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Die Zeit der Feuerernte – Lesprobe 1

Auszug aus Im finsteren Tal von Tobias Reckermann

 

Den zweiten Tag stieg nun Rauch über der Schlucht auf. Hans beobachtete die Vorboten des Sonnenaufgangs und wie sich das Morgenrot mit dem Rauch paarte. Dunkelgraue Schleier tasteten über das Wildgras am Rand des Abgrunds. Unter seinen Händen fühlte sich die Erde warm an.

Hans stand auf, schritt aus und hielt dabei stets wenigstens einen Steinwurf Abstand zum Steilabhang, behielt linker Hand dessen Rand im Auge und suchte die Ebene mit Blicken nach dem Ende der Schlucht ab. Noch hing im Westen die Nacht am Himmel. Einzelne Sterne im tiefdunklen Blau flackerten noch einmal hell, bevor der Tag sie auslöschen konnte.

Die Sohlen seiner Stiefel erzeugten Tritt für Tritt morsches Knirschen im Untergrund und mehr als einmal an diesem Morgen sank Hans bis zu den Knöcheln in wurzeldurchwirktes Erdreich ein, sich jedes Mal darauf etwas weiter von der Schlucht entfernend.

Die Abdrücke, die seine Schritte hinterließen, schillerten wie die opalisierenden Panzer von Käfern in Blau- und Grüntönen. Leichter Regen setzte ein. Die Feuchtigkeit ließ den Rand der Schlucht in diesen trügerischen Farben aufleuchten und der Nebel schimmerte blass.

Die Überreste der Nacht waren bereits vertrieben, als Hans voraus eine Veränderung in der Graslandschaft wahrnahm. Eine Senke schloss dort an die Schlucht an, bildete den Anfang jenes gesuchten Zugangs zum Riss, der sich wie eine Rampe abwärts in den Nebel hineinstreckte. Binnen einer weiteren Stunde erreichte Hans den Rand der Senke. Dort hielt er inne. Wie eine Pforte zur Unterwelt lag das obere Ende des Zugangs zwischen Abbrüchen von Fels und durchwachsener Erde. Dunkelrote Banner an aufgepflanzten Piken markierten die Schwelle. Auch aus der Entfernung erkannte Hans in Gold gestochene Sakroglyphen auf blutfarbenen Stoffen. Dahinter waberten der schillernde Nebel und darüber Rauch wie Zeugen des Krieges, die er über Schlachtfelder hatte wandern sehen.

Ein Rumoren im Bauch erinnerte ihn an böse Stunden vor und nach dem Hauen und Stechen jener vergangenen Tage. Er setzte sich und nahm aus seinem Gepäck Brot und Fleisch, fing an zu essen, um seinen Leib zu besänftigen.

Das träge Spiel der Nebelschwaden erzeugte indes ein Gefühl von Unwirklichkeit und Traum, indem sich alle Festigkeit des Tages auflösen wollte. Als Hans sich darin fallen spürte, wandte er den Blick von der Schlucht ab und suchte westwärts nach etwas, woran er sich halten konnte. Bereits aus dem Augenwinkel musste dort eine Bewegung auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Rücken einer Herde Schafe, die sich entlang der Senke wälzte, fingen Sonnenlicht ein und glänzten hell wie goldenes Tuch.

Hans erhob sich und hielt Ausschau nach dem Schäfer der Herde. An ihr liefen drei Hunde entlang und der Hirte ließ sich als einzelne aus der großen Zahl aufragende Gestalt ausmachen. Es wurde Hans bei dem Anblick nach Tagen allein im Grasland und nahe der Schlucht leichter ums Herz.