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Leseprobe 3: Christian Veit Eschenfelder

Auszug aus Deextinktion von Christian Veit Eschenfelder

Bei dem Fisch, der neben Barrio in einem runden Glas im Kreis schwamm, handelte es sich um einen Schwertträger, Xiphophorus hellerii, eine Zuchtform, deren gelblicher Schimmer dem des elektrischen Lichtes glich, das die Dunkelheit der langsam schwindenden Nacht aus dem Raum vertrieb. Den Namen verdankte der Fisch einem langen, spitz zulaufenden Fortsatz an seiner Schwanzflosse, die in Barrios Augen mehr einem Stachel als einem Schwert glich. Lagarde hatte ihn sich vor einigen Wochen zusammen mit Dutzenden anderen angeschafft, ursprünglich als Teil eines Experiments, mit dessen Hilfe sie beabsichtigt hatte, herauszufinden, ob gezüchtete Exemplare widerstandsfähiger gegenüber keimhaltigem Gewässer waren als nichtgezüchtete. Sie waren es nicht, starben alle bis auf diesen einen. Lagarde hatte Gefallen an ihm gefunden, dem letzten Überlebenden, der noch immer tapfer seine Waffe trug, und beschlossen, ihn zu behalten. Sie hatte das Aquarium dorthin gestellt, ins Arbeitszimmer neben den Schreibtisch, da die Stelle am Fenster im Winter zu den hellsten im Gebäude gehörte. Ob diese Fische Tageslicht benötigten, wusste Barrio nicht, auch nicht, ob es ihrer Gesundheit zugutekam, in einem Glas gehalten zu werden, das nicht mehr Wasser hielt, als einer durchschnittlichen Familie in den Randvierteln pro Tag zur Verfügung stand. Er warf einige Insektenlarven in das Glas, der Schwertträger machte sich gemächlich über sie her.

Vor ihm befand sich eine Krankenakte. Sie gehörte zu der Patientin, die im Nebenzimmer lag, seit Beginn der vergangenen Nacht bereits, und Lagardes Untersuchungen über sich ergehen ließ. Ihr Zustand war noch immer unverändert, noch immer starrte sie apathisch an die Decke, ohne zu blinzeln oder sich zu bewegen. Ihr Blick war so leer, dass es Barrio jedes Mal schwerfiel, einen Funken verbliebenen Lebens darin zu erkennen, wenn er das Behandlungszimmer betrat und sich über Lagardes ausbleibende Fortschritte informierte. Ihr Herz schlug jedoch, ihre Pupillen reagierten auf Licht und Lagarde und er hatten einst einen Eid geleistet, der sie dazu verpflichtete, ihre Zeit und die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen zu opfern, um die Bevölkerung vor einem ähnlichen Schicksal wie dem ihren zu schützen. Er schlug die Akte auf, überflog ein weiteres Mal die Fragen, die die Ärzte und Schwestern ihrem Vater gestellt, die Antworten, die er gegeben, und die Gespräche, die er mit ihnen geführt hatte. Seiner Tochter war eine Vergiftung mit Scherbenkobalt diagnostiziert worden, anders hatte man sich im Hospital die grünen Verfärbungen ihrer Netzhäute und die Abwesenheit ihres Verstandes nicht erklären können. Dass die Diagnose falsch gewesen war, war mittlerweile offensichtlich. Aus diesem Grund hatte man sie zu ihnen gebracht.

Hat ihre Tochter sich kürzlich in der Nähe der Minen aufgehalten?, hatten die Ärzte wissen wollen. Die Minen, in denen bereits vor Gründung der Stadt nach Eisen- und Edelsteinvorkommen gegraben wurde, befanden sich im Norden. Dort zog sich eine gigantische Verwerfung wie ein Riss waagerecht durch die Wildnis. Kein Ort, an den es eine Schneiderin verschlug, die in einem Laden an den Docks arbeitete. Ihr Vater hatte die Frage verneint und trotzdem hatten die Ärzte nicht genauer hingesehen und ihr weiterhin mit Sauerstoff angereicherte Luft verabreicht, um die Folgen einer Vergiftung einzudämmen.