ich nicht weit
Von der Manifestation entfernt bin, deren Flanken das Alter selbst sind.

 

 


Michael Perkampus wurde 1969 im Fichtelgebirge geboren. Er ist Kulturanthropologe, Übersetzer und Betreiber des Online-Magazins Phantastikon. Von 2005 bis 2010 moderierte er für das Stadtradio Winterthur die Literatursendung „Seitenwind“. Sein Interesse gilt der Phantastik in all ihren Erscheinungsformen. Neben einigen sehr entlegenen Büchern schreibt er ab und zu Kurzgeschichten, die völlig am Mainstream vorbeigehen und deshalb auch selten veröffentlicht werden. 2017 gab er die Weird Fiction-Anthologie „Miskatonic Avenue“ heraus.

www.veranda.michaelperkampus.net