Zum Inhalt springen

Die Zeit der Feuerernte – Leseprobe 2

Auszug aus Der Kaschelott von Ina Elbracht

Manchmal riss ihn der Meschuggene aus seinen Grübeleien und nahm ihn mit zu den Matrosen. Die spielten Karten, tranken, spannen Seemannsgarn und betrachteten den Meschuggenen als eine Art Maskottchen, das sie »Feeble« nannten.

»Dein Freund darf sich dazusetzen, wenn er nicht kübelt«, blaffte der Schweinchen-Matrose, weil der Seegang enorm war und er dem »mickrigen Jud aus Wien« nicht viel zutraute. Doch Mosche war nicht seekrank und hockte sich zu den Männern, die wortreich jede Menge Geschichten von äußerst wahren Begebenheiten mit riesenhaften Tintenfischen zu erzählen wussten, die nicht nur Schiffe versenkten, sondern diese gleich mit Mann und Maus verspeisen konnten. Ungeheuer der Tiefsee, denen kein Schiff zu groß und kein Mensch zu bewaffnet sein konnte. Die Übelkeit, die Mosche fühlte, rührte nicht vom Seegang. Von monströs großen Kraken hatte er noch nie zuvor gehört und sich deshalb nie ihretwegen Sorgen gemacht. Es war, als müsste Mosches Verstand jeden Schrecken des Meeres und jede Angst vor seinen Bewohnern nachträglich mit diesen Schreckensbildern anreichern.

Dann kam der Sturm.

Das Schiff drohte auseinanderzubrechen. Die Matrosen liefen hin und her und warfen sogar Ladung von Bord, um das Schlimmste zu verhindern. Nicht wenige, selbst einige der ganz Abgebrühten, schrien in ihrer Angst nach einem Gott, der ihnen helfen sollte. Sie taten es, auch wenn sie es später nicht wahrhaben wollten. Der Zorn der Matrosen richtete sich gegen Mosche und den Meschuggenen, die in dieser Situation nichts als unbrauchbarer Ballast waren.

»Es gibt nichts weiter zu tun, erzähl uns eine Geschichte, Feeble!«, befahlen sie, doch dem Meschuggenen fiel nichts ein. Und so berichtete er in all seiner Einfalt und ohne Böses zu beabsichtigen, die Geschichte von Mosche und seiner Flucht aus Wien.

»Also ist er an unserem Unglück schuld? Er hat euren Gott erzürnt!«, schrie Schweinchen und packte Mosche beim Kragen. »Lasst ihn uns ins Meer werfen, dann wird es sich beruhigen und wir kommen mit dem Leben davon. Einverstanden?« Er fletschte die Zähne und Mosche roch Schnaps, Wut und Angst. Die Matrosen packten zu und schleiften ihn an Deck.

»Was hast du getan? Hol Hilfe!«, schrie Mosche dem Meschuggenen zu, der hinter ihnen herschlich.

»Ich kann nicht!«, jaulte der Meschuggene gegen den Sturm an, »was glaubst du, wen sie werfen, wenn nicht dich?« Die Männer lachten heiser wie gierige Möwen.

»Den Feeble natürlich!«, brüllte einer und sie schlingerten zur Reling. »Hey, du heißt doch Moses: Vielleicht teilt sich das Meer ja, wenn es dich sieht«, grölte ein anderer. Und am Grund wartet der Leviathan auf mich, dachte Mosche. Dann hoben ihn derbe Matrosenhände an und schleuderten seinen Körper in die tobende See. Sie taten es, auch wenn sie es später nicht wahrhaben wollten. Sie knurrten sich gegenseitig Verschwiegenheit zu, als ob sie einen Pakt schlössen. Und Mosche? Der umklammerte mit beiden Händen seinen Hut und stürzte – wie zu einer unfreiwilligen, salzigen und überaus kalten Taufe – kopfüber ins Wasser.